Samstag, 1. Oktober 2011

DIE LINKE erneut geschafft, sich mehr mit sich selbst als mit ihrem politischen Auftrag zu befassen, nämlich die Interessen der [...] sozial Schwachen [...] zu befassen [via Linksnet]

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Über Stalinismus-Streit und die Partei DIE LINKE

Anmerkungen zu einer Gespenster-Debatte

m Sommer 2011 hat es DIE LINKE erneut geschafft, sich
mehr mit sich selbst als mit ihrem politischen Auftrag zu befassen,
nämlich die Interessen der Arbeiterinnen und Angestellten, der sozial
Schwachen, der Rentner und Sozialhilfeempfänger, der Kinder aus der Welt
der Armut, der durch die Reformen der Sozial- und Krankenversicherungen
Geschröpften wirksam zu vertreten. Und dies in einer Zeit, da durch die
herrschende Politik immer größere Lasten, die der anhaltenden
Weltwirtschaftskrise entspringen, auf die sozial Schwachen und
Steuerzahler abgewälzt werden, während sich die Krisengewinnler und
Spekulanten ins Fäustchen lachen. Der Entwurf für das neue
Parteiprogramm liegt vor, wurde aber, kaum dass er im Parteivorstand mit
breiter Mehrheit der Mitgliedschaft vorgelegt wurde, von verschiedenen
Seiten wieder zerredet.

Zu den Eigenheiten der Linken gehört, dass sich ihre Programmatik und
Politik stärker über theoretische Debatten und gesellschaftspolitische
Analysen herstellt, als dies bei anderen Parteien der Fall ist. Wenn man
die Linke von außen in ihrer Entwicklung behindern will, muss man diese
geistigen Findungs- und Selbstfindungsprozesse torpedieren, indem man
die einen gegen die anderen ausspielt. In diesem Sinne ist eine
Pressekampagne gegen die FDP ein Vorgang, der innerhalb des bürgerlichen
Lagers ausgemacht wird. Selbst wenn die FDP verschwinden würde, gäbe es
mindestens noch die Christdemokraten und die Grünen als bürgerliche
Parteien in diesem Lande. Dahinter stehen die handfesten Interessen
jener, denen das Land gehört. Eine Kampagne gegen die Linke dagegen, die
erreichen würde, dass sie wieder verschwindet, würde eine Situation
schaffen, in der diejenigen, denen außer ihren Händen, ihrem Kopf und
vielleicht einer kleinen Lebensversicherung nichts gehört, wieder darauf
verwiesen wären, was die anderen mit ihnen machen.

Das ist die Rolle, die der Linken historisch zukommt. Die ehemaligen
ostdeutschen Genossen, die aus der SED kommen, die ehemaligen
westdeutschen aus der SPD oder von den Grünen, der DKP etcetera und alle
anderen, auch die ganz neu Hinzugekommenen, brauchen Zeit und Kraft für
die gegenseitige Verständigung und die Formierung dieser Partei. Diese
Zeit aber will das bürgerliche Lager ihnen nicht geben. Zuerst wurde die
Partei mit angeblich falsch abgerechneten Reisespesen des Vorsitzenden
Klaus Ernst beschäftigt, dann mit einem Sommerhaus in Tirol und seinem
Porsche, anschließend mit einer an ein paar Sätze der Vorsitzenden
Gesine Lötzsch angebundenen Kommunismus-Debatte, dann mit der Frage, ob
denn die beiden ihre Vorsitzenden-Rolle ausfüllen könnten. Schließlich
folgten eine Kampagne unter der Überschrift „Antisemitismus" sowie
solche in Sachen Stalinismus, Mauerbau, Fidel Castro und Kuba - dies
Themen, die bereits in der Vergangenheit erfolgreich gegen die Partei
instrumentalisiert worden waren.

Viele Mitglieder und Sympathisanten, Wählerinnen und Wähler spürten,
dass es sich hier um eine Kampagne handelt, die auf die Zerstörung der
Partei DIE LINKE zielt und der als ganzer begegnet werden müsste. Statt
daraus politische Konsequenzen zu ziehen, fanden sich bei jedem der
aufgedrängten und/oder selbst fabrizierten Streitthemen jedoch
unterschiedliche Gruppierungen innerhalb der Partei, die bereit waren,
über die hingehaltenen Stöckchen zu springen, nicht nur einmal, sondern
immer wieder, hin und her, und beim Hüpfen vielleicht hofften, das Ganze
möge bald wieder vorbeigehen. Dass Solidarität und Verteidigung des
Gesamtprojekts DIE LINKE nötig waren, ging in etliche Köpfe nicht
hinein. Im Gegenteil, mancher witterte Morgenluft, zusätzliche
Möglichkeiten zur weiteren Austragung innerparteilicher Strömungskämpfe
zu erhalten. Es könnte für die eigene Sonderposition ja vielleicht gut
sein, den anderen - in der eigenen Partei - mit Hilfe der bürgerlichen
Presse eins auszuwischen. Was das für die Gesamtpartei bedeutet,
interessierte nicht.



* * *

Zunächst gab es eine gute Nachricht. Gesine Lötzsch hatte als
Vorsitzende der Partei DIE LINKE einen Band mit Texten zur
DDR-Geschichte herausgegeben, die im Laufe von über zwei Jahrzehnten in
der Zeitung Neues Deutschland erschienen sind: „Alles auf den
Prüfstand!" Der Band dokumentiert das Ringen von WissenschaftlerInnen
und PolitikerInnen, die der PDS angehörten oder ihr nahestanden, um die
Analyse, das Verständnis und die Einordnung der Geschichte der DDR und
zugleich um die Geschichte der kommunistischen und sozialistischen
Bewegungen im 20. Jahrhundert. Die Abfolge der Texte ist chronologisch
geordnet, so kann niemand sagen, die einen seien die Vordenker und die
anderen Nachdenker, jener sei wichtiger als diese und so weiter. Und es
beginnt mit dem vielgerühmten Referat „Wir brechen unwiderruflich mit
dem Stalinismus als System!", das Michael Schumann auf dem
außerordentlichen Parteitag der SED/PDS am 16. Dezember 1989 vortrug.
Der Band hat einen aktuellen Bezug: „Zukunft hat immer mit Geschichte zu
tun. Eine selbstbewusst mit ihren politischen Konkurrenten um den
besten gesellschaftlichen Entwicklungspfad streitende LINKE hat keinen
Grund, sich ihrer widerspruchsvollen Geschichte zu entziehen." (Gesine
Lötzsch) Und er ist gleichsam dokumentarisch, nämlich das „Woher der PDS
als einer der beiden Quellparteien der LINKEN" nachvollziehbar zu
machen, auch für jene, die aus der anderen Quellpartei, der WASG, oder
erst später zur LINKEN kamen. Zugleich steht er im Kontext der
programmatischen Debatten der Partei.

Diesen Zusammenhang hat Oskar Lafontaine besonders hervorgehoben, als er das Buch für Neues Deutschland
(13. Juli 2011) besprochen hat: Es ist ein Buch, „das zur rechten Zeit
kommt. Denn mit ihrem Grundsatzprogramm will DIE LINKE den Entwurf für
eine demokratische und sozialistische Gesellschaft im 21. Jahrhundert
vorlegen, und das kann sie nur, wenn sie die Geschichte und vor allem
die Irrtümer des Sozialismus im vergangenen Säkulum aufarbeitet." Damit
hatte Lafontaine den von Lötzsch angebotenen politischen Zusammenhang
des Buches aus der Sicht des Teils der LINKEN, der nicht aus der PDS
kommt, positiv aufgenommen und betont, dass diese Debatten der PDS ein
Beitrag für die neue Gesamtpartei sind. Diese Rezension war ein Schritt
zum weiteren Zusammenwachsen der Partei, jedenfalls konnte der
Lafontaine-Text aus der Sicht eines vorurteilsfreien Lesers sachlich und
politisch nicht anders verstanden werden.

Dann aber kam die schlechte Nachricht: Einige, vor allem frühere
PDS-Mitglieder meinten, Lafontaine unterstellen zu müssen, er habe den
Stalinismus nicht verstanden oder wolle gar „den unwiderruflichen Bruch
mit dem Stalismus" rückgängig machen - er, der ehemalige Vorsitzende der
SPD. Daran sei an dieser Stelle ausdrücklich noch einmal erinnert. Aus
seinen Reden und Texten als ein führender SPD-Politiker ließen sich
etliche Stellen finden, die ihn als Anti-Stalinisten ausweisen, als die
SED noch nicht wusste, dass sie mal PDS werden will, oder gar, dass
Oskar Lafontaine ihr je angehören könnte. Der Sprecher des forums
demokratischer sozialismus (fds), Benjamin-Immanuel Hoff, fühlte sich
bemüßigt, jene Unterstellung noch zu bekräftigen. Anschließend waberte
diese Interpretation über verschiedene linke Webseiten und verstärkte
sich selbstreferentiell. Der Vorgang erklärt sich offenbar nicht aus der
Sache an sich, sondern aus anderen Konstellationen heraus. Und über die
sollte ernsthaft gesprochen werden. Einige der damit zusammenhängenden
Punkte deutlicher zu konturieren, dazu sollen diese Anmerkungen
beitragen.



Die Machtfrage

Zunächst ist ein Blick zurück, in den Herbst 1989 nötig. Die PDS war
ein Ergebnis und einer der Akteure der Umbruchsprozesse im Herbst 1989
in der DDR. Die Macht der einst allgewaltigen Staatspartei SED war nach
der Aufdeckung der Wahlfälschungen im Frühjahr, den sich verstärkenden
Fluchtbewegungen im Sommer und Herbst und der Öffnung der Grenze in
Ungarn im September, nach den Massendemonstrationen im Oktober und
November und schließlich der Maueröffnung in Berlin am 9. November 1989
rasch erodiert. Zur gleichen Zeit hatte sie aber noch zwei Millionen
Mitglieder; die saßen in allen staatsleitenden und Verwaltungsorganen,
Betrieben, wissenschaftlichen und anderen Einrichtungen; die
militärischen und Sicherheits-„Organe" bestanden fort und es gab
Millionen Waffen im Land (von der Anwesenheit der „Gruppe der
sowjetischen Streitkräfte in Deutschland" ganz zu schweigen). Die
Gewährleistung eines friedlichen Verlaufs der im Ausgang zunächst
offenen Veränderungen hing davon ab, ob alle entsprechenden Akteure in
der Lage waren, sich auf friedliche, gewaltfreie und politische
Verfahren zu verständigen.

Am 18. Oktober 1989 war Erich Honecker von seinem Posten als
Generalsekretär der SED abgelöst und durch Egon Krenz ersetzt worden, am
18. November wurde die neue Regierung unter Hans Modrow (SED) gebildet.
Ihr gehörten auch weiterhin Minister aller anderen „alten" politischen
Parteien der DDR an, darunter Lothar de Maizière (CDU) als
stellvertretender Ministerpräsident. Kurz darauf wurde in einem
mehrstufigen Verfahren zwischen der SED sowie den „alten" Parteien, den
Kirchen und den neugegründeten Parteien und Bürgerbewegungen vereinbart,
dass ein Runder Tisch eingerichtet wird, an dem über die Zukunft des
Landes gesprochen und Vorstellungen über ein neues Wahlgesetz, die
Durchführung demokratischer freier Wahlen und eine Verfassungsreform
entwickelt werden sollten - die CDU-Zeitung Neue Zeit meldete am 21. November, dass dies eine Initiative der Kirchen war, die SED-Zeitung Neues Deutschland
am 23. November 1989, es sei eine „Anregung der SED" gewesen. Am 28.
November fand dann eine Sitzung des „Demokratischen Blocks" statt -
jener Einrichtung, in der die feste Zusammenarbeit der fünf Parteien
unter „Führung der SED" unter Hinzuziehung der „Massenorganisationen"
seit 1950 institutionalisiert war und in der zu Wahlen stets die
„Gemeinsamen Listen" der „Nationalen Front" der DDR fixiert worden
waren. Auf Antrag von Lothar de Maizière wurde dies die letzte Sitzung
des Blocks. Am 1. Dezember 1989 beschloss dann auf Antrag aller zehn
Fraktionen die Volkskammer, das Parlament der DDR, den in der
DDR-Verfassung verankerten Führungsanspruch der SED zu streichen.

Damit waren bereits vor der Konstituierung des zentralen Runden Tisches,
die am 7. Dezember 1989 erfolgte, wesentliche Voraussetzungen für das
Arbeiten am Runden Tisch - die früheren Blockparteien saßen dort als
selbständige politische Größen und nicht als Anhängsel der SED - und für
freie Wahlen geschaffen worden - alle Parteien waren gleichermaßen
Konkurrenten in den kommenden Wahlkämpfen. Das bedeutete aber zugleich,
dass sie sich alle wechselseitig in diesem Prozess als politische
Subjekte anerkannt hatten: die SED und die „alten" Parteien die „neuen",
und alle anderen ihrerseits die SED. Insofern ist alles spätere Gerede,
man hätte die SED verbieten sollen und so weiter, ahistorisch und der
damaligen Situation unangemessen. Mit der Gesamtkonstruktion von
Regierung aller Parteien - ab 5. Februar 1990 waren auch Vertreter der
am Runden Tisch vertretenen „neuen" Parteien als Minister ohne
Geschäftsbereich in die „Regierung der nationalen Verantwortung" unter
Hans Modrow eingetreten - und Volkskammer, die jeweils gemäß
fortgeltender Verfassungs- und Rechtsordnung der DDR die für die
gesellschaftlichen und politischen Veränderungen erforderlichen Gesetze
machte, sowie Rundem Tisch, an dem diese Änderungen jeweils politisch
vereinbart wurden, war unter der Perspektive freier Wahlen in der
Übergangszeit die politische und tatsächliche Stabilität in der DDR
gesichert worden.

Die SED konnte ihrerseits Zuspruch in freien Wahlen nur erhalten, wenn
ihr Agieren den Anforderungen der Lage gemäß war und von den Wählern
entsprechend gewürdigt werden konnte, wenn sie also Teil des
Umbruchsprozesses war und sich mit den Umbrüchen in der Gesellschaft
ihrerseits änderte. Für einen Teil ihrer Mitglieder galt dies als
Einzelpersonen oder Gruppen schon vorher, hier ging es um die Partei als
Organisation, als sozialer Organismus. Dazu gehörte, dass
Ministerpräsident Modrow eine Partei hinter sich brauchte, um die
Regierungsfähigkeit und damit Ruhe und Frieden im Lande, Versorgung der
Bevölkerung, die Funktionsfähigkeit der Wirtschaft, der
wissenschaftlichen Einrichtungen, des Gesundheitswesens und der Schulen
und so weiter  sowie die Einbindung der DDR in die internationalen
Beziehungen gewährleisten zu können. Damit war unter den Bedingungen der
DDR die Variante, die Partei einfach aufzulösen und als eine andere,
mit anderem Namen, anderem Programm und so weiter  neu zu gründen, wie
es in anderen, ehemals staatssozialistischen Ländern gemacht worden war,
politisch ausgeschlossen.

Die Partei allerdings musste programmatisch und organisatorisch auf die
neue Situation eingestellt werden. Unter dem Druck anhaltender
Massendemonstrationen, vor allem von Mitgliedern der SED, waren am 3.
Dezember 1989 nicht nur Egon Krenz, sondern auch das erst am 8. November
neu gewählte Politbüro und das ganze Zentralkomitee zurückgetreten. Da
die Einberufung des außerordentlichen Parteitages der SED auf den 8. und
9. Dezember vorgezogen worden war, wurde die Parteitagsvorbereitung in
die Verantwortung eines Arbeitsausschusses gelegt, dem unter anderem
Gregor Gysi, Lothar Bisky und Wolfgang Berghofer angehörten. Dies war
ein „Arbeitsausschuss zur Vorbereitung des außerordentlichen
Parteitages", er verstand sich ausdrücklich nicht als
quasi-interimistisches Zentralkomitee, sondern als Gruppe von der Basis
Beauftragter.

Im Kern der Sache musste es um ein grundsätzlich anderes Partei-,
Gesellschafts- und Machtverständnis gehen. „Stalinismus" ist ein dafür
gern verwendeter Begriff, der allerdings eine wesentliche Seite bewusst
oder unbewusst ausblendet: die Wurzeln liegen bereits bei Marx und
Lenin. Der Begriff der (bürgerlichen) Demokratie war ursprünglich
negativ besetzt, die Machtfrage in den Mittelpunkt gerückt und aus dem
Verständnis, dass die Abschaffung des Kapitalismus und seine Ersetzung
durch eine neue Gesellschaft auf der Grundlage der proletarischen
Revolution der Vollzug historischer Gesetzmäßigkeit ist, folgten
Messianismus und ein Avantgarde-Verständnis: die Partei war die bewusste
Vorkämpferin der „neuen Welt", nicht nur wegen des Einsatzes ihrer
Mitglieder, sondern weil sie die Trägerin dieses historischen Wissens
war. So herrschte die Vorstellung, es müsste gewissermaßen nach der
Eroberung der Macht im Namen und für „die Arbeiterklasse" diese Macht
gegenüber der schlichten Zahl, dem Mehrheitsprinzip bei freien Wahlen
abgeschottet werden, damit die ungebildeten Massen nicht gegen die
Partei und „ihre eigenen Interessen" stimmen konnten. Die Herrschaft des
jeweiligen Politbüros über die realsozialistischen Gesellschaften,
Reglementierung aller Bereiche der Gesellschaft, am Ende Unterdrücklung,
Ermordung politischer Gegner als „Feinde" und Gulag waren Konsequenzen
dessen. Der Bruch mit „dem Stalinismus" meint in der Substanz den Bruch
mit jener Linie des Denkens und Handelns sozialistischer und
kommunistischer Parteitradition, die auf Messianismus, „führende Rolle"
und avantgardistisches Selbstverständnis baut. Mit anderen Worten:
„Demokratischer Sozialismus ist nicht nur Eintreten für einen
Sozialismus, der den heutigen Bedingungen entspricht und diesen Namen
wirklich verdient. Er ist auch Wirken für die Demokratie. Das hat den
vollständigen und endgültigen Bruch mit den alten Vorstellungen von der
Macht, ihrer Errichtung, Aufrechterhaltung und Handhabung zur
Voraussetzung. Gerade nach den tragischen Erfahrungen des Scheiterns der
realsozialistischen Gesellschaft kann eine Entscheidung für
grundsätzlich demokratisches Verhalten nicht taktischer Natur sein. Die
Menschheit ist nicht gegen ihren Willen zu beglücken. Es kann in der
Gesellschaft nur soviel sozialistische Elemente geben, wie es dafür
demokratische Mehrheiten gibt." (1)



Zur Entstehung und zum historischen Ort der Schumann-Rede



Die sorgfältigste und am präzisisten mit Erklärungen und Fußnoten
untersetzte Herausgabe der Rede: „Wir brechen unwiderruflich mit dem
Stalinismus als System!" hat vor bereits sieben Jahren Wolfram Adolphi
besorgt. Nachdem Michael Schumann durch einen tragischen Unfall aus dem
Leben gerissen war, galt es, seine für die Partei und für die
sozialistische Theorieentwicklung in Deutschland nach 1989 wichtigen
Reden und Texte zusammenzuführen und für die weiteren Debatten zur
Verfügung zu stellen. (2) In der entsprechenden Publikation enthalten
ist auch ein späterer Text von Schumann, der den Entstehungsprozess
jenes Referats kommentiert: „Vor fünf Jahren: ‚Wir brechen
unwiderruflich mit dem Stalinismus als System!‘ Reminiszenzen und
aktuelle Überlegungen". Aus beidem, der Kommentierung Adolphis zu dem
Referat und den Reminiszenzen, ergibt sich ein ziemlich klares Bild von
der Entstehungsgeschichte und dem politischen Kontext jenes Referats.

Um den außerordentlichen Parteitag der SED hatte die Mitgliedschaft
wochenlang gekämpft; die Krenz‘sche Führung wollte zwar eine
„Erneuerung", aber keine Abgabe der Macht und deshalb auch diesen
Parteitag ursprünglich nicht. Sie wurde dabei dann von der oben
dargestellten politischen Entwicklung im Lande und innerhalb der Partei
überrollt. So kam dem Parteitag für die Partei und für die Mitglieder
eine zentrale Rolle zu: im Verhältnis der Partei zu den im Gange
befindlichen gesellschaftlichen Umwälzungen und für das weitere
Schicksal der Partei selbst. Da Egon Krenz und das Zentralkomitee am 3.
Dezember das Handtuch geworfen hatten und am 8. Dezember der Parteitag
eröffnet werden musste, war alles gleichzeitig und in kürzester Frist zu
tun, verantwortlich war der schon erwähnte Arbeitsausschuss. Der hatte
wiederum unterschiedliche Arbeitsgruppen geschaffen, die für die
einzelnen Teile des Parteitages beziehungsweise die einzelnen Punkte der
Tagesordnung verantwortlich waren. Der Titel des Referats, wie es dem
Parteitag auf seiner zweiten Session am 16. Dezember 1989 vorgelegt
wurde, lautete: „Zur Krise in der Gesellschaft und zu ihren Ursachen,
zur Verantwortung der SED". Der Titel: „Wir brechen unwiderruflich mit
dem Stalinismus als System!" wurde über die Erstveröffentlichung in Neues Deutschland
am 18. Dezember 1989 gesetzt. Er entstammt dem Referat selbst; der
Vortragende Michael Schumann bezieht sich auf die erste Session und
sagt: „Unser Parteitag hat schon am ersten Beratungstag mit Nachdruck
erklärt: Wir brechen unwiderruflich mit dem Stalinismus als System."

Die durch den Arbeitsausschuss eingesetzte Arbeitsgruppe wurde von Heinz
Vietze geleitet, dem kurz zuvor gewählten 1. Sekretär der
SED-Bezirksleitung für den Bezirk Potsdam - die überkommenen
Organisationsstrukturen bestanden ja Ende 1989 alle noch. Von den
Mitgliedern des Arbeitsausschusses gehörten der Arbeitsgruppe außerdem
an Ulrich Peck, der ebenfalls neugewählte 1. Sekretär der
SED-Bezirksleitung Rostock, und Markus Wolf, zu jener Zeit Pensionär,
der jahrelange Chef der DDR-Abwehr im Ministerium für Staatssicherheit
und schon zuvor intern als Kritiker der Politik Honeckers bekannt. Zu
den Eigenheiten jener Zeit gehörte es, dass jeder jene Personen
hinzuzog, die ihm bekannt waren und denen er vertraute. Das Referat
wurde durch eine Arbeitsgruppe erarbeitet, der der Historiker Günter
Benser vom SED-Institut für Marxismus-Leninismus, die Historiker Kurt
Finker und Kurt Libera aus Potsdam und Karl-Heinz Jahnke aus Rostock
sowie der Philosoph Michael Schumann und die
Gesellschaftswissenschaftlerin Gisela Schott aus Potsdam angehörten.
Zuarbeiten leisteten Manfred Banaschak, Chefredakteur der theoretischen
Zeitschrift des ZK der SED „Einheit", Hermann Wandschneider von der
SED-Parteihochschule, Rolf Hoth vom Amt für Nationale Sicherheit (vorher
MfS) sowie Hans Marnette von der Pädagogischen Hochschule Potsdam. Dies
waren die entsprechenden Angaben in der Parteitags-Broschüre von 1990.
In seinen „Reminiszenzen" teilt Michael Schumann außerdem mit, dass er
den Philosophen Erich Hahn das Referat hatte lesen und kommentieren
lassen - Hahn war seit Anfang der 1970er Jahre Direktor des Instituts
für marxistisch-leninistische Philosophie der Akademie für
Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED und Vorsitzender des Rates
für philosophische Forschungen der DDR, seit Anfang der 1980er Jahre bis
zu dessen Rücktritt auch Mitglied des ZK der SED.

Aus heutiger Sicht betrachtet war das Referat Ausdruck des geistigen und
politischen Zustandes der Partei und zugleich des Willens damals
wichtiger und Profil bestimmender Akteure, einen Beitrag zur Bewältigung
der Gesellschaftskrise der DDR und der politischen Krise der Partei zu
leisten. Es hatten weder von außen kommende Kräfte noch die politischen
Apparate der DDR beziehungsweise SED diese Arbeit leisten können,
sondern das tat der selbstkritische, sozialistisch bleiben wollende,
weiter an ein sozialistisches Ideal glaubende Teil der SED und ihrer
neugewählten Funktionäre, die aus der Sicht der Mitglieder durch die
vergangenen Jahre nicht politisch oder moralisch belastet waren, und
andere, die bereit waren, sich an diesem Erkenntnis- und
Willensbildungsprozess zu beteiligen.

Zu der Entscheidung, dass er dann mit dem Vortrag des Referats
beauftragt wurde, schreibt Schumann: „Eigentlich wäre es die Aufgabe
Heinz Vietzes als hauptverantwortliches Mitglied des Arbeitsausschusses
gewesen, auf dem Parteitag zu referieren. Aber er spürte, dass das
‚Chruschtschow-Referat‘ (Damit spielt er auf das so genannte
Geheimreferat des damaligen sowjetischen Parteiführers Nikita
Chruschtschow zur Abrechnung mit Stalin auf dem XX. Parteitag der KPdSU
1956 an. Anm. - E.C.) der SED-Geschichte in der Situation des
Jahres 1989 nicht sichtbar mit Personen der Nomenklatura verbunden
werden durfte, wenn man auf Wirkung und Glaubwürdigkeit bedacht war." So
kam es zu dem Vorschlag, dass Michael Schumann, der gewählter
Parteitagsdelegierter aus Potsdam und in der politischen Szenerie der
DDR bis dahin ziemlich unbekannt war, dieses Referat vortragen sollte.
Er machte Vorschläge zu dem bereits vorliegenden Text und nahm aktiv an
den weiteren Diskussionen zur Fertigstellung teil. „Die Diskussionen, an
denen ich - oft auch im kleineren Kreis - beteiligt war, wurden
wesentlich von Markus Wolf geprägt. Er trat freundlich und bestimmt auf.
Seine unter uns unumstrittene Autorität hielt die Debatte trotz des
extremen Zeitmangels und zunehmenden äußeren politischen Drucks in
sachlichen und konstruktiven Bahnen und führte sie zu maßvollen
Urteilen. Ich glaube, dass ihm wie keinem anderen unter uns bewusst war,
was in dieser Situation gesagt werden musste und dem Parteitag
zugemutet werden konnte. Mit einem Satz: Er war der spiritus rector des
Unternehmens." In der vergleichsweise kurzen Debatte des Parteitages
fand das Referat, so wie es Schumann vorgetragen hatte, allgemeine
Zustimmung und wurde angenommen.

In der Rückschau, den „Reminiszenzen", merkt Schumann an: „Natürlich
hatte das Referat auch Mängel, die einem nach Jahren besonders ins Auge
fallen... Obwohl wir im Referat strukturelle, systembedingte Defizite der
realsozialistischen DDR-Gesellschaft ansprachen und an verschiedenen
Stellen grundsätzliche Kritik am stalinistisch geprägten Politik- und
Parteiverständnis der SED übten, ist diese - entscheidende - Seite der
Auseinandersetzung  nicht mit der nötigen Radikalität durchgeführt
worden. Damit meine ich besonders die mangelnde Analyse der historischen
und sozialen Wurzeln des realsozialistischen Herrschaftssystems und
staatsbürokratischen Vergesellschaftungstyps. Das hing aus meiner Sicht
vor allem damit zusammen, dass die Problemstellungen und Resultate der
linken und demokratischen Kritik am sowjetisch geprägten Gesellschafts-
und Staatssystem, die eine lange Tradition hat, nicht hinreichend
berücksichtigt wurden. Freilich ist dabei immer zu bedenken, dass wir
kaum Zeit hatten, uns der theoretischen und theoriegeschichtlichen
Voraussetzungen unserer Arbeit zu versichern." Der Text ist ein Kind
seiner Zeit und seiner Umstände. Zugleich steht vor den heutigen Linken,
ihrer Partei und den ihr nahe stehenden Intellektuellen die Aufgabe,
die Arbeit an der weiteren Analyse des Realsozialismus beziehungsweise
der Eigenarten des „stalinistischen" Herrschaftssystems weiter
fortzusetzen. Würde der Text allerdings so, wie er ist, einfach in der
„Schatzkammer der heiligen Schriften" deponiert, würde man weder seinem
Charakter noch den Intentionen seiner Schöpfer gerecht - zumindest nicht
in dem Sinne, wie Michael Schumann sie akzentuiert hat.

Zur historischen Bedeutung für die Veränderung der Partei stellt
Schumann schließlich fest: „Trotz dieser und sicher auch weiterer
Mängel: In der Parteimitgliedschaft hat das Referat nachhaltig positiv
gewirkt. Es wurde breit veröffentlicht und umfassend diskutiert. Es war
ein Dokument des deutlichen Willens der Masse der SED-Mitglieder zur
demokratischen Erneuerung, zum radikalen Bruch mit der stalinistischen
Traditionslinie in der SED. Zweifellos gehörte es zu jenen Ergebnissen
des Parteitages, die die Transformation der zusammenschmelzenden
Staatspartei zu einer demokratischen sozialistischen Partei wesentlich
beförderten." (3) In diesem Sinne war das Referat Ausdruck und
Festschreibung des antistalinistischen „Gründungskonsenses" der PDS. Auf
der zweiten Session des Parteitages am 16./17. Dezember 1989 erfolgte
denn auch die Umbenennung in SED/PDS, „Partei des Demokratischen
Sozialismus". Im Januar 1990 entfällt die „SED" im Namen, die Partei ist
dann die PDS.



Der Standort



Der neue Name ist die Konsequenz des neuen programmatischen Ansatzes.
Der „unwiderrufliche Bruch mit dem Stalinismus als System" ist der
Ausgangspunkt. Das aber bedeutet nicht, sich an der allgemeinen
Verteufelung der DDR zu beteiligen. Sozialistische Politik im 21.
Jahrhundert kann nicht so tun, als wäre sie völlig neu und unbefleckt
zur Welt gekommen. Das Erbe muss aber stets als Ganzes angetreten
werden, da kann man sich nicht einzelne Teile herauspicken. In diesem
Sinne ist der „Bruch mit dem Stalinismus" ein Kernstück und zugleich
Verbindung zwischen Geschichtsverständnis und Programmatik. Sehr
nachdenklich hatte Schumann auch darauf aufmerksam gemacht: „Politisch
wird es darauf ankommen, wie man sich heute zu den Grund- und
Gründungspositionen der PDS verhält. Haben wir im Dezember 1989 mit dem
stalinistisch geprägten Gesellschafts-, Politik- und Parteiverständnis
der SED radikal gebrochen und begreifen wir übereinstimmend diesen Bruch
als Voraussetzung für das gemeinsame Verständnis des demokratischen
Sozialismus (und seiner Antizipation durch das politische Leben der PDS
im Hier und Heute)? Oder geht es lediglich darum, dass sich ein
zukünftiger Sozialismus aufgrund geänderter Umstände ein Mehr an
Demokratie wird leisten können? Die historische Debatte schlägt in die
programmatische um und vice versa. Nicht zuletzt an unserem
Geschichtsbewusstsein entscheidet sich, ob wir als politische Linke eine
Zukunft haben." (4)

Ganz in diesem Sinne haben in den Leitantrag des Parteivorstandes zum
Programm der Partei DIE LINKE an den Parteitag, der im Oktober 2011 in
Erfurt stattfindet, auch entsprechende Aussagen zu den historischen
Erfahrungen im Osten Deutschlands und zum Bruch mit dem Stalinismus
Eingang gefunden. Aus gegebenem Anlass soll das hier ausführlich zitiert
werden. Im Abschnitt „Woher wir kommen, wer wir sind" heißt es: „Im
Osten Deutschlands prägte der Sozialismusversuch die Lebensgeschichte
der Menschen. Viele Ostdeutsche setzten sich nach 1945 für den Aufbau
einer besseren Gesellschaftsordnung und für ein friedliebendes,
antifaschistisches Deutschland ein. Mit der Verstaatlichung der
Großindustrie, Banken und Versicherungen sowie der Bodenreform wurden
Eigentumsverhältnisse geschaffen, die eine Ausrichtung der
wirtschaftlichen Tätigkeit auf das Gemeinwohl und den Schutz der
Beschäftigten gegen Ausbeutung sichern sollten... Zu den Erfahrungen der
Menschen im Osten Deutschlands zählen die Beseitigung von
Erwerbslosigkeit und die wirtschaftliche Eigenständigkeit der Frauen,
die weitgehende Überwindung von Armut, ein umfassendes soziales
Sicherungssystem, ein hohes Maß an sozialer Chancengleichheit im
Bildungs- und Gesundheitswesen sowie in der Kultur sowie die
Umstrukturierung der Landwirtschaft in genossenschaftliche und
staatliche Betriebe. Das Prinzip ‚Von deutschem Boden darf nie wieder
Krieg ausgehen‘ war Staatsraison. Auf der anderen Seite standen
Erfahrungen staatlicher Willkür und eingeschränkter Freiheiten, wie der
Aufbau einess taatlichen Überwachungsapparates gegen die eigene
Bevölkerung." Dies ist eine sachliche, kritische Darstellung der
Wirklichkeiten in der DDR, die die realen Erfahrungen der Menschen im
Osten Deutschlands positiv aufnimmt, das Erbe annimmt und nicht einer
allgemeinen Verteufelung der DDR das Wort redet.

Dann folgt der ausdrückliche Verweis auf den außerordentlichen Parteitag
der SED/PDS von 1989: „Es ist deutlich geworden: Ein
Sozialismusversuch, der nicht von der großen Mehrheit des Volkes
demokratisch gestaltet, sondern von einer Staats- und Parteiführung
autoritär gesteuert wird, muss früher oder später scheitern. Ohne
Demokratie kein Sozialismus. Deshalb formulierten die Mitglieder der
SED/PDS auf einem außerordentlichen Parteitag im Herbst 1989: ‚Wir
brechen unwiderruflich mit dem Stalinismus als System‘. Dieser Bruch mit
dem Stalinismus gilt für DIE LINKE ebenso. Die Geschichte der DDR, auch
die der SED, auf den Stalinismus zu verkürzen, ist jedoch unhistorisch
und unwahr. Auch in der DDR gab es in unterschiedlichen Etappen eine
lebendige Sozialismus-Diskussion, eine reiche kulturelle und geistige
Landschaft, großartige Filme, Romane, bildende Künste, Musik und eine
engagierte Vermittlung von Kunst, Kultur, Bildung in die Bevölkerung.
Der Bruch mit dem Stalinismus betrifft nicht nur den Osten, sondern hat
auch für den Westen hohe Bedeutung. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und
Gewaltenteilung sind unverzichtbar." (5)Diese Aussagen sind eindeutig
und präzise. DIE LINKE hat sich bewusst auch in die Traditionslinie
gestellt, die in der SED/PDS mit dem von Michael Schumann am 16.
Dezember 1989 vorgetragenen Referat begründet wurde. Jede Unterstellung,
dies sei nicht der Fall, versucht die Aussagen im Programmentwurf zu
verdrehen oder zu ignorieren. Zugleich heißt das: Jeder, der sich für
dieses Programm im Sinne des vorliegenden Entwurfs ausspricht, stellt
sich zugleich in diese Traditionslinie.



Lafontaines Rezension



In der bereits zitierten Rezension des von Gesine Lötzsch
herausgegebenen Buches: „Alles auf den Prüfstand!" betont Oskar
Lafontaine, wie gesagt, den Kontext zur Programmdebatte der LINKEN. Die
Aussage: „Denn mit ihrem Grundsatzprogramm will DIE LINKE den Entwurf
für eine demokratische und sozialistische Gesellschaft im 21.
Jahrhundert vorlegen", lässt sich ganz gewiss nicht im Sinne eines
verkappten Stalinismus interpretieren. Der Fluchtpunkt ist das Programm
und damit auch die positive Übernahme des „unwiderruflichen Bruchs mit
dem Stalinismus als System". Selbst rein semantisch: das Wort
„demokratisch" kommt vor „sozialistisch" und rangiert gleichsam auf
selber Augenhöhe. Insofern lässt sich dieser Ansatz nicht so
interpretieren, als würde die Möglichkeit, die „Demokratie" im Namen des
„Sozialismus" zu suspendieren - was ja der Kern eines „Stalinismus als
System" ist -, überhaupt in Erwägung gezogen.

In diesem Sinne betont Lafontaine weiter: „Überzeugte Sozialisten müssen
sich immer wieder der Frage stellen, warum im Namen einer großartigen
Menschheitsidee eine Gesellschaft, in der die freie Entwicklung eines
jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist, so viele
Verbrechen begangen wurden. Dabei muss sie aufzeigen, dass das Streben
nach Gleichheit nicht notwendig zur Zerstörung der Freiheit führt,
sondern dass Gleichheit und Freiheit einander bedingen." Auch wenn an
dieser Stelle ein Redakteur falsch gekürzt hat („muss sie" passt nicht
zu den „überzeugten Sozialisten" im vorhergehenden Satz), die Aussage
ist eindeutig: Freiheit und Gleichheit setzen sich gegenseitig voraus
und sind gleichrangig. Das ist demokratischer Sozialismus und nichts
anderes.

Dann allerdings macht Lafontaine einen Schnitt und fordert: „In dieser
Auseinandersetzung darf DIE LINKE den aufrechten Gang nicht verlieren."
Das heißt nicht mehr und nicht weniger, als dass die Programmatik linker
Politik sich nicht zuerst aus der Kritik am untergegangenen
Staatssozialismus speist, sondern aus der Kritik an den jetzigen, real
existierenden kapitalistischen Verhältnissen. Die Frage nach dem
Sozialismus entspringt den Widersprüchen, Problemen und Verbrechen des
Kapitalismus. Der Realsozialismus war die falsche Antwort. Aber damit
ist die Frage nicht erledigt. Mit anderen Worten: Der Bruch mit dem
Stalinismus ist nicht der Grund für das Streben nach einer Gesellschaft
jenseits des Kapitalismus, sondern dieser entspringt dem Kapitalismus
selbst und der Kritik an ihm. Erst wenn es um die Frage nach dem Wie
dieser anderen Gesellschaft geht und um den Weg dorthin, tritt der
grundsätzliche, unwiderrufliche Bruch mit dem Stalinismus als System auf
die Tagesordnung, weil es kein Ziel gibt, das jedes Mittel heiligt, und
gerade deshalb Freiheit und Gleichheit gleichrangig sind. Dann merkt
Lafontaine an, dass die Notwendigkeit der Aufarbeitung des Stalinismus
„den aus dem Westen kommenden Mitgliedern der Partei nur noch schwer zu
vermitteln ist". Das ist eher eine Tatsachenfeststellung, denn eine
Wertaussage; tatsächlich ist der „unwiderrufliche Bruch" vor über
zwanzig Jahren biographisch eine Angelegenheit jener Mitglieder Partei,
die bereits zuvor in der SED waren, und die neuen Mitglieder, die nach
2005 oder nach 2007 in DIE LINKE eintraten, taten dies nicht wegen jenes
Bruchs, sondern weil sie die real existierende kapitalistische und
zugleich demokratisch verfasste Gesellschaft hier und heute verändern
wollen. Der „Bruch mit dem Stalinismus" gehört zu den vorgefundenen
Voraussetzungen dieser Partei und ihrer Politik. Und Lafontaine macht
geltend, dass man die innerparteiliche Auseinandersetzung „mit der
befürchteten Fehlentwicklung einer kleineren Partei im parlamentarischen
Regierungssystem" nicht mit der „Analyse der Gesellschaft des
Staatssozialismus" verwechseln dürfe.

Diejenigen, die hier einen verkappten Stalinismus bei Lafontaine
unterstellen, übersehen den geltend gemachten Kontext: Die Verfassungs-
und Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland ist dem Agieren der
„kleineren Partei im parlamentarischen Regierungssystem" ausdrücklich
vorausgesetzt und nicht infrage gestellt, während die stalinistische
Staatspartei über Verfassung, Recht und Ordnung steht und über diese
extralegal verfügt. Ja noch mehr: Wer den „unwiderruflichen Bruch mit
dem Stalinismus als System" immer wieder als Voraussetzung jeglichen
Agierens der sozialistischen Partei auch heute zur Kernfrage erklärt und
gleichsam als Monstranz vor sich herzutragen bestrebt ist, geht
insgeheim, vielleicht unbewusst davon aus, dass es in der Verfügung der
Partei liegt, ob sie stalinistisch sein will oder nicht, dass also am
Ende die Partei über die Gesellschaft verfügen kann, nicht die
Gesellschaft über den politischen Platz der Partei entscheidet. Mit
anderen Worten: Es ist Ausdruck fortbestehender scheinsozialistischer
Omnipotenzphantastereien, dass nur die Selbstbindung der Partei an den
„endgültigen Bruch" sie vor dem Stalinismus in sich selbst hindern
könne, weil sonst niemand dazu in der Lage wäre. Tatsächlich jedoch hat
die Geschichte, haben die Völker in der DDR und im Osten Europas diese
Entscheidung 1989 längst getroffen. Diese historische Entscheidung ist
sozialistischer Politik heute vorausgesetzt. Eine entsprechende
„Fehlentwicklung einer kleineren Partei" heute würde „im
parlamentarischen Regierungssystem" von diesem geahndet und vom Wähler
bestraft. Wir leben unwiderruflich in diesem Lande in einer
nach-stalinistischen Zeit. Selbst eine sich weiter ausprägende und
vertiefende Weltwirtschaftskrise wird in diesem Deutschland des Jahres
2011 keine stalinistische Partei nach oben spülen. Und DIE LINKE ist
keine, weil sie in Programm und Satzung eine demokratisch-sozialistische
Partei ist und einem jeglichen „Stalinismus" unversöhnlich
gegenübersteht.

Damit befindet sich Lafontaine klar in Übereinstimmung mit Schumann, der
über den historischen Ort des „unwiderruflichen Bruchs mit dem
Stalinismus als System" ja gerade sagte, dass er der Bruchpunkt in der
„Transformation der zusammenschmelzenden Staatspartei zu einer
demokratischen sozialistischen Partei" war. Für Lafontaine ist die
demokratische sozialistische Partei ja gerade die Gegebenheit, die
natürliche Daseinsform der linken Partei. Selbst Kungelrunden,
Hinterzimmerabsprachen, parteiinterne Intrigen, Strömungskämpfe und
anderes mehr, was die Schattenboxer der selbsternannten Basisdemokratie
immer wieder gern gegen die real existierende Linke ins Feld führen,
sind Kinderkram im Vergleich zur omnipotenten Gewalt eines
Generalsekretärs oder einer Politbürokratie, den Befehl geben zu können,
jemanden einfach „sofort zu ergreifen und zu erschießen". Der
gescheiterte Intrigant, der heute beleidigt die Linkspartei wieder
verlässt, weil er die angestrebte Position in der Sphäre der Politik
nicht erreichte, aus welchen Gründen auch immer, kehrt in sein
bürgerliches Heldenleben zurück, vielleicht frustriert, aber unversehrt.
Der auf Geheiß Lenins, Stalins, Maos oder Rákosis Erschossene war tot.
Das macht einen Unterschied auf's Ganze.

Lafontaine nimmt dann aus dem Schumann-Referat, wie es - unkommentiert -
in dem von Lötzsch herausgegebenen Buch enthalten ist, Punkte, die er
als Strukturelemente des Stalinismus als System identifiziert, und
stellt dar, dass diese auch, wenngleich in anderer Form, in der heutigen
kapitalistischen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung aufzufinden
sind. Damit will er offenbar die oben ausgeführte Grundproblematik
bekräftigen, dass heutige linke Programmatik aus der Kapitalismuskritik
und nicht aus der Stalinismusanalyse abzuleiten ist. Die
Argumentationsfiguren mag man missglückt finden oder auch nicht, es ist
eher eine Katechismus-Übung als ein Beitrag zur Gesellschaftsanalyse.
Und ob eine positiv gemeinte Buchrezension in einer Tageszeitung der
geeignete Ort ist, solch katechetische Didaktik vorzuführen, ist eine
weitere Frage. Lafontaine allerdings zu unterstellen, das sei
Verharmlosung des Stalinismus und seiner Verbrechen, ist absurde
Demagogie.

Schließlich folgt bei Lafontaine der Satz: „Michael Schumanns Definition
des ‚Stalinismus als System‘ zeigt, dass die Selbstverpflichtung einer
kleineren Partei, im parlamentarischen Regierungssystem eine solche
Gesellschaftsordnung nicht mehr anzustreben, eher auf
Verständnislosigkeit stoßen dürfte." Auch dies wieder eine
Tatsachenfeststellung, nicht eine Wertaussage. Die Staats- und
Rechtsordnung ist der Partei vorausgesetzt, nicht umgekehrt. Ein
Landtagskandidat der Linken, der meinen würde, erst müsste er auf dem
Platz vor dem Hauptbahnhof von Hannover öffentlich erklären, er wolle
den Sozialismus auch für Niedersachsen, verpflichte sich aber, einen
Gulag nicht einzurichten und keine Waffen zu verteilen, landet eher in
einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt als im Landtag.

Auch theoretische, Programm- und Geschichtsdebatten haben ihre Zeit und
ihren Ort. Was aus den historischen Erfahrungen der SED und der PDS zu
folgern war, hat Eingang in den Entwurf des Parteiprogramms für DIE
LINKE gefunden. Das ist unverzichtbar, wichtig und zeitgemäß. Dies zu
instrumentalisieren, für innerparteiliche Richtungskämpfe, persönliche
Profilierung oder was auch immer, schadet dagegen der Partei und ihrer
weiteren Entwicklung.



Die erste Staffel der Umdeutung



Am 13. Juli wurde Oskar Lafontaines Rezension in Neues Deutschland
publiziert. Über zwei Wochen später, in der Wochenend-Ausgabe vom
30./31. Juli 2011, erschien dann ein halbseitiger Artikel unter der
marktschreierischen Überschrift: „Das ist Geschichtsrevisionismus". Nach
Lafontaines „Stalinismus-Erläuterungen" rege sich „Unmut in Teilen der
Linkspartei". Am Ende handelte es sich zunächst um zehn Unmutige aus
Brandenburg und Sachsen-Anhalt, darunter allerdings einige bekannte
Namen. Der Artikel referierte nochmals Lafontaines Text und brachte dann
Auszüge aus einer Erklärung dieser zehn. In der Mitte des Arikels
prangte ein altes DPA-Bild, das Lafontaine auf Faschingsart mit
Napoleon-Hut auf dem Kopf zeigt. Das meint: Der zu klein geratene
Napoleon von der Saar nörgelt wieder. So heißt es auch im Text des
Artikels, Lafontaine fehle „hinreichendes historisches Verständnis" und
er habe wenige Tage nach Vorlage des Programmentwurfs den
„Richtungskampf wieder aufgemacht". Der Wortlaut der Erklärung stand
nicht in der Zeitung, konnte aber auf der Webseite des Neuen Deutschland
abgerufen werden.

Betrachten wir zunächst einmal diese Erklärung. Der Titel lautet: „Eine
notwendige Erwiderung". (6). Einleitend heißt es, Oskar Lafontaine habe
mit seinem Text „unserer Partei" eine „große Provokation... aufgebürdet".
Deshalb seien „die in Oskar Lafontaines Text vertretene Position zum
Stalinismus als System wie zum Umgang der LINKEN und ihrer Quellpartei
PDS damit... aus unserer Sicht mit einer demokratischen Linken nicht
vereinbar." Es heißt: „in dieser Frage nun trennen uns Welten", „nicht
aus wahltaktischen, sondern aus grundsätzlichen Erwägungen" sei „Umkehr"
geboten.

Hier sei zunächst darauf hingewiesen, welche Sprache da gewählt wurde:
Es ist der hohe Ton der „Heiligen Schrift". Wenn in der
Luther-Übersetzung Jesus in seiner ersten Predigt sagt: „Tut Buße, das
Himmelreich ist nahe herbeigekommen!" (Matthäus 4, 17), so meint dies in
einem moderneren Verständnis: „Umkehr" im Sinne von Abkehr vom Weg der
Sünde und Rückkehr auf den Pfad der Tugend, den Pfad Gottes und des
wahren Glaubens. (7) Oder in einer anderen Interpretation: „Gott hat
geboten, dass wir umkehren sollen. Das ist ein wichtiger Punkt im
Erlösungsplan. Wenn wir einsehen, dass wir umkehren müssen, dann können
wir durch die Macht des Sühnopfers Christi eine Herzenswandlung erleben,
so dass wir lieber Gutes als Böses tun möchten. Dann segnet der Herr
uns mit Freude, Reinheit, Selbstwertgefühl und größerem Glauben." (8) In
einem solchen Sinne meint die Erklärung, der von Lafontaine umrissene
Weg sei der der Sünde, während die Rückkehr auf den Pfad der Tugend
dringend geboten sei. Dies aber sei der, den diese Erklärung meint.

Zur Begründung werden drei Punkte angeführt. Zunächst heißt es: „Erstens
hat es für uns rein gar nichts mit intellektueller Redlichkeit zu tun,
Strukturelemente einer geschlossenen Gesellschaft, der ‚Diktatur des
Proletariats‘ samt ‚führender Rolle der marxistisch-leninistischen
Partei‘ und einer planwirtschaftlich geführten Staatsökonomie, formal
auf eine parlamentarische Demokratie und eine fest in die Weltökonomie
integrierte Marktwirtschaft, auf eine wettbewerbsorientierte offene
Gesellschaft zu übertragen." Dieser Satz ist in dreierlei Hinsicht
fragwürdig. Zunächst fällt der Passus mit der intellektuellen
Redlichkeit auf. Die Frage, ob unter einer vergleichenden,
wissenschaftlich begründeten Perspektive verschiedene sozialhistorische
Erscheinungen, Elemente oder Systeme miteinander verglichen werden
können, ist keine Frage der intellektuellen Redlichkeit, sondern der
