Bereits im Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD war 2005 von einer Ergänzung der Pflegeversicherung durch "kapitalgedeckte Elemente" die Rede. Schwarz-Gelb wollte die private Pflegezusatzversicherung laut Koalitionsvertrag sogar zu einer Pflichtversicherung machen. Der Frontalangriff auf das letzte weitestgehend unangetastete Umlagesystem geriet jedoch aufgrund koalitionsinterner Streitereien ins Stocken und wird nun Medienberichten zufolge nur in einer abgeschwächten Version umgesetzt. Doch dies ist kein Grund zur Freude, auch der "kleine" Pflege-Riester ist nichts anderes als ein großangelegtes, steuerfinanziertes Konjunkturprogramm für die Versicherungswirtschaft, eine staatliche Subventionierung einer privaten Risikoabsicherung, von der wenn überhaupt nur diejenigen profitieren, die nicht auf staatliche Hilfe angewiesen sind. Von Jens Berger.
Selbst die notorischen Untergangspropheten aus dem Umfeld der Versicherungswirtschaft haben es beim Thema Pflegeversicherung trotz der wohlbekannten statistischen Trickserien nicht eben leicht, die Politik von der Notwendigkeit einer Umstellung des bisherigen Umlageverfahrens auf ein kapitalgedecktes Verfahren zu überzeugen. Nach diversen Erhöhungen liegt der Beitragssatz der solidarischen Pflegeversicherung heute bei 1,95% des Einkommens (bei Kinderlosen 2,2%) und zumindest im Moment kann auch keine Rede von Finanzierungsproblemen des Umlageverfahrens sein. 2010 und 2011 machte die Pflegeversicherung aller Horrorprognosen zum Trotz einen satten Überschuss, die Reserveliquidität beträgt mittlerweile mehr als fünf Milliarden Euro und wird selbst bei schlechter Konjunktur noch jahrelang etwaige Defizite ausgleichen können. Dennoch hält das Gesundheitsministerium an der bereits lange geplanten Beitragserhöhung auf 2,05% für das Jahr 2013 fest. Grund dafür ist eine längst überfällige Ausweitung der Leistungen auf Demenzkranke. Das System funktioniert also, auch wenn es bei einer schlechteren Entwicklung der Löhne mehrere Sollbruchstellen gibt.
Keine Kostenexplosion in Sicht
Wie beim gesetzlichen Krankenversicherungssystem gibt es auch bei der Pflegeversicherung kein Ausgaben-, sondern ein Einnahmenproblem. Während die Ausgaben ungefähr im Rahmen der Inflation steigen, entwickeln sich die Einnahmen, die lohnabhängig sind, weitaus schlechter. So stiegen die Ausgaben der Pflegeversicherung von 1998 bis 2007 im Mittel um 1,6 Prozent pro Jahr, während die Einnahmen lediglich um 0,9% stiegen. Würden die Löhne ebenfalls im Rahmen der Inflation steigen, gäbe es keine Finanzierungslücken bei der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung. Beide Umlagesysteme sind prinzipiell grundsolide gegenfinanziert, haben jedoch ein Problem mit Reallohnkürzungen, die nicht auf der Ausgabenseite abgefedert werden können. Die beste Sicherungsmaßnahme für sämtliche Sozialsysteme ist und bleibt daher auch eine gesunde Entwicklung der Löhne und Einkommen.
Da man jedoch beim besten Willen keine solche Entwicklung erkennen kann und demographische Prognosen immer eine Rechnung mit vielen Unbekannten sind, sind auch die Prognosen für die künftige Finanzlage der Pflegeversicherung sehr vage. Zwar lässt sich anhand der Geburtsziffern und der Lebenserwartung relativ präzise berechnen, wie viele Mitmenschen im Jahr X ein gewisses Alter aufweisen. Es ist jedoch nicht so einfach, zu bestimmen, welche Kosten für die Sozialsysteme damit verbunden sind. Dank des medizinischen Fortschritts werden die Menschen nicht nur älter, sondern auch fitter. Statistiker sprechen hierbei von der "altersspezifischen Pflegewahrscheinlichkeit". Momentan sind beispielsweise 15,0 Prozent der 85 bis 90-Jährigen vollstationäre Pflegefälle. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass diese Quote in den nächsten Jahrzehnten durch den medizinischen Fortschritt sinken wird. Wer weit in die Zukunft prognostiziert, muss daher auch diesen Faktor mit einkalkulieren dies wird jedoch von den meisten Prognostikern unterlassen. Dennoch erscheint es plausibel, dass die Gesamtausgaben der Pflegeversicherung alleine schon durch die höhere Lebenserwartung und die stärkeren Jahrgänge der zukünftig potentiell Pflegebedürftigen stärker als die Gesamteinnahmen steigen werden. So prognostiziert das Bundesgesundheitsministerium (ohne eine Anpassung der altersspezifischen Pflegewahrscheinlichkeit) für das Jahr 2050 einen Beitragssatz von 2,8%. Dies ist jedoch nicht unbedingt dramatisch, entspräche eine solche Steigerung doch lediglich einer jährlichen Erhöhung des Beitragssatzes um 0,02 Prozentpunkte. Für Horrorszenarien, mit denen man die Bevölkerung für die Notwendigkeit einer Systemumstellung "überzeugen" kann, taugen diese Zahlen jedenfalls nicht. Dies mag einer der Gründe sein, warum die Union sich nicht dazu durchringen konnte, die "große Systemumstellung", die im Koalitionsvertrag vorgesehen ist, auch umzusetzen.
