Konsequent unsozial
Hintergrund. Politik gegen die Mehrheit der Bevölkerung.
Eine kritische Halbzeitbilanz der CDU/CSU-FDP-Koalition
Von Christoph Butterwegge
[via Junge Welt]
In der nächsten Woche ist die CDU/CSU/FDP-Regierung zwei Jahre im Amt. Es gibt zwar keinen Grund zur Freude, wohl aber für eine kritische Zwischenbilanz ihrer Sozialpolitik. Absehbar war, daß es nach der Bundestagswahl am 27. September 2009 und Bildung der bürgerlichen »Wunschkoalition« nicht eben sozial zugehen würde, obwohl Angela Merkel und Guido Westerwelle diesen Eindruck damals zu erwecken suchten.Als ihren ersten gemeinsam gefaßten Beschluß verkündeten CDU, CSU und FDP während der zügig verlaufenden Koalitionsverhandlungen, daß sie das Altersvorsorge-Schonvermögen für Hartz-IV-Bezieher in Höhe von bisher 250 Euro pro Lebensjahr auf 750 Euro pro Lebensjahr verdreifachen wollten. Dies geschah im Rahmen des Sozialversicherungs-Stabilisierungsgesetzes vom 14. April 2010, das eigentlich die Folgen der weltweiten Wirtschaftskrise für den deutschen Wohlfahrtsstaat abmildern helfen sollte.Entfallen sollte die Klausel, wonach eine selbstgenutzte Immobilie bloß dann zum Schonvermögen gehört, wenn sie eine »angemessene Größe« hat. Schließlich wollte man die Zuverdienstgrenzen bei HartzIV erhöhen, um Transferleistungsbeziehern auf diese Weise mehr »Arbeitsanreize« zu geben. Über die genaue Ausgestaltung erzielten CDU, CSU und FDP erst im Oktober 2010 einen Konsens, der Aufnahme in das »Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch« (EGRBEG) vom 24.März 2011 fand.Mit ihrem ersten Maßnahmenpaket zum Hartz-IV-Komplex betrieb die CDU/CSU/FDP-Koalition politische Imagepflege, um den ihr vorauseilenden Ruf »sozialer Eiseskälte« zu entkräften. Darüber hinaus wurden soziale Trostpflaster an Transferleistungsempfänger verteilt, denen es noch verhältnismäßig gut geht: Beispielsweise hat in Ostdeutschland nur etwa die Hälfte der Betroffenen überhaupt Vermögen, das geschont werden kann. Höchstens eine winzige Minderheit nennt eine Immobilie ihr eigen. Und auch die Möglichkeit des Zuverdienstes haben längst nicht alle Bezieher und Bezieherinnen von Arbeitslosengeld II.
Sorge um »Leistungsträger«
Neben den unmittelbar Begünstigten, die überwiegend aus der Mittelschicht stammen dürften, weil sie vor einer länger währenden Arbeitslosigkeit noch am ehesten private Altersvorsorge betreiben konnten, profitierten hauptsächlich Versicherungskonzerne und Banken von den beschlossenen Maßnahmen, denn es handelt sich um ein schlagendes Verkaufsargument, wenn ein Finanzprodukt vor der Anrechnung bei HartzIV geschützt ist. Begünstigt wurden auch die Bauindustrie und der Immobilienhandel. Noch anderen Branchen kommen die höheren Zuverdienstmöglichkeiten zugute, lassen sich von deren Unternehmen doch mehr Hartz-IV-Bezieher im Sinne einer staatlichen Subventionierung von Niedriglöhnen als preiswerte Arbeitskräfte rekrutieren.Ungefähr zur selben Zeit, als das Bundesverfassungsgericht am 20. Oktober 2009 darüber verhandelte, ob die Bedürfnisse der in sogenannten Hartz-IV-Haushalten lebenden Kinder bei der Regelsatzbemessung angemessen berücksichtigt wurden oder die Kinderregelsätze das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes verletzten, trieb CDU, CSU und FDP viel stärker die Sorge um, »Leistungsträger« und »Besserverdiener« könnten auch für ihre Kinder zu viel Steuern zahlen.Denn sie beschlossen nicht etwa, die Armut von Kindern und Jugendlichen aus sozial benachteiligten Familien zu verringern, sondern den