Freiheit, Freiheit, Freiheit. Gauck kennt kein anderes Thema. Nicht die soziale Gerechtigkeit. Nicht die Finanzkrise. Nicht die Internet-Zensur. Wird er ein Präsident der Wohlsituierten? Oder lernt er, umzudenken?
Der Kandidat Joachim Gauck hat eine große Mehrheit hinter sich so sagen uns die Umfragen. In dieser Situation zu behaupten, er sei die falsche Wahl, ist zugegebenermaßen gewagt. Ich wage es dennoch, weil ich aus vielen Gesprächen weiß, dass die meisten Menschen wenig von ihm wissen. Ihre Zustimmung ist durch die Medien beeinflusst und eher emotional.
Die Wahl dieses Kandidaten zum Bundespräsidenten wird sich als schlecht erweisen, wenn er nichts dazu lernt. Darum müssen wir ihn dringend bitten. Ob er noch lernen kann, weiß ich nicht. Ich habe trotzdem in meinem kleinen Buch "Der falsche Präsident" notiert, was er lernen müsste.
Zur Finanzkrise und zu den unglaublichen Folgen der Spekulation hat er sich kaum geäußert. Dabei bräuchte er nur ein bisschen hinhören: Beispielsweise, was der französische Widerstandskämpfer und Diplomat Stéphane Hessel in seinem Manifest "Empört Euch!" beschwört. Oder wie sogar konservative Kreise über den undemokratischen Zugriff der Finanzwirtschaft auf die Politik klagen. Spitzenmanager wie der Aufsichtsratsvorsitzende von Siemens und Thyssen Krupp, Gerhard Cromme, bedauern das riskante Geschäftsgebaren der Banken. Und wenn etwas schiefgehe, müsse der Steuerzahler einspringen.
Andere Manager kritisieren laut und deutlich, dass die allgegenwärtige Spekulation die Arbeit in der realen Wirtschaft behindere. Sie sehen anders als Gauck auch die zunehmende Spaltung unserer Gesellschaft in Reiche und Arme. Crommes bitteres Fazit: "Oben werden sie immer reicher, unten herrscht im günstigsten Fall Stagnation. Ich glaube fest an das Solidarprinzip unserer Gesellschaft. Dazu müssen auch die Besserverdiener ihren Beitrag leisten."
Worin besteht die Freiheit eines Arbeitslosen?
In den Texten des kommenden Bundespräsidenten werden Sie solche ehrlichen Beschreibungen unserer Lage nicht finden. Stattdessen beschönigt der Kandidat die Lage und redet unentwegt von Freiheit. Freiheit ist ein hoher Wert. Gauck beachtet aber nicht, dass das unentwegte Predigen über Freiheit in den Augen vieler Menschen hohl klingt. Worin besteht die Freiheit eines Arbeitslosen? Worin besteht die Freiheit einer abgearbeiteten Alleinerziehenden? Worin besteht die Freiheit eines selbstständigen Kaufmanns, der wegen der monopolartigen Marktmacht der Konkurrenz in Schwierigkeiten geraten ist? Die Basis gelebter Freiheit ist wirtschaftliche Unabhängigkeit und soziale Sicherheit. Diese Zusammenhänge kennt Gauck nicht. Er kann sich nicht in die Lage von Menschen versetzen, denen es nicht gut geht.
Er wird nur der Präsident der Besserverdienenden, wenn er nicht schnell versucht, die Lebensverhältnisse der Mehrheit unseres Volkes besser kennenzulernen. Er wird der Präsident eines Landes mit über 800.000 Leiharbeitern, mit 1,36 Millionen sogenannten Aufstockern und unzähligen jungen Menschen, die sich von Praktikum zu Praktikum hangeln müssen. Kann er deren Lebenswirklichkeit noch begreifen?
Weil der kommende Bundespräsident die wirkliche Lage so schön findet, kann er auch nicht verstehen, dass junge Leute gegen die aus ihrer Sicht unwürdigen Verhältnisse protestieren. Den Protest der Occupy-Bewegung gegen die Europäische Zentralbank nennt er albern. Diese Bemerkung wie auch seine undifferenzierten Äußerungen über die 68er zeigen, dass wir mit ihm keinen Präsidenten haben werden, der zum politischen Engagement ermuntert. Das ist ausgesprochen schade.
Heinemann war jung für sein Alter
Wenn sich wie heute so wenige Menschen am politischen Geschehen beteiligen, dann darf ein Bundespräsident die Aktionen junger Menschen nicht albern nennen, selbst dann nicht, wenn ihm die Form nicht gefällt. Die Formen von 20 und 30-jährigen sind anders als die von 72-jährigen. Mit Wehmut denke ich an Gustav Heinemann. Was für ein junger Mensch war dieser eigentlich schon alte Mann!
Gauck ist eine Provokation für jene, die sich zugunsten der Verständigung zwischen Ost und West engagiert haben, übrigens auch zugunsten des DDR-Bürgers Gauck. Ich meine jene Menschen, die in der Politik, in den Kirchen, in den Medien die Vorarbeit für die Entspannungspolitik und damit auch für den Fall der Mauer geleistet haben: Gustav Heinemann, Willy Brandt, Egon Bahr, Herbert Wehner, Helmut Schmidt, Richard von Weizsäcker, Walter Scheel, Günter Gaus, Günter Grass und viele mehr. Gauck verdächtigt diese Menschen der Appeasement-Politik. Diese Unterstellung wie auch seine Kritik an der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze sind eine einzige Beleidigung der SPD und der damaligen FDP.
Wenn Joachim Gauck der Präsident möglichst aller Deutschen werden will, dann muss er einiges lernen. Wenn er dies tut, dann würden wir mit Freuden in fünf Jahren schreiben: Der richtige Präsident.
Albrecht Müller, 1973 bis 1982 Chefplaner im Bundeskanzleramt unter Willy Brandt und Helmut Schmidt, publiziert das Internetjournal Nachdenkseiten. Am Freitag erscheint sein Buch "Der falsche Präsident" (Westend Verlag, 64 Seiten, 5,99 Euro).
Posted via email from Daten zum Denken, Nachdenken und Mitdenken
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen