Dienstag, 25. Oktober 2011

[auch in #Dresden #gehegt und #gepflegt]--->>> Die #Propaganda #vom #Fachkräftemangel vertiefend!!!

 

Die Propaganda vom Fachkräftemangel

von Lars Niggemeyer

[Blätter für deutsche und internationale Politik]
 
http://www.blaetter.de/archiv/jahrgaenge/2011/mai/die-propaganda-vom-fachkraeftemangel
 

"Der Fachkräftemangel wird in den nächsten Jahren zum Schlüsselproblem für den deutschen Arbeitsmarkt und nicht die Arbeitslosigkeit", erklärt Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle, und Arbeitgeber-Präsident Dieter Hundt fordert unentwegt "wirksame Maßnahmen" dagegen.

Das alles geschieht, obwohl ab dem 1. Mai die Freizügigkeit in arbeitsrechtlicher Hinsicht auch für Arbeitnehmer aus den acht osteuropäischen Staaten gilt, die 2004 der Europäischen Union beigetreten sind. Dann dürfen Bürger aus Estland, Lettland, Litauen, Polen, der Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn in Deutschland uneingeschränkt arbeiten. Ist die Lage auf dem Arbeitsmarkt also tatsächlich so dramatisch, wie Brüderle und Hundt behaupten? Keineswegs. Die Debatte zeigt vielmehr, wie interessengeleitet die Diagnose eines angeblichen Fachkräftemangels ist.

Zunächst einmal wird hier die Wirklichkeit radikal verkehrt. Denn die Klage über einen Fachkräftemangel lenkt davon ab, dass die allgemeine Lage am Arbeitsmarkt weiterhin ausgesprochen schlecht ist. Nach wie vor herrscht Massenarbeitslosigkeit, 2010 waren offiziell 3,2 Millionen Menschen von Arbeitslosigkeit betroffen. Zu den registrierten Arbeitslosen kommen noch die Menschen hinzu, die sich wegen Aussichtslosigkeit nicht mehr bei den Arbeitsagenturen melden oder nicht mitgezählt werden, weil sie sich in Maßnahmen der Agentur befinden. Die tatsächliche Arbeitslosigkeit ist also viel höher. Sie lag 2009 bei rund 5,37 Millionen fehlenden Arbeitsplätzen. Hinzu kommen weitere 2,04 Millionen unfreiwillig Teilzeitbeschäftigte, die eine Vollzeitstelle suchen. Insgesamt sind damit rund 7,4 Millionen Personen in Deutschland von Arbeitslosigkeit oder Unterbeschäftigung betroffen.[1]

Seit 2000 ist außerdem die atypische Beschäftigung massiv gewachsen: Die Zahl der Leiharbeiter hat sich mehr als verdoppelt, Befristung und Mini-Jobs haben stark zugenommen. Zudem ist der Niedriglohnsektor erheblich angewachsen: 2008 arbeiteten 22 Prozent der Beschäftigten, 6,5 Millionen Menschen, zu Niedriglöhnen – zwei Millionen mehr als 1995. Die große Mehrheit ist dabei gut qualifiziert: 79,5 Prozent der Niedriglohnbeschäftigten haben eine Ausbildung oder ein Studium abgeschlossen.[2]

Besonders schwierig gestaltet sich die Arbeitsmarktlage für die Angehörigen der Jahrgänge, die ins Arbeitsleben einsteigen bzw. aus diesem ausscheiden: Generell haben es Arbeitslose über 50 Jahre aufgrund ihrer angeblich geminderten Leistungsfähigkeit sehr schwer, überhaupt wieder eingestellt zu werden. Ab dem Alter von 55 nimmt die Erwerbsquote mit jedem Altersjahr rapide ab. Nur jeder zehnte 64jährige geht noch einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nach. Spiegelbildlich verhält sich die Lage beim Einstieg in Arbeitsleben: Hier herrscht ein massiver Ausbildungsplatzmangel. Seit 15 Jahren liegt das Angebot an Ausbildungsplätzen regelmäßig unter dem Bedarf. Die Vereinbarungen zwischen Wirtschaft und Politik zur Behebung des Mangels blieben wirkungslos. Der Anteil der 20- bis 29jährigen ohne Berufsausbildung ist in den letzten Jahren auf nunmehr 17 Prozent gestiegen – ein enormes Potential zur Ausbildung von zukünftigen Fachkräften, das von den Unternehmen jedoch nicht genutzt wird – durchaus mit strategischem Hintersinn.

Über- oder Unterangebot der Ware Arbeitskraft?

Denn der Arbeitsmarkt unterliegt, wie jeder Markt, dem Gesetz von Angebot und Nachfrage. Bei vorhandenem Überangebot an Arbeitskräften drohen deshalb Lohnsenkungen. Die Existenz von Gewerkschaften und kollektiven Tarifverträgen ermöglicht es allerdings, auch in Zeiten von Massenarbeitslosigkeit Lohnsenkungen zu verhindern. Allerdings wird es – je länger die Situation andauert – immer schwerer, Lohnerhöhungen durchzusetzen, die sich am Produktivitätsfortschritt orientieren und damit eine Teilhabe der Arbeitnehmer am wachsenden gesellschaftlichen Reichtum gewährleisten.

