Noch nie war ein Bundespräsident schon vor seiner Wahl so populär wie Joachim Gauck. Nach dem ungeeigneten Vorgänger hoffen viele jetzt auf den "richtigen" Präsidenten. Albrecht Müller teilt diese Hoffnung nicht. Denn Joachim Gauck nimmt die aktuellen, großen Bedrohungen unserer Freiheit nicht ernst genug: die Macht der Finanzwirtschaft, den Abbau der sozialen Sicherheit und die Erosion der Demokratie. Gaucks Botschaft klingt wie ein lautes "Empört euch nicht!" Damit ist auch er der falsche Präsident.
Albrecht Müller zeigt, wie er doch noch der richtige werden kann. Auszug aus dem Buch
Ideologieüberschuss bei den 68ern, Angstreflexe bei der Anti-Atom-Bewegung, falsche Einschätzungen der Friedensbewegung wenn ich Gauck über Andersdenkende reden höre, kommt mir das irgendwie bekannt vor: Ressentiments wie vor vierzig Jahren in Teilen der Union.
"Die nachfolgende 68er-Generation hat den Schulddiskurs dann im Gegenzug so ausgeweitet, dass er neurotische Dimensionen annahm: Nachgeborene wurden zu Quasi-Schuldigen gemacht. Bei den Bürgern entwickelte sich daraus geringe Selbstachtung und ein vermindertes 'Ja' zur eigenen Nation." ("Rheinischer Merkur" vom 4. November 2004)
Gauck unterstellt den "68ern" eine Homogenität, die es in dieser Bewegung gar nicht gab. Da waren solche, die Marx gelesen hatten und revolutionär daherredeten. Dann gab es die vielen, die konkret über die gesellschaftlichen Probleme arbeiteten. Andere widmeten sich dem Muff und Staub an unseren Universitäten oder den Machtansprüchen und der Desinformation durch die "Bild"-Zeitung. Wieder andere beschäftigten sich mit Vietnam und dem Treiben der USA. War das so falsch?
Ähnlich oberflächlich ist Gaucks Einstellung zur Anti-Atom-Bewegung. Hier geht es nicht um Angst, sondern um die klare Erkenntnis, dass die Entsorgung nicht geregelt ist und wir viele Generationen nach uns belasten. Joachim Gauck liebt das Wort Verantwortung. Hier kann man es gut gebrauchen.
"Ich bin unglaublich allergisch gegenüber einer Politik, die maßgeblich auf Angstreflexe setzt. Das gilt auch bei anderen Themen, etwa wenn es um die Nutzung der Atomenergie geht. Wir sollen auf Aktionsformen verzichten, die auf die Angst von Menschen setzen und daraus eine Dynamik ableiten." (Sueddeutsche.de vom 1. Oktober 2010)
Gaucks Einlassungen zur Protestbewegung gegen Stuttgart 21 sind widersprüchlich. Er freut sich, dass dort alte und junge Menschen gemeinsam auf die Straße gehen, aber den Kern ihres Anliegens scheint er nicht verstanden zu haben: "Ich fand gut, dass in Stuttgart plötzlich Omis in meinem Alter zusammen mit Jugendlichen auf die Straße gingen. Meine Sorge beginnt dort, wo geregelte Verfahren gänzlich infrage gestellt werden." ("Die Zeit" vom 20. Januar 2011).
Mit Blick auf die Proteste beim Bahnprojekt Stuttgart 21 warnte Gauck vor einer Protestkultur, "die aufflammt, wenn es um den eigenen Vorgarten geht". Die deutsche Neigung zu Hysterie und Angst nannte er "abscheulich". (OTS-Meldung der "Zeit" vom 20. Januar 2011)
Nur eine allerkleinste Minderheit denkt beim Widerstand gegen Stuttgart 21 an den eigenen Vorgarten. Den meisten geht es genau um die Sache, nämlich um die Frage, ob es sinnvoll ist, einen so wahnsinnig großen Aufwand zu treiben, um ein verkehrspolitisch fragwürdiges Milliardenprojekt durchzuführen. Die meisten Demonstrierenden und Gegner des Projekts haben in der Sache sehr viel besser als die etablierten Politiker erkannt, dass die S-21-Befürworter sachfremde und andere als verkehrspolitische Motive haben. Man muss den Eindruck gewinnen, dass Joachim Gauck zwar von stärkerer Sachdebatte und von mehr Rationalität spricht, selbst aber sich nicht die Mühe gemacht hat, die Sachdebatte um Großprojekte wenigstens ein bisschen zu durchdringen.
Der Bundespräsident muss in diesem Zusammenhang vielleicht noch Folgendes lernen: Je stärker die Lobbyarbeit zugunsten solcher Projekte ansetzt und je stärker politische Korruption ins Spiel kommt, umso mehr muss man an protestierenden Menschen interessiert sein, wenn man eine sachliche Lösung anstrebt. Hier werden nicht Fortschritte verbaut, sondern im Zweifel teure Irrwege erspart.
Aus: Albrecht Müller, "Der falsche Präsident. Was Pfarrer Gauck noch lernen muss, damit wir glücklich mit ihm werden", Westend Verlag, März 2012, 64 Seiten, 5,99
Über den Autor: Albrecht Müller ist Diplom-Volkswirt, Bestsellerautor ("Die Reformlüge", "Machtwahn", "Meinungsmache") und Mitherausgeber der NachDenkSeiten. Er leitete Willy Brandts Wahlkampf 1972 und die Planungsabteilung unter Brandt und Schmidt.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen