Michael Wolf:
Die Organisierung des sozialen Krieges:
zur
staatspolitischen Dimension der Hartz-IV-Reform[1]
„Wenn wir
garantieren, dass jeder am Leben erhalten wird, der erst einmal geboren ist,
werden wir sehr bald nicht mehr in der Lage sein, dieses Versprechen zu
erfüllen.“
(Friedrich A. Hayek)
„Der Sozialstaat
wird nach und nach, ebenso unablässig wie konsequent, in einen ,Besatzungsstaat‘
umgewandelt […] – einen Staat, der zunehmend die Interessen globaler,
transnational operierender Unternehmen schützt, ,während er zugleich den Grad
der Repression und Militarisierung an der Heimatfront steigert‘.“
(Zygmunt Bauman)
Schon immer ist Arbeitslosigkeit
Gegenstand politischer Kämpfe und öffentlicher Dispute gewesen – und dies
hinsichtlich wenigstens zweier Momente. Das erste Moment ist bezogen auf
die Frage nach der Existenz von Arbeitslosigkeit, thematisiert also deren
Definition und Verursachung. Das heisst, es fragt danach, was unter
Arbeitslosigkeit zu verstehen ist und von wem, den Käufern oder den Verkäufern
von Arbeitskraft, Arbeitslosigkeit verursacht wird. Indem es die Frage nach der
Bewertung von Arbeitslosigkeit aufwirft, ist das zweite Moment hingegen
normativer Art. Von zentraler Bedeutung ist hier, ob Arbeitslosigkeit positiv
oder negativ konnotiert und damit in der Konsequenz als ein Problem begriffen
wird, das gesellschaftlich und politisch als inakzeptabel gilt und deswegen
beseitigt oder doch zumindest entschärft werden soll. Dieser eigentlich recht
triviale Sachverhalt, dass Arbeitslosigkeit nicht ,an sich‘ existiert, sondern
sozial konstruiert und definiert wird, wenn auch mit Rückbezug auf ,objektive‘
soziale Phänomene[2],
führt dazu, dass erst im politischen Prozess auf der Basis von Machtstrukturen
und gegensätzlichen Interessenlagen in einem stets prekären und instabilen
Interessenkompromiss entwickelt und selektiv festgelegt wird, ob überhaupt und
in welcher Art und Weise Arbeitslosigkeit auf der politischen Agenda als
Gegenstand erscheint.[3]
Dass die veränderte
Wahrnehmung der Arbeitslosen in der seit etwa dem Jahr 2004 forciert geführten
Debatte über die „neue Unterschicht“[8]
kulminierte, deren „einziger Ehrgeiz oft im professionellen Missbrauch von
Sozialleistungen“ bestehe, so Draxler (2006) in einem Bild-Kommentar
Vorurteile produzierend und reproduzierend, verwundert daher nicht. Im
Gegenteil. Liest man diese Debatte als ein diskursives Element des Projektes der
neoliberalen Rekonstruktion der Gesellschaft, so lässt sie sich mühelos als
klassenpolitische Komplementärdebatte zur sozialpolitischen Missbrauchsdebatte
begreifen, die vom seinerzeitigen Bundeskanzler Gerhard Schröder mit den
Worten: „Wer arbeiten kann, aber nicht will, der kann nicht mit Solidarität
rechnen. Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft!“, im April
2001 angezettelt wurde und die ihren vorerst letzten traurigen Höhepunkt im Mai
2005 fand, als in einer unsäglichen, vom vormaligen Wirtschafts- und
Arbeitsminister Wolfgang Clement gewissermaßen regierungsamtlich zu
verantwortenden und bis heute andauernden Missbrauchskampagne Arbeitslose in
einem als „Report vom Arbeitsmarkt im Sommer 2005“ bezeichneten Pamphlet
pauschal der „Abzocke“ (BMWA 2005: passim) bezichtigt und expressis
verbis als „Parasiten“ (ebd.: 10) bezeichnet wurden. Unter Berufung auf den
BMWA-Report hetzte sodann im Herbst des gleichen Jahres zunächst das
Boulevardblatt Bild, Deutschlands auflagenstärkste Tageszeitung, unter
der Überschrift „Die üblen Tricks der Hartz-IV-Schmarotzer! … und wir müssen
zahlen“ gegen hilfebedürftige Arbeitslose, die auf den Bezug von
Arbeitslosengeld II zur Sicherung ihrer Existenz angewiesen sind. Eine Woche
später griff der Spiegel mit der
Titelgeschichte „Hartz IV: Das Spiel mit den Armen. Wie der Sozialstaat zur
Selbstbedienung einlädt“ das Thema auf in dem für
ihn typischen ,seriösen Stil‘ für ,gehobene Leserschichten‘. Seither hat die
Thematik auf der Tagesordnung der Medien einen prominenten Stellenwert
eingenommen, wofür neben der TV-Serie „Sozialfahnder“ des kommerziellen Senders
SAT.1 die im Frühjahr und Herbst des Jahres 2008 erneut von Bild
inszenierte Hetze gegen Arbeitslose spricht, mit der diese nicht nur für ihr
Schicksal, arbeitslos zu sein, selbst verantwortlich gemacht, sondern auch
pauschal bezichtigt wurden, sich „vor der Arbeit zu drücken“, sprich
,arbeitsscheu‘ zu sein, und den „Staat zu bescheißen“.
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mit dem Einzug des Begriffs des Parasiten in die Naturwissenschaften und der
Entstehung einer eigenen Disziplin, der Parasitologie, zeigte sich, dass es kein
Leben ohne Parasiten gibt. Im biologischen Sinne ist ein Parasit ein Lebewesen,
das sich bei seinem Wirt aufhält, mit diesem allerdings nicht wie ein Symbiont
in einer Symbiose, das heisst zum gegenseitigen Nutzen lebt, ihn aber auch nicht
wie ein Raubtier tötet und verzehrt, sondern sich von ihm nur auf eine Art und
Weise ernährt, die sicherstellt, dass dieser zumindest nicht kurzfristig
zugrunde geht. Mit anderen Worten: Ein Parasit schädigt seinen Wirt, ohne ihn im
allgemeinen zu töten. Es gibt Parasiten unter den Bakterien, den Pflanzen, den
Tieren – und selbstredend auch unter den Menschen. In Anspielung auf Hobbes’
„Der Mensch ist ein Wolf für den Menschen“ (Hobbes 1966: 59)[11]
veranlasste dies Serres zu dem Bonmot: „Der Mensch ist des Menschen
Laus.“ (Serres 1987: 14) Bedauerlicherweise hat die Erkenntnis, dass es
kein parasitenfreies Leben gibt, nicht wesentlich die Einsicht befördert, dass
die Verwirklichung des Traums von absoluter Reinheit etwas Totalitäres an sich
hat und letztlich den Tod allen Lebens nach sich zieht, obwohl dies jedem seit
dem Aufkommen der nationalsozialistischen Idee von der Reinheit der Rasse und
deren barbarischen Folgen klar sein müsste.
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