1980 war der Höhepunkt der Durchsetzungsmacht der bundesdeutschen Gewerkschaften. In diesem Jahr lag der Anteil der Arbeitnehmereinkommen am gesamten Volkseinkommen bei 75,2 Prozent; im ersten Halbjahr 2010 betrug er nur noch 65,5 Prozent.[3] Mit der Lohnquote von 1980 wären den Arbeitnehmern im letzten Jahr rund 180 Mrd. Euro mehr zugeflossen. Die Unternehmen haben von der Massenarbeitslosigkeit also massiv profitiert: Sie können aus einer Vielzahl von Arbeitskräften zu günstigen Löhnen auswählen und auf diese Weise ihren Profit auf Kosten der Beschäftigten erhöhen.

Ganz anders stellt sich die Lage dar, wenn ein Unterangebot an Arbeitskräften vorherrscht. Dann können die Arbeitnehmer zwischen verschiedenen Arbeitsangeboten auswählen und auch höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen durchsetzten.[4]

Aktuell befinden wir uns in einer Situation, in der gesamtwirtschaftlich von einem Arbeitskräftemangel keine Rede sein kann: Das Verhältnis zwischen gemeldeten offenen Stellen und registrierten Arbeitslosen liegt bei 1 zu 8. Es herrscht also massiver Arbeits- und nicht Arbeitskräftemangel. Anders waren die Verhältnisse in der Vollbeschäftigungsperiode von 1960 bis 1973: Die Arbeitslosigkeit lag, mit Ausnahme der Krise 1968/69, jahresdurchschnittlich bei unter 300000 Personen. Gleichzeitig waren rund doppelt so viele offene Stellen gemeldet. Arbeitskraft war also knapp. Bemerkenswert ist, dass der damalige Arbeitskräftemangel mit einem durchschnittlichen realen Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von rund vier Prozent pro Jahr einherging. Arbeitskräftemangel ist also durchaus mit hohen Wachstumsraten vereinbar und kein gesamtgesellschaftliches Problem. Im Gegenteil: Aus Sicht der Lohnabhängigen ist Arbeitskräftemangel sogar ein wünschenswerter Zustand.

Eine Einschränkung gibt es allerdings: Es ist möglich, dass trotz Massenarbeitslosigkeit in bestimmten Berufen weniger Bewerber als offene Stellen vorhanden sind; das Angebot an Arbeitskräften ist nicht identisch mit dem Angebot gelernter Fachkräfte in bestimmten Berufen. Genaue Aussagen hierüber ermöglicht nur eine detaillierte Untersuchung der Arbeitsmarktlage für einzelne Berufsgruppen.

Karl Brenke vom Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat kürzlich eine solche Untersuchung für die naturwissenschaftlich-technischen und industriellen Berufe unter dem Titel: "Fachkräftemangel kurzfristig noch nicht in Sicht" veröffentlicht.[5] Hierbei handelt es sich um eine durch den Präsidenten des DIW, Klaus Zimmermann, "zensierte" Variante des ursprünglichen Artikels mit dem Titel: "Fachkräftemangel in Deutschland: eine Fata Morgana". Der Grund dieses Eingriffs: Zimmermann selbst tritt massiv für Arbeitszeitverlängerung (45-Stunden-Woche) und eine jährliche Zuwanderung von 500000 Personen ein und hat dies in der Vergangenheit immer wieder mit einem angeblichen Mangel an Fachkräften begründet.[6] Brenke weist nun (auch in der überarbeiteten Version) nach, dass hiervon keine Rede sein kann: "Bei fast allen Fachkräften ist die Zahl der Arbeitslosen höher als die Zahl der offenen Stellen." Lediglich für Vulkaniseure, Elektroinstallateure und Ärzte stellt sich die Lage anders dar. In den meisten Berufen liegt die Zahl der offenen Stellen unter dem Vorkrisenniveau; gleichzeitig sind mehr Fachkräfte arbeitslos als vor zwei Jahren. In den Ingenieursberufen rechnet Brenke in den nächsten Jahren sogar mit einer Fachkräfteschwemme, da es in den Fächern Maschinenbau und Verfahrenstechnik aktuell genauso viele Studenten wie sozialversicherungspflichtig Beschäftigte gibt.

Die Folgen des demographischen Wandels

Gegenwärtig verlassen zudem mehr Hochschulabsolventen Deutschland, als aus anderen Ländern einwandern. Das heißt: Der Arbeitsmarkt ist für viele deutsche Hochschulabsolventen so schlecht, dass sie auswandern, um anderswo Arbeit zu finden. Insofern sprechen alle verfügbaren ökonomischen Indikatoren gegen einen allgemeinen Fachkräftemangel – mit Ausnahme ganz weniger Berufe.

