Montag, 31. Oktober 2011

Warum ist das Fernsehen so schlicht? Oder: Was würde sich Clara Zetkin heute ansehen? [via Junge Welt]

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Skandal und Unmoral

Warum ist das Fernsehen so schlicht? Oder: Was würde sich Clara Zetkin heute ansehen?

Ein vernichtendes Urteil fällte Clara Zetkin über den Film ihrer Zeit: »Die Filmkunst spekuliert auf die niedrigsten Leidenschaften, die brutalsten Instinkte, um ein unerzogenes, sensationslüsternes, wie ein übersättigtes und stärkste Nervenaufpeitschung verlangendes Publikum anzulocken und die Lichtspieltheater zu füllen. Es münzt die Schwächen, Rückständigkeiten, Entartungstriebe der Bevölkerung zu Geld, das bekanntlich nicht stinkt, auch wenn es aus Schmutz und Blut aufgehoben wird.«



Die Heftigkeit der Ablehnung kann man verstehen, wenn man sich ins Jahr 1919 zurückversetzt, als diese Zeilen geschrieben wurden. Damals herrschte – eine Errungenschaft nach den Restriktionen der wilhelminischen Ära– im Film die »zensurfreie Zeit«. In gewisser Hinsicht lebte man kurz nach dem Ersten Weltkrieg noch in einem rechtsfreien Raum. Endlich durften alle auf die Leinwand bringen, was sie wollten. Und was wollten sie? Natürlich das, wonach die Mehrheit der Zuschauer rief, und was Geld brachte: Skandal, Laster, Unmoral.

Es werde Licht!


Besonderen Anklang fanden »Sitten- und Aufklärungsfilme«. König dieses Genres wurde Richard Oswald. Er hatte sich bereits 1917 um die Aufklärung der Bevölkerung bemüht. Mit Unterstützung der »Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten« und der »Ärztlichen Gesellschaft für Sozial-Wissenschaft« drehte er den Streifen »Es werde Licht!«. Der Film war eine Warnung vor der Syphilis und wurde von Oswald als »sozialhygienisches Werk« angekündigt. Trotz aller aufklärerischer Absicht hatte dieses Tabu-Thema auch ein spekulatives Element. Wer vor der Syphilis warnen wollte, mußte auch zeigen, wodurch man sie bekommt. Oswalds Homosexuellendrama »Anders als die anderen« von 1919 ist heute ein Klassiker der Filmkunst und wurde kürzlich auf Arte in einer restaurierten Fassung vorgestellt. Das Publikum von 1919/20 strömte in diesen Film. Die Kritiker spalteten sich in zwei Parteien. Die einen lobten den aufklärerischen Charakter der Filme, die anderen konnten den Tabubruch nicht verzeihen.
Ungeachtet ihrer unkonventionellen persönlichen Lebensweise darf man annehmen, daß Clara Zetkin in Moralvorstellungen ihrer Zeit verhaftet war und die heilsame Wirkung von Tabuverletzungen nicht immer erkannte. Es gab seit 1913 vereinzelte Versuche, Filme für ein anspruchsvolles Publikum zu drehen, aber Film als Kunst sollte erst die Nachkriegsära bringen– nicht zuletzt mit dem deutschen Filmexpressionismus. Und die großen »Russenfilme«, die bahnbrechenden Werke von Eisenstein, Pudowkin oder den Trauberg-Brüdern, die auch Clara Zetkin an ihrem Moskauer Wohnsitz eines Besseren belehren sollten, waren erst im Kommen, ebenso wie die sozialkritischen deutschen Filme, die in Zusammenarbeit mit der Moskauer Meshrabpom (Internationale Arbeiterhilfe) entstanden.