Steuerfreibetrag für Kinder zunächst auf 7008 und später auf die künftig für Erwachsene geltende Höhe von 8004 Euro anzuheben sowie das Kindergeld von 164 auf 184 Euro monatlich zu erhöhen.Dabei handelte es sich mitnichten um eine Entlastung »der« Familien, sondern um eine weitere Begünstigung von Besserverdienenden und Begüterten. Die zuletzt Genannten profitierten davon überproportional, Eltern mit einem geringen Einkommen hatten jedoch wenig und Transferleistungsempfänger mit noch so vielen Kindern gar nichts davon. Während ein Spitzenverdiener mit Kind durch die im Wachstumsbeschleunigungsgesetz enthaltenen Maßnahmen jährlich 443 Euro Steuern »spart« und ein Normal- oder Geringverdiener 240 Euro mehr Kindergeld erhält, wurde die Not einer alleinerziehenden Mutter im Hartz-IV-Bezug kein bißchen gelindert.Am 1. Januar 2010 trat das Wachstumsbeschleunigungsgesetz in Kraft, dessen »Korrekturen« der Unternehmens- und Erbschaftssteuerreform den Vorteil boten, daß sie von der breiten Öffentlichkeit weniger stark wahrgenommen wurden als massive Senkungen des Spitzensteuersatzes oder die Abschaffung der Gewerbesteuer, wie sie die FDP forderte. Deshalb weichte die schwarz-gelbe Koalition eher Regelungen auf oder nahm sie ganz zurück, die ein drastisches Absinken des Steueraufkommens im Unternehmensbereich durch Finanzmanipulationen der Konzerne verhindern sollten, etwa die Einführung der »Zinsschranke« und der Mindestbesteuerung sowie die zeitweilige Aussetzung der degressiven Abschreibung. Ähnliches gilt für weitere Entlastungen der Erben von Familienunternehmen (Verkürzung der Behaltensfrist und Absenkung der Lohnsumme, die zur Befreiung von der betrieblichen Erbschaftssteuer führt) und die Besserstellung naher Verwandter (Geschwister, Nichten und Neffen) beim Erbschaftsteuersatz.Höchstens finanzpolitische Alchimisten und Lobbyisten verbreiten die Illusion, man brauche nur die »Leistungsträger« steuerlich entlasten, um die Wirtschaft zu stimulieren, Wachstum zu generieren und am Ende das Steueraufkommen zu maximieren. In Wahrheit ist es genau umgekehrt: Eine Anhebung der Transferleistungen für sozial Benachteiligte wäre nicht bloß gerechter, sondern auch ökonomisch sinnvoller gewesen, weil diese das zusätzliche Geld in den Alltagskonsum stecken und damit die Binnenkonjunktur beleben würden, statt es zu sparen oder neue Spekulationsblasen auf den Finanzmärkten zu produzieren.Auf Kosten der Erwerbslosen
Auf ihrer »Sparklausur« am 6./7. Juni 2010 beschlossen die Regierungsparteien zum Teil gravierende Leistungsreduktionen und Streichungen von Transferleistungen für Arbeitslose bzw. Arme.Die geplanten Maßnahmen zur Erhöhung/Erhebung von Steuern bzw. Abgaben im Unternehmens- und Finanzmarktbereich stellten großteils bloße Luftbuchungen dar. Entweder kamen sie wie die Bankenabgabe, die Finanztransaktionssteuer und die Brennelemente- bzw. Kernbrennstoffsteuer im Rahmen eines »Restrukturierungsfonds« den zu Belastenden selbst zugute bzw. wurden nicht oder nur ansatzweise realisiert; oder sie fielen wie eine Verschiebung des Baubeginns für das Berliner Stadtschloß unter dem Strich finanziell kaum ins Gewicht. Manche Maßnahmen wie die durch eine vom damaligen Verteidigungsminister Karl Theodor zu Guttenberg vollmundig angekündigte Strukturreform der Bundeswehr angeblich frei werdenden Mittel waren nie mehr als ausgesprochen vage klingende und mittlerweile enttäuschte Versprechungen.Hartz-IV-Bezieher dagegen sind von den Kürzungsplänen der Bundesregierung extrem stark betroffen. Das größte Aufsehen im »Zukunftspaket« der Bundesregierung erregte die Absicht, Hartz-IV-Betroffenen das Elterngeld zu streichen bzw. auf die Transferleistung anzurechnen. Während der Höchstbetrag von 1800 Euro im Monat bestehen blieb, sank die Lohnersatzrate beim Elterngeld ab einem Monatsnettoeinkommen von mehr als 1240 Euro von 67 Prozent auf 65 Prozent. Dies bedeutete, daß Einkommensbezieher im mittleren Bereich geringe, ausgerechnet die Besserverdienenden jedoch keinerlei Einbußen gegenüber dem Status quo zu verzeichnen hatten. Um dem Vorwurf der sozialen Schieflage ihres »Sparpaketes« zu begegnen, beschloß die Koalition nachträglich, d.h. erst während des Gesetzgebungsverfahrens im Oktober 2010, das Elterngeld auch »Reichensteuerzahlern« vorzuenthalten, also den sehr wenigen Menschen mit einem zu versteuernden Jahreseinkommen von mehr als 250000 bzw. 500000 Euro bei Ehepaaren. Dadurch wurde die Glaubwürdigkeit der Regierungsparteien allerdings keineswegs wiederhergestellt.Ersatzlos gestrichen wurde der Zuschlag, den es früher beim Übergang vom Bezug des Arbeitslosengeldes zum Bezug von Arbeitslosengeld II gab. Auf diese Weise wurde der Abstieg auf das Sozialhilfeniveau sozial abgefedert, was die Bundesregierung nunmehr für einen Fehlanreiz zur Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung hielt. Durch den Wegfall des Zuschlages wurde die sozialrechtliche Rutsche in die Armut für Langzeitarbeitslose noch steiler, als sie es seit dem Inkrafttreten von Hartz IV am 1. Januar 2005 bereits war.Den höchsten Betrag (2011: 2 Milliarden; 2012: 4 Milliarden; 2013 und 2014: jeweils 5 Milliarden Euro) wollte die schwarz-gelbe Koalition im Bereich der aktiven Arbeitsmarktpolitik »einsparen«, indem Förder- und Integrationsmaßnahmen für Erwerbslose, die bisher Pflichtleistungen waren, gestrichen oder zu bloßen Ermessensleistungen der Jobcenter wurden. Mit ihren Kürzungsmaßnahmen im Bereich der beruflichen Weiterbildung zeigte die Bundesregierung, daß sich ihr Bekenntnis zur »Bildungsrepublik Deutschland« und das Versprechen der Kanzlerin, »Bildung für alle« zu ermöglichen, auf Exzellenzbereiche und die Elitebildung von Privilegierten beschränkten, aber Erwerbslose nicht einbezogen, obwohl diese angeblich »gefördert und gefordert« werden sollten.Grundgesetzwidrig
Am 9. Februar 2010 erklärte das Bundesverfassungsgericht die Berechnung der Hartz-IV-Regelsätze für nicht mit dem Grundgesetz vereinbar und verpflichtete die Regierung zu einer Neuregelung. Anstatt die Regelsätze bis zum 31. Dezember desselben Jahres mittels einer schlüssigen Methodik, d.h. unter Vermeidung von Zirkelschlüssen, neu zu berechnen und per Gesetz festzulegen, ließ sich das Bundesarbeitsministerium nicht bloß sehr viel Zeit, bis es im September 2010 den ersten Referentenentwurf vorlegte, sondern nutzte die durch das Urteil entstandene Lage auch, um darin eine umfassende Novellierung von SGB II (Grundsicherung für Arbeitsuchende) und SGB XII (Sozialhilfe) vorzunehmen.Unter den Änderungen waren Präzisierungen des Gesetzestextes und einzelne Verbesserungen für Hartz-IV-Bezieher, die sich meist der Urteilspraxis von Sozialgerichten verdankten, aber auch gravierende Verschärfungen der für sie geltenden Bestimmungen: Mußte der Grundsicherungsträger bisher vor einer Verhängung von Sanktionen die Hartz-IV-Bezieher per Rechtsbehelfsbelehrung über damit für sie verbundene Konsequenzen aufklären, reicht nunmehr die Annahme, daß Betroffene die Folgen kennen. Darlehen sind grundsätzlich als Einkommen leistungsmindernd anzurechnen, sofern sie nicht explizit einem anderen Zweck als der Sicherung des Lebensunterhalts dienen. Bestimmte Leistungen, die bisher vom Grundantrag mit erfaßt waren, wie z.B. die Erstausstattung der Wohnung oder Sonderbedarfe bei Schwangerschaft und Geburt, müssen nunmehr zusätzlich beantragt werden, was dazu führen soll, daß die staatlichen Ausgaben sinken.Unter den sechs im Gesetz fixierten Regelbedarfsstufen der Sozialhilfe ist die Regelbedarfsstufe 3 für erwachsene Leistungsberechtigte, die keinen eigenen Haushalt führen, von besonderem Interesse. Durch ihre Einführung drohte Menschen mit Behinderung, die im Haushalt ihrer Eltern oder in einer Wohngemeinschaft leben, eine drastische Kürzung der ihnen bislang zustehenden Transferleistungen, weil sie weder als eigene Bedarfsgemeinschaft anerkannt noch mit dem vollen Regelsatz bedacht wurden. In den Verhandlungen der SPD und der Grünen mit den Regierungsparteien erklärten sich diese zwar bereit, eine Lösung des Problems herbeizuführen, eine verbindliche Frist wurde ihnen dafür aber nicht gesetzt.Wenig befriedigen konnte auch, wie das Arbeits- und Sozialministerium die Regelbedarfe ermittelt hatte. Maßstab für das »menschenwürdige Existenzminimum« von Erwachsenen ist das Ausgabeverhalten der von bisher 20 auf 15 Prozent geschrumpften Referenzgruppe von der jüngsten Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) des Statistischen Bundesamtes erfaßter Einpersonenhaushalte mit den geringsten Einkommen, die überwiegend aus Rentnern und anderen Nichterwerbstätigen besteht. Durch die ohne Begründung erfolgte Verkleinerung der Referenzgruppe, die Vernachlässigung des Problems der »Aufstocker« bzw. Zuverdiener und der verdeckt Armen (Referenzhaushalte, deren Einkommen unter dem Sozialhilfeniveau liegen) beide Personengruppen hätten nach dem Verfassungsgerichtsurteil eigentlich herausgerechnet werden müssen, um Zirkelschlüsse von den Konsumausgaben der Armen auf deren Bedarf zu vermeiden sowie willkürliche Abschläge auf zahlreiche im Rahmen der EVS 2008 ermittelte Einzelposten wurde das Existenzminimum nach unten manipuliert.Das am 3. Dezember 2010 vom Bundestag beschlossene EGRBEG mißachtete die Kernforderung des Bundesverfassungsgerichts, Leistungsbeziehern ein »menschenwürdiges Existenzminimum« zu gewährleisten. So strich man den Hartz-IV-Empfängern nicht bloß die Ausgaben für Haustiere, Schnittblumen und Zimmerpflanzen, den Besitz eines Handys sowie Versicherungen aller Art, enthielt ihnen vielmehr auch die bisher für Tabakwaren und alkoholische Getränke gewährten 19,19 Euro pro Monat mit der Begründung vor, diese Güter gehörten nicht zum Grundbedarf. Hierdurch wuchs die Gefahr ihrer sozialen Ausgrenzung weiter, denn zu rauchen oder gemeinsam mit Freunden und guten Bekannten abends mal ein Bier zu trinken, gehört nun einmal zur »Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen« (Urteilstext) und zur Alltagsnormalität in unserer Gesellschaft.Gemäß der Neuberechnung überhaupt nicht erhöht wurden die Hartz-IV-Regelsätze für Kinder und Jugendliche, für die man ein »Bildungs- und Teilhabepaket« im Wert von 250 Euro pro Jahr vorsah. Hierin eingeschlossen waren aber 100 Euro des bisherigen »Schulbedarfspakets«, das nunmehr als »Schulbasispaket« bezeichnenderweise in zwei Raten (zu Beginn des Schuljahres am 1. August 70 Euro und zu Beginn des zweiten Halbjahres am 1. Februar noch einmal 30) ausgezahlt wird, sowie 30 Euro, die für (Schul-)Ausflüge und eintägige Klassenfahrten vorgesehen sind und früher im Regelsatz enthalten waren.
Weitere Kürzungen
Aufgrund des Regierungswechsels in Nordrhein-Westfalen, wo die SPD-Politikerin Hannelore Kraft am 14. Juli 2010 ein rotgrünes Minderheitskabinett gebildet hatte, fand das EGRBEG am 17.Dezember 2010 im Bundesrat keine Mehrheit. Bei den zähen, schwierigen und langwierigen Verhandlungen des Vermittlungsausschusses, den die Bundesregierung daraufhin angerufen hatte, ging es um drei Problemkreise: die Höhe des Regelbedarfs, das »Bildungs- und Teilhabepaket« sowie Mindestlöhne für einzelne Branchen.Über die Verschärfungen für Hartz-IV-Betroffene im Gesetzestext wurde mit Ausnahme der geplanten finanziellen Schlechterstellung von bei ihren Eltern oder in einer Wohngemeinschaft lebenden Behinderten und von Menschen, die bürgerschaftliches Engagement zeigen bzw. sich ehrenamtlich betätigen, offenbar gar nicht gesprochen.So können die Bundesländer kreisfreie Städte und Landkreise fortan ermächtigen oder verpflichten, die »angemessenen« Kosten für Unterkunft und Heizung per Satzung auf ihrem Gebiet festzulegen. Dies gilt für Mietpauschalen, wenn auf dem kommunalen Wohnungsmarkt ausreichend freier Wohnraum zur Verfügung steht, sowie für »Gesamtangemessenheitsgrenzen«, die Unterkunft und Heizung betreffen. Eine solche Pauschalierung der Unterkunftskosten, wie sie Hessen seinen Kommunen bereits im Juni 2011 ermöglicht hat, fördert weitere Kürzungen des Existenzminimums von Transferleistungsbeziehern. Künftig dürften noch mehr Hartz-IV-Empfänger veranlaßt werden, ihre bisher vom zuständigen Grundsicherungsträger bezahlte Wohnung in einem gutbürgerlichen Stadtviertel aufzugeben und in eine Hochhaussiedlung am Stadtrand zu ziehen, wo die Mieten niedriger sind. Dadurch leistet man einer Ghettoisierung bzw. einer sozialräumlichen Segregation der Armutspopulation, die sich in Großstädten ansatzweise bereits seit geraumer Zeit erkennen läßt, zusätzlich Vorschub.Während der Gespräche einigten sich die Vertreter von CDU, CSU, FDP, SPD und Bündnis 90/Die Grünen darauf, den Empfängerkreis des »Bildungs- und Teilhabepaketes« nicht bloß auf die Kinder der Bezieher des Kinderzuschlags, sondern auch auf jene von Wohngeldbeziehern auszuweiten und seine Organisation vollständig den Kommunen zu übertragen. Näher kam man sich auch bei der Frage nach seiner Finanzierung, die der Bund am Ende über Umwege (stärkere Beteiligung an den Unterkunftskosten) vollständig übernahm. Sehr große Schwierigkeiten gab es bei den Mindestlöhnen, weil die FDP-Verhandlungsdelegation eine gleiche Entlohnung von Stammbelegschaften und Leiharbeitern erst nach längerer (Einarbeitungs-)Zeit akzeptieren wollte, wenn von diesen kaum noch welche im Betrieb arbeiten. Überhaupt keine Annäherung gab es beim Regelsatz bzw. -bedarf.Genau ein Jahr nach der Urteilsverkündung in Karlsruhe wurden die Verhandlungen ergebnislos abgebrochen, weil sich CDU, CSU und FDP einerseits sowie SPD und Bündnis 90/Die Grünen andererseits nicht einigen konnten. Angesichts der minimalen Differenz zwischen Regierungs- und Oppositionsparteien bei der symbolträchtigen Regelsatzhöhe (fünf bzw. elf Euro) war das Scheitern öffentlich kaum vermittelbar.Fauler Kompromiß
Statt das »unechte«, d.h. nur von der knappen CDU/CSU/FDP-Mehrheit im Vermittlungsausschuß getragene Ergebnis aufgrund der dieser Koalition im Bundesrat für eine Beschlußfassung fehlenden Stimme durchfallen zu lassen, einigten sich die SPD-geführten Länder mit den Regierungsparteien auf eine zweite Anrufung des Vermittlungsausschusses. Dessen neuerliche Verhandlungen endeten in der Nacht vom 20. auf den 21. Februar 2011 mit einem äußerst widersprüchlichen Resultat. So lehnten es CDU, CSU und FDP ab, sich beim Regelbedarf gewissermaßen in der Mitte zu treffen und ihn rückwirkend zum 1. Januar 2010 um acht Euro zu erhöhen. Während die Bündnisgrünen den Verhandlungstisch gegen Mitternacht wegen dieses zentralen Streitpunktes verließen, gab die SPD ein weiteres Mal nach und akzeptierte die Minimalerhöhung des früheren Eckregelsatzes, der nunmehr eine zusätzliche Anhebung des Regelbedarfs für alleinstehende Erwachsene um drei Euro (insgesamt zehn Euro) zum 1. Januar 2012 folgt. So glaubten zwar beide Seiten ihr Gesicht zu wahren. Gerechtigkeit auf Raten gibt es allerdings nicht: Entweder war die Anhebung des Hartz-IV-Regelsatzes um fünf Euro, wie von CDU, CSU und FDP behauptet, in einem transparenten Verfahren ermittelt, »realitätsgerecht« und daher verfassungskonform, oder sie war es nicht.Schaut man genauer hin, trägt das EGRBEG auch in seiner am 25. Februar 2011 von Bundestag und Bundesrat endgültig verabschiedeten Fassung dem BVerfG-Urteil kaum Rechnung. Der zwischen CDU/CSU, FDP und SPD geschlossene Kompromiß war im Grunde ein parteipolitischer Kuhhandel auf Kosten der Ärmsten. Darüber können die vereinbarten, zum Teil aber sehr niedrigen Mindestlöhne in der Teil- bzw. Leiharbeit, dem Wach- und Sicherheitsgewerbe sowie der Weiterbildung nicht hinwegtäuschen. Denn selbst wenn es mit ihrer Hilfe gelänge, den seit Inkrafttreten der sogenannten Hartz-Gesetze enorm gewachsenen Niedriglohnsektor etwas zurückzudrängen, würde das den nicht erwerbsfähigen Sozialhilfebeziehern, den Langzeitarbeitslosen ohne Zuverdienst sowie den auf die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung angewiesenen (Früh-)Rentnern wenig nützen. Sie alle hätten eine nennenswerte Regelsatzerhöhung benötigt, um ein menschenwürdiges Leben führen zu können.Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft und ist geschäftsführender Direktor des Instituts für vergleichende Bildungsforschung und Sozialwissenschaften an der Universität zu Köln. In diesen Tagen erscheint sein Buch »Krise und Zukunft des Sozialstaates« in 4., gründlich überarbeiteter und stark erweiterter Auflage im VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden).
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