Hungerlöhne und Almosen
Position. Minijobs, Erwerbslosigkeit,
Hartz IV Armut in der BRD
Von Ingrid Jost
[]via Junge Welt]
»Eine der schauerlichsten Folgen der Arbeitslosigkeit ist wohl die, daß Arbeit als Gnade vergeben wird. Es ist wie im Kriege: Wer die Butter hat, wird frech.«
Kurt Tucholsky (18901935), deutscher Journalist und Schriftsteller
Das Geschäft mit der Erwerbslosigkeit boomt. Es geht um Milliarden auf einem heiß umkämpften Markt, der den Betroffenen unsichere, schlecht bezahlte Beschäftigung und Zwangsmaßnahmen beschert. Es wäre naiv, den Verantwortlichen zu unterstellen, daß sie nicht wissen, was sie tun. Armut wurde und wird politisch gemacht. Die Gewinnmarge wird durch immer niedrigere Löhne und prekäre Arbeitsplätze erhöht gerade auch im Bildungsbereich. Mindestlöhne für Akademikerinnen und Akademiker von 12,28 Euro (West) und 10,93 Euro (Ost) treiben gut etablierten Handwerkerinnen und Handwerkern sicher vor Lachen Tränen in die Augen. Im Friseurhandwerk, im Gastronomie- und Dienstleistungsbereich sind noch weit niedrigere Löhne die Regel.
Während die Zunahme der Armut, insbesondere die der Kinder, allgemein »Besorgnis« hervorruft, wächst der Niedriglohnsektor weiter, in dem in der Regel auch die Eltern der armen Kinder arbeiten. In diesem Bereich sind 22,8 Prozent (Stand 2010) der Vollzeitbeschäftigten tätig überwiegend junge Menschen und Frauen, die zu Niedriglohnkonditionen arbeiten. Betroffen sind 715000 Jugendliche außerhalb der Ausbildung und 2,56 Millionen Frauen, die in Vollzeitbeschäftigung weniger als zwei Drittel des Durchschnittseinkommens verdienen (OECD-Niedriglohngrenze). Im Jahr 2010 war in absoluten Zahlen eine Zunahme von 199 762 Menschen im Niedriglohnbereich zu verzeichnen.Während in anderen europäischen Ländern in den vergangenen Jahren die Löhne gestiegen sind, ist in Deutschland von 2000 bis 2009 laut »International Labour Organization« (ILO) ein Reallohnverlust von 4,5 Prozent zu verzeichnen. Das »Institut Arbeit und Qualifikation« (IAQ) kommt zu dem Ergebnis, daß die Niedriglöhne im untersten Viertel der am schlechtesten Verdienenden zwischen 2000 und 2006 regelrecht abgestürzt sind: Sie brachen um 13,7 Prozent unter das Niveau des Jahres 2000 ein (nominal lagen sie sogar darunter). Im zweiten Viertel sanken die Reallöhne noch um 3,2 Prozent, lediglich im dritten und vierten stiegen sie leicht an. Das heißt, es hat eine weitere Einkommensumverteilung von unten nach oben gegeben. Durch dieses Lohndumping wurden sehr viele Menschen arm trotz Arbeit, um wenigen zu noch mehr Reichtum zu verhelfen, der in die nächste Spekulationsblase investiert werden kann. »Hilfsbedürftige«
Im Umgang mit Erwerbslosen wird ein ganz bestimmtes Menschenbild konstruiert: Millionen Menschen werden zu »Hilfsbedürftigen« erklärt. Ältere Menschen werden in der Regel geschätzt wegen ihrer persönlichen und beruflichen Erfahrungen, als Erwerbslose hingegen werden sie zu sogenannten Minderleistern, deren vermeintliche Defizite über Lohnzuschüsse ausgeglichen werden müssen. In der Umsetzung von Hartz IV wird ein hemmungsloser Abbau sozialer Rechte betrieben, die über Jahrzehnte hart erkämpft worden waren. Die gängige Legendenbildung suggeriert auch, daß im Niedriglohnbereich überwiegend Menschen ohne Ausbildung arbeiten. Statt dessen beträgt der Anteil derer mit Fachausbildung, Fachhochschul- und akademischem Abschluß zirka 80 Prozent, der Anteil derjenigen ohne