Ein Gedankenexperiment


Was aber würde Clara Zetkin zum heutigen Fernsehen sagen? Wenn wir das Gedankenexperiment wagen und uns Clara Zetkin heute als die ältere Revolutionärin und Frauenrechtlerin vorstellen, als die sie in der Erinnerung lebt, so darf bezweifelt werden, daß sie zu einem anderen Urteil käme, als damals über den zeitgenössischen Film. Dabei wäre das so undifferenziert sicherlich ebenso falsch, wie es im Ansatz damals war. Gerade durch Nachrichten und Dokumentationen kommt Lebenswirklichkeit auf den Bildschirm, die allerdings im fiktionalen Bereich mit der Lupe gesucht werden muß. Und das gebotene Meinungsspektrum macht meist vor sozialistischen Ideen Halt.
Clara Zetkin könnte es zwar gefallen, daß inzwischen Ärztinnen, Lehrerinnen und Kommissarinnen im Mittelpunkt von Filmen und Serien stehen. Richtig ist aber auch, daß heute auf eine TV-Kommissarin zwei -Unternehmerinnen kommen, deren Probleme entweder im zwischenmenschlichen Bereich oder in von persönlicher Rivalität geprägtem Konkurrenzdruck angesiedelt sind. Gesellschaftliche Auseinandersetzung findet nicht statt. Wo aber ist die kraftvolle Arbeiterin, die gewitzte Bäuerin, die engagierte Politikerin? (Das gilt natürlich auch für das männliche Pendant.) Statt dessen gibt es Pfarrer und Nonnen als Protagonisten der Fernsehunterhaltung. Clara Zetkin würde die Besitzverhältnisse bekämpfen. Fernsehen in der Hand von Medienkonzernen – das bedeutet Verdummung.
Clara Zetkin war auch Internationalistin. Sicher würde sie gern Filme über den Alltag in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion sehen, in Frankreich, woher ihre Mutter stammte, in Polen, Argentinien, Ägypten oder Neuseeland. Doch die Länderauswahl in unseren Fernsehprogrammen wird immer eintöniger – deutsche und US-amerikanische Produkte machen den überwiegenden Anteil aus. Dank der DEFA-Synchronisationen kommen ab und an noch sowjetische Märchenfilme zur Ferienzeit ins Programm. Daß das aber die einzigen Zeugen einer reichen Filmkultur sind, wundert nicht, wenn man sich das Repertoire an alten deutschen Filmen ansieht, das unsere Programme bestimmt. Aus dem umfangreichen Filmerbe werden stets die ewig gleichen Filme mit Hans Moser, Heinz Rühmann und Theo Lingen wiederholt. Einzig 3sat ist so anspruchsvoll, daß hier nur Filme, in denen alle drei auftreten, auf den Sender gehen. (»Der Film war so schlecht, daß die Leute anstehen mußten, um herauszukommen«, lautet ein bezeichnendes Bonmot von Lingen.) Obwohl die genannten Künstler auch Filme mit Spuren von Realität gedreht haben, kommen fast ausschließlich Produkte der »Traumfabrik« auf den Sender, sentimentale Heimatfilme mit heiteren Einsprengseln, die die Wirklichkeit verklären, oder alberne Klamotten, in der das echte Leben hinweggelacht wird.

Übern Gartenzaun


Gegenbeispiele sind einige DEFA-Filme oder Episoden der »Polizeiruf«-Reihe aus der DDR, die den Anspruch auf Realismus gelegentlich einlösen, aber sie sind selten vor 23 Uhr zu sehen. Den DDR-Serien, die im Tagesprogramm wiederholt werden (fast nur im MDR), durfte man schon zu ihrer Entstehungszeit das Etikett »kleinbürgerlich« ankleben, wie bei den »Geschichten übern Gartenzaun«. Dabei sei nichts gegen Kleingartenanlagen gesagt – in einer solchen wurde Clara Zetkin 1932 vor den Nazis versteckt. Die TV-Geschichte findet ansonsten mit deutschen und US-amerikanischen Serien vornehmlich der 70er Jahre statt, die ihre restaurative Funktion noch immer erfüllen und so schön nostalgisch sind: »Unsere kleine Farm«, »Raumschiff Enterprise«, »Simon Templar«, auf anderen Sendern Schmankerl mit Harald Juhnke, Carl Heinz Schroth oder Klausjürgen Wussow. Clara Zetkin würde auffallen, daß weibliche Helden hier in der verschwindenden Minderzahl bleiben. Filme über die Arbeitskämpfe von Werktätigen, die in beiden deutschen Staaten in den sechziger und siebziger Jahren zahlreich entstanden, sei es von Fassbinder oder Bellag, findet man nie.



Um bei der Medienkritikerin von 1919 zu bleiben: Heute hätte sie sicherlich junge Genossinnen und Genossen an der Seite, die ihr die Technik der Aufzeichnung nahebringen, und sie würde sich ihr eigenes Programm zusammenstellen. Aber das machte sie dann zur Individualistin. Der französische Regisseur François Ozon, dessen Filme man gelegentlich auf Arte oder 3sat finden kann, sagte: »Das Kino ist ein politischer Ort, an dem man als Filmemacher die Zuschauer schockieren, provozieren und verstören muß.« Richtig! Im Kino! Zumindest in den Programmkinos findet man noch Ausgleich, und das Kollektiverlebnis würde auch eine Clara Zetkin genießen!



Lesen Sie morgen mehr zu den Problemen des Fernsehens im Spätkapitalismus in unserer Beilage »Film«
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