Freitag, 20. August 2010

Anatomie im Nationalsozialismus (idw)


Informationsdienst Wissenschaft - idw - Pressemitteilung
Friedrich-Schiller-Universität Jena, Axel Burchardt, 20.08.2010 08:25

Anatomie im Nationalsozialismus

Jenaer Anatom organisiert für die Anatomische Gesellschaft am 29.
September ein Satellitensymposium in Würzburg

Jena (20.08.10) Leichen im Keller eines anatomischen Instituts sind
alltäglich. Wenn anatomische Präparate aber aus der Zeit des "Dritten
Reiches" stammen, ist besondere Aufmerksamkeit notwendig, weiß man doch
oft nicht, woher die einstigen Körper stammten und wie sie ihren Weg in
die Anatomie fanden.

Dabei lief zu jener Zeit alles nach demselben Schema ab, wie Prof. Dr. Dr.
Christoph Redies vom Institut für Anatomie I der Universität Jena weiß:
Die damaligen Gesetze und Verordnungen verfügten, dass zum Tode
Verurteilte, die gegen Nazi-Gesetze verstoßen hatten, an die
nächstgelegene Universität zu überführen seien.

 

Auch aus Krankenanstalten, in denen "Euthanasie"-Morde geschahen,

und aus Fremdarbeiterlagern gelangten Leichname an anatomische Institute

des Dritten Reichs.

 

KZ-Opfer waren es selten, auch nicht überwiegend Juden, sondern

"diejenigen, die dem allgemeinen Terror der Nazis gegen missliebige

Teile der Bevölkerung zum Opfer fielen", weiß Anatom Redies.

Er selbst hat die Phase der Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels bereits
hinter sich. Die Jenaer Universität hat sich – wie z. B. auch Bonn,
Berlin, Gießen, Göttingen, Halle/Saale, Hamburg, Heidelberg, Marburg und
Tübingen – dieser Vergangenheit aus eigenem Antrieb gestellt und ihre
Konsequenzen gezogen. Die dabei gemachten Erfahrungen und mögliche
Komplikationen will nun zum ersten Mal die Anatomische Gesellschaft in
einem öffentlichen Symposium präsentieren, das von Prof. Redies
organisiert wird. Das Symposium "Anatomie im Nationalsozialismus" findet
am 29. September an der Universität Würzburg statt. Es passt damit
haargenau in eine öffentliche Debatte, die aktuell in renommierten
Tageszeitungen, aber auch im Wissenschaftsmagazin Science (Band 329,
Ausgabe Nr. 5989, Seiten 274-275) geführt wird.

Gegenstand des Symposiums sind aber nicht nur die Ablieferung und
Verwendung der Leichname Hingerichteter und anderer Opfer des Nazi-Regimes
in der anatomischen Forschung und Lehre. Es wird auch um eine
Standesgeschichte der eigenen Zunft gehen.

 

Denn es gibt Beispiele von Anatomen, die bereitwillig vom Naziterror

profitierten: August Hirt, dem 86 jüdische Häftlinge aus dem KZ Auschwitz

für seine Skelettsammlung in Straßburg dienen sollten; Herman Stieve, der

in Berlin an hingerichteten Frauen des deutschen Widerstandes gynäkologische

Studien durchführte; Eduard Pernkopf, der in Wien einen bekannten Atlas

anhand von Leichnamen Hingerichteter erstellte; Hermann Voss, der in Poznan

(Polen) von der Zusammenarbeit mit der lokalen Gestapo profitierte und einen

Handel mit Skelettteilen von polnischen und jüdischen Naziopfern trieb.

 

"Und dennoch gibt es heute noch Kontroversen über die moralische Bewertung,

was einzelne Anatomen gemacht haben", weiß Prof. Redies.

 

Als besten Weg zu einer Aufklärung sieht er, "erst Fakten zu gewinnen, dann über

die ethisch-moralische Perspektive zu reden".

"Das Symposium soll die Erkenntnisse, die in Deutschland und im Ausland in
den letzten Jahren gewonnen wurden, zusammentragen und zukünftige
Forschungsprojekte identifizieren. Es demonstriert auch einen neuen,
offeneren Umgang mit dem Thema unter deutschen Anatomen", sagt der Jenaer
Anatom. Auch die relativ späte Aufarbeitung der Geschehnisse soll auf dem
Symposium diskutiert werden.

Wissenschaftliche Beiträge zu dem Symposium stammen nicht nur von
Anatomen, Medizinhistorikern und Historikern aus Deutschland, sondern auch
aus Großbritannien, Israel, Polen und den USA. Weitere Informationen
unter: http://www.anatomie1.uniklinikum-jena.de/Satellitensymposium.html.

Das Symposium "Anatomie im Nationalsozialismus" findet am 29. September,
8.30 bis 12.30 Uhr, unmittelbar vor der Arbeitstagung der Anatomischen
Gesellschaft im Anatomischen Institut der Universität Würzburg statt. Das
Symposium ist öffentlich und interessierte Gäste sind willkommen.

Kontakt:
Prof. Dr. Dr. Christoph Redies
Institut für Anatomie I
Universitätsklinikum Jena
Teichgraben 7, 07743 Jena
Tel.: 03641 / 938511
E-Mail: redies[at]mti.uni-jena.de

Arten der Pressemitteilung:
Wissenschaftliche Tagungen

Sachgebiete:
Geschichte / Archäologie
Medizin

Weitere Informationen finden Sie unter
http://www.anatomie1.uniklinikum-jena.de/Satellitensymposium.html - weitere Informationen zum Symposium.
http://www.uni-jena.de - Universität Jena

Zu dieser Mitteilung finden Sie Bilder unter der WWW-Adresse:
http://idw-online.de/pages/de/image122663
Auszug aus dem Leichenjournal des Anatomischen Instituts der Universität Jena aus dem Jahre 1943. Rot unterstrichen ist das Wort "hingerichtet" hinter dem Namen der zum Tode Verurteilten, deren Leichname an das Institut geliefert wurden.

http://idw-online.de/pages/de/image122664
Gedenktafel in der Jenaer Anatomie.

Die gesamte Pressemitteilung inkl. Bilder erhalten Sie unter:
http://idw-online.de/pages/de/news383152

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung stehen unter:
http://idw-online.de/pages/de/institution23

Posted via email from Beiträge von Andreas Rudolf

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