Teilkasko mit Selbstbeteiligung
Eine Besonderheit der Pflegeversicherung ist es, dass sie anders als die Krankenversicherung nicht voll kostendeckend ist. Die Pflegeversicherung ist vielmehr eine Teilkaskoversicherung mit Selbstbeteiligung, bei der der Versicherungsanteil meist die realen Kosten nicht voll abdeckt. Sinn und Zweck der Pflegeversicherung war es auch nicht, eine Vollkasko fürs Alter einzuführen es ging vielmehr darum, die Kommunen zu entlasten, die vor der Einführung der Pflegeversicherung über die Sozialhilfe einen Großteil der Pflegekosten tragen mussten. Heute wird die Rente oder die Pension voll angerechnet; reichen die laufenden Einkünfte nicht aus, müssen die Ersparnisse der Pflegebedürftigen aufgezehrt werden und erst dann springt (wenn keine einkommensstarken Kinder vorhanden sind) der Staat als Träger des Finanzierungsdefizits ein. Eine Zusatzversicherung, wie der Pflege-Riester, ist somit vor allem eine Versicherung gegen ein zu erwartendes Aufzehren des Vermögens der Pflegebedürftigen. Man könnte es auch eine "Erbmassenerhaltungsschutz" für die Nachkommen nennen.
Die zu entrichtenden Kosten für eine Pflegeheim übersteigen bei stationärer Pflege die Leistungen der Pflegeversicherung je nach Betreiber und Pflegestufe oft zwischen 1.000 und 3.000 Euro pro Monat an. Dies übersteigt die durchschnittliche Rente (1.044 Euro für Männer und 676 Euro für Frauen (West)/Männer 970 Euro, Frauen 473 Euro (Ost)) bei weitem. Will man sein Vermögen im Pflegefall im Alter sichern und den eigenen Kindern eine mögliche finanzielle Belastung ersparen, muss man also je nach Rentenhöhe eine meist vierstellige monatliche Differenz über eine Zusatzversicherung absichern. Nach einer
Modellberechnung der Versicherungswirtschaft müsste eine 50-jährige Frau bei einem "Pflege-Riester" jeden Monat 96 Euro einzahlen, um im Pflegefall einen Anspruch auf ein nennenswertes Pflegetagegeld (je nach Pflegstufe 600 bis 1.500 Euro) zu haben und somit das eigene Vermögen auch im Pflegefall sichern zu können. Diese Versicherungsprämie muss freilich lebenslang bezahlt werden, also auch im Rentenalter und da sie zweckgebunden ist, verfällt sie, wenn der Versicherungsfall nie eintritt. Sollte die heute 50-Jährige also im Alter von 85 Jahren versterben ohne je ein Pflegefall gewesen zu sein, hat sie (ohne Inflation und Beitragsanpassung) mehr als 40.000 Euro für nichts gezahlt.Dies gehört freilich zum Versicherungsprinzip, wer eine Brandschutzversicherung hat und nie einen Brandschaden melden muss, erhält schließlich auch kein Geld zurück. Wenn man bedenkt, dass selbst die 85 bis 90-Jährigen im Schnitt "nur" eine Pflegequote (stationäre Pflege) von 15% haben, heißt dies nichts anderes, als dass 85% dieser Altersgruppe nicht in stationärer Pflege sind 71,7% der Altersgruppe sind überhaupt keine Empfänger von Pflegeleistungen und wären somit auch keine Leistungsempfänger eines Pflege-Riesters. Somit gehen selbst in dieser hochbetagten Altersgruppe 71,7% bei einem Pflege-Riester vollkommen leer aus, während nur 15% die volle Versicherungssummen (im Rechenbeispiel zwischen 600 und 1.500 Euro pro Monat) beziehen. Für die Versicherungen ist dies ein sehr lukratives Geschäft, für die Versicherten in vielen Fällen jedoch nicht.
Subventionierung für den Schutz der Erbmasse?
Es stellt sich die Frage, wem einen solche private Zusatzversicherung überhaupt nützt? Die statistische Durchschnittsrentnerin hat in der Regel ohnehin kein nennenswertes Geldvermögen, das sie durch eine Zusatzpflegeversicherung á la Pflege-Riester schützen müsste und die hohen Beiträge des Pflege-Riester würden ferner dafür sorgen, dass dies auch so bleibt. Es ist ohnehin illusorisch, zu glauben, dass ein Rentner oder eine Rentnerin, die von der Grundsicherung leben muss, sich derart teure Policen leisten kann. Viele potentielle "Pflege-Riesterer" dürfte mit dem Eintritt ins Rentenalter ohnehin ein böses Erwachen ereilen. Ein heutiger Durchschnittsverdiener braucht bereits 27 Jahre, um auf eine Rente von 627 Euro zu kommen, die der Grundsicherung entspricht. Für viele Beitragszahler der "Generation Praktikum" ist dies jedoch eine unüberwindbare Hürde. Selbst wer in seinen "goldenen Jahren" kurz vor dem Renteneintritt die Versicherungsbeiträge noch stemmen kann, wird dies im Rentenalter oft nicht mehr schaffen. Anders als die normale Riester-Rente muss der Pflege-Riester jedoch lebenslang bedient werden. Kündigt man den Versicherungsvertrag im Rentenalter, sind die schönen Beiträge ebenfalls auf Nimmerwiedersehen in den Bilanzen der Versicherungskonzerne verschwunden.
Durchaus sinnvoll mag eine solche Zusatzversicherung für einkommensstarke Mitbürger sein, die zudem ein schützenswertes Geldvermögen und potentielle Erben haben. Als Beispiel seien hier diejenigen Beamten genannt, die sich auf eine erfreulich hohe Pension freuen können. Für diese Gruppe sind die Beiträge in ihrer Höhe überschaubar und da die Pensionsansprüche im Falle einer stationären Pflege voll verrechnet würden, macht auch der Versicherungsschutz durchaus Sinn. Wer beispielsweise bei Pflegestufe II für sein Pflegeheim einen Eigenanteil von 1.500 Euro tragen muss und eine Pension von 1.300 Euro (netto) bezieht, würde beim Rechenbeispiel der Versicherungswirtschaft ein monatliches Pflegetagegeld von 1.050 Euro (70% von 1.500 Euro) bekommen und könnte immer noch auf ein Nettoeinkommen von 850 Euro im Monat zurückgreifen. Ohne Versicherung müsste der Pensionär das monatliche Defizit von 150 Euro aus seinen Ersparnissen tragen.
Freuen werden sich in diesem Fall vor allem die Erben, steigt die Erbmasse doch von Monat zu Monat, anstatt im Pflegefall dahin zu schmelzen. Davon können die Erben normaler Rentner, die zum Pflegefall werden, freilich nur träumen. Somit ist der Pflege-Riester für bestimmte Personengruppen ein durchaus attraktives Produkt für die Absicherung des Risikos eines Vermögensverlusts durch einen längeren Pflegeheimaufenthalt.
Nicht förderwürdig
So sinnvoll oder sinnlos ein Pflege-Riester von Fall zu Fall sein mag, ein gesellschaftlicher Nutzen, der eine staatliche Förderung rechtfertigen würde, lässt sich hier jedoch nicht erkennen. Wer seine Erbmasse schützen will, der kann dies gerne tun aber nicht auf Kosten des Steuerzahlers.
Nach der Einführung des Pflege-Riesters sollen Versicherungspolicen mit bis zu 200 Millionen Euro pro Jahr gefördert werden. Der Fördertopf soll jedoch sukzessive auf 600 Millionen Euro pro Jahr erweitert werden. Es ist nicht hinzunehmen, dass der Staat eine Versicherung, deren gesellschaftlicher Nutzen nicht zu erkennen ist, derart massiv fördert. Die Erfahrungen aus der normalen Riester-Rente zeigen, dass die Fördermittel auch nicht als finanzieller Vorteil an die Kunden weitergereicht werden, sondern in Form von Provisionen und überhöhten Verwaltungsgebühren in voller Höhe der Versicherungsbranche zugute kommen. Die Einführung eines Pflege-Riesters ist somit nichts anderes als ein Konjunkturprogramm für die Versicherungswirtschaft und hat nur sehr wenig mit etwaigen Finanzierungslücken im Pflegeversicherungssystem zu tun.
Will man diese Lücken (so sie denn irgendwann einmal Realität werden) schließen, so könnte man beispielsweise die Beitragssätze um ein paar zehntel Prozentpunkte erhöhen oder aber über eine Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze oder eine Ausweitung der gesetzlichen Pflegeversicherung auf privat Versicherte nachdenken. Letzteres hätte dann sogar den Vorteil, dass die Beiträge bei der momentan sehr komfortablen Kassenlage sogar gekürzt werden könnten. Dies ist ein weiterer Vorteil des Umlagesystems. Egal wie düster die Prognosen ausfallen. So lange sie keine Realität sind, gibt es auch keinen Grund, die Beiträge zu erhöhen.
Posted via email from Daten zum Denken, Nachdenken und Mitdenken
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