Abschluß im Niedriglohnsektor ist dagegen geringer geworden. Zwangsmaßnahmen und weitere prekäre Beschäftigung werden gerechtfertigt, indem unterstellt wird, daß Erwerbslose dringend therapeutische oder sozialpädagogische Begleitung brauchen, um mit ihrem Leben zurechtzukommen. Arbeit wird so zum Therapeutikum und kann als »Maßnahme« verordnet werden das bringt billige Arbeitskräfte, und die Betroffenen verschwinden aus der Erwerbslosenstatistik. Reguläre Arbeitsplätze werden von verarmten unterfinanzierten Kommunen abgebaut oder gar nicht erst eingerichtet, weil durch Hartz IV eine billige »Reservearmee« zur Verfügung steht, die diese Lücke füllt oder dank einer rigorosen Sanktionspraxis füllen muß.Unsicher und mies bezahlt
Leiharbeit ist ein weiteres Instrument, um Arbeit billiger zu machen, die Profite zu privatisieren und die unternehmerischen Risiken zu vergesellschaften. Verglichen mit anderen europäischen Ländern ist die Verbreitung der »Zeitarbeit« in Deutschland leicht überdurchschnittlich. Der Arbeitsmarktbericht der Bundesagentur für Arbeit vom Januar 2012 erfaßt 910000 Leiharbeitsverhältnisse im Juni 2011. Der Anteil der Leiharbeiter an allen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten liegt bei knapp drei Prozent. 17 Prozent des Beschäftigungsanstieges von Juni 2010 bis Juni 2011 gingen auf die sogenannte Arbeitnehmerüberlassung zurück.Während der Frauenanteil im Niedriglohnbereich 70 Prozent ausmacht, sind in der Leiharbeitsbranche 73 Prozent Männer. Die Hälfte dieser Beschäftigungsverhältnisse endet nach weniger als drei Monaten. Das Entlassungsrisiko ist überdurchschnittlich hoch, dafür liegen die mittleren Bruttoarbeitsentgelte in der Zeitarbeit im Durchschnitt unter den mittleren Entgelten und zwar für alle Branchen. Das Bundesarbeitsministerium teilt laut dpa mit, daß jeder zwölfte in diesem Bereich Beschäftigte im vergangenen Jahr zusätzlich zum Lohn Arbeitslosengeld II bezogen hat. Etwa 65000 Leiharbeiter in Deutschland hätten Leistungen aus der Grundsicherung für Arbeitslose erhalten. In den letzten zehn Jahren hat sich die Zahl der in diesem prekären Sektor ihren Lebensunterhalt Bestreitenden mehr als verdoppelt, die Zunahme an unsicheren und schlecht bezahlten Jobs ist zumindest teilweise auch Resultat der Hartz-Gesetze.Im Rahmen dieser Hartz-Gesetze soll zudem zahlreichen Alleinerziehenden »geholfen« werden, sich im regulären Arbeitsmarkt einzufinden. Unerwähnt bleibt die Tatsache, daß die Zahl der existenzsichernden Arbeitsplätze bestenfalls gleichgeblieben und lediglich die Zahl der prekären gestiegen ist. Unter der Beteiligung von Grundsicherungsstellen werden aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds (EFS) und des Bundes 79 lokale und regionale sogenannte Xenos-Projekte mit zirka 60 Millionen Euro finanziert, die zur »Aktivierung, Integration in Erwerbstätigkeit oder sozialen und beschäftigungsbezogenen Stabilisierung von Alleinerziehenden beitragen« sollen. Voraussetzung ist der Bezug von Leistungen nach dem Zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II). Grundlage dieser Projekte ist wieder die Legende, daß Erwerbslose nur ausreichend aktiviert und stabilisiert werden müssen, und schon fielen neue existenzsichernde Arbeitsplätze vom Himmel, die ohne Aufstockung durch ALG II ein gutes Leben ermöglichen würden. Nur mit dieser Logik der Individualisierung von Erwerbslosigkeit lassen sich Maßnahmen rechtfertigen, die