In den kommenden Jahren wird die Bevölkerung der Bundesrepublik erheblich altern. Dies betrifft auch das Potential der verfügbaren Erwerbspersonen, da viele das Rentenalter erreichen und gleichzeitig weniger Menschen ins Erwerbsleben eintreten werden. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) prognostiziert daher in einer aktuellen Studie einen Rückgang des Erwerbspersonenpotentials um 3,6 Millionen Menschen bis 2025.[7] Die Nachfrage nach Arbeit nimmt dabei laut Modellrechnung des IAB sogar leicht zu. Diese Annahme widerspricht allerdings der Tatsache, dass seit 1960 in Deutschland konjunkturzyklusübergreifend die Produktivität schneller als die Wirtschaftsleistung wächst. In der Folge sinkt bisher das insgesamt vorhandene Arbeitsvolumen von Jahrzehnt zu Jahrzehnt. Aber selbst unter den Bedingungen einer Umkehr dieses Trends geht das IAB von rund 1,5 Millionen Arbeitslosen im Jahr 2025 aus – ohne Berücksichtigung unfreiwilliger Teilzeitbeschäftigung. Ginge man von einer rückläufigen Nachfrage nach Arbeitskräften aus, läge die Zahl der Arbeitslosen noch deutlich höher.

Von einem Mangel an Arbeitskräften kann in diesem Szenario also – trotz des demographischen Wandels – auch 2025 keine Rede sein. Denkbar ist zwar, dass langfristig Fachkräfteengpässe aufgrund nicht passgerechter Qualifikationen auftreten werden. Aber hier können die Unternehmen bereits heute durch die betriebliche Ausbildung und duale Studiengänge gegensteuern. Sie müssen nur die Zahl der angebotenen Plätze entsprechend erhöhen. Im Übrigen ist es Aufgabe der Bildungspolitik, dafür zu sorgen, dass alle Kinder und Jugendlichen eine umfassende frühkindliche Förderung und schulische Bildung erhalten, die allen eine Entfaltung ihrer Potentiale ermöglicht.

Die Diskussion über den angeblichen Fachkräftemangel ist also im Wesentlichen eine Phantomdebatte. Sie lenkt von den wirklichen Problemen der andauernden Massenarbeitslosigkeit, zunehmenden prekären Beschäftigung und wachsenden sozialen Ungleichheit ab. Dabei liegen die Interessen der Arbeitgeber offen auf dem Tisch: Sie wollen auch in Zukunft auf ein Überangebot an Arbeitskräften zurückgreifen können. Ihre Forderungen nach der Verlängerung von Lebens- und Wochenarbeitszeiten sowie einer massiven Ausweitung der Zuwanderung zielen darauf ab, das für sie sehr günstige Verhältnis von Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt beizubehalten.

Dem gegenüber stehen die Interessen der Beschäftigten. Sie profitieren von einer Verknappung von Arbeitskraft bzw. von einer massiven Erhöhung der Nachfrage nach Arbeitskräften. Aus ihrer Sicht sollten deshalb ganz andere Themen im Mittelpunkt der Diskussion über die Zukunft von Arbeit und Gesellschaft stehen, nämlich die Umverteilung der Arbeit durch Arbeitszeitverkürzung und der Ausbau der Beschäftigung im öffentlichen Dienstleistungssektor, bei Gesundheit, Pflege, Bildung und Erziehung.[8] Dann stünde auch nicht länger die Verfestigung der Arbeitslosigkeit auf der Tagesordnung, sondern endlich deren Überwindung.

 

 


[1] Vgl. AG Alternative Wirtschaftspolitik, Memorandum 2010, Tabellen A2 und A4. Die Gesamtsumme setzt sich so zusammen: registrierte Arbeitslose (BA) + verdeckte Arbeitslose (Sachverständigenrat) + stille Reserve (IAB).

[2] IAQ-Report 2010-06, Niedriglohnbeschäftigung 2008.

[3] WSI-Verteilungsbericht 2010, in: "WSI-Mitteilungen", 12/2010, S. 637.

[4] Ursula Engelen-Kefer u.a., Beschäftigungspolitik, Köln 31999, S. 29f.

[5] Vgl. "DIW-Wochenbericht", 46/2010, S. 2-16.

[6] Vgl. Yasmin El-Sharif, Forscherposse beim DIW. Was nicht passt, wird passend gemacht, in: "Spiegel Online", 18.11.2010.

[7] IAB-Kurzbericht, 12/2010. – Genaue Aussagen über den Arbeitsmarkt in 15 Jahren kann allerdings keine Prognose liefern, da hierbei immer bestimmte Annahmen zugrunde gelegt werden müssen, deren Eintreffen ungewiss ist (wie
etwa Ausmaß der Zuwanderung, Erwerbsbeteiligung von Frauen und Älteren, allgemeine wirtschaftliche Entwicklung).

[8] Vgl. Heinz-J. Bontrup, Lars Niggemeyer und Jörg Melz, Arbeit fairteilen, Hamburg 2007.

 

 (aus: »Blätter« 5/2011, Seite 19-22)




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