in Wirklichkeit ein großangelegtes Beschäftigungsprogramm sind, das die Bildungsträger absichert und deren Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen davor bewahrt, ebenfalls in der Erwerbslosigkeit zu landen. Die Beteiligung der Grundsicherungsstellen führt dazu, daß Frauen mit diesem Instrument der »Frauenförderung« teilweise in den Niedriglohnsektor gedrängt werden, weil Grundsicherungsstellen unter Sparzwang stehen und sich deren Erfolg an den eingesparten Leistungen mißt. Nachhaltige Unabhängigkeit von Transferleistungen über eine notwendige Weiterbildung oder eine Einmündung in reguläre tariflich bezahlte Arbeit wären für die alleinerziehenden Haushalte die bessere Alternative, doch dafür müßten entsprechende Stellen geschaffen und mehr Geld in berufliche Weiterbildung investiert werden.Billigjob Tagesmutter
Es ist schon ein Hohn, daß Instrumente zur Frauenförderung bei den Grundsicherungsstellen angesiedelt sind, denn deren vorrangige Aufgabe ist es, die Hilfsbedürftigkeit um jeden Preis zu senken. Da werden dann Frauen aus dem SGB-II-Regelkreis in prekäre Beschäftigung gedrängt. Für die Kinderbetreuung, die insbesondere bei verschuldeten Kommunen durch prekäre Selbständigkeit abgedeckt wird, werden weitere Frauen als Tagesmütter verpflichtet, die z.B. wie in Duisburg mit zwei bis fünf Euro brutto die Stunde für ein Kind entlohnt werden. Die »Höhe« der Entlohnung richtet sich nach der Qualifizierung der Tagesmutter: ungelernte erhalten zwei Euro, diejenigen, die einen pädagogischen Grundkurs absolviert haben, erhalten vier und das Fachpersonal immerhin satte fünf Euro brutto. Oft ist zu hören, daß die Mütter froh sein sollen über diese Chance; häufig äußern das allerdings diejenigen, die für solche Monatsverdienste nicht einmal einen Tag arbeiten würden.In einigen anderen europäischen Ländern ist die Ausbildung zur Erzieherin ein Studium, in Deutschland dauert sie normalerweise drei Jahre. Hierzulande bevorzugt man in Notlagen mit dem pädagogischen Grundkurs von 160 Stunden die billigste Lösung, die übrigens ebenfalls mit ESF-Mitteln gefördert wird, für den hochsensiblen Bereich der Kindererziehung, anstatt die Aufgabe Einrichtungen anzuvertrauen, die mit tariflich bezahltem Fachpersonal ausgestattet sind und unter Fachaufsicht stehen.Nicht nur unterfinanzierte Kommunen greifen zu dieser Sparlösung, auch finanziell gut ausgestattete nutzen diese Gelegenheit, wann immer sie sich bietet. ESF-Mittel sind ein guter Anreiz, um die klammen Kassen von Bildungsinstituten zu füllen, denn Investitionen in diesem Sektor zählen laut OECD-Ländervergleich in Deutschland offenbar nicht zu den vorrangigen Aufgaben.Auch in anderen hochsensiblen Bereichen werden zunehmend 400-Euro-Kräfte verpflichtet wie z.B. in den Schulen zur Kinderbetreuung und bei der Schulaufgabenhilfe, bei PC-Kursen zur Vermittlung von Grundkenntnissen und vielem mehr. Auf diese Weise werden ehemals regulär bezahlte Stellen in großer Zahl abgebaut und durch prekäre ersetzt. Beim Preiswettbewerb der Supermärkte und in diversen Dienstleistungsbereichen scheinen die zahllosen Billigjobs fast unverzichtbar zu sein. Die hier geforderte »Flexibilität« wird laut DGB mit vier Milliarden Euro jährlich aus Steuergeldern aufgestockt, um »Arbeitgeber« zu subventionieren. Die Aufstockung von Armutslöhnen kostet die Steuerzahler seit 2005 zirka 50 Milliarden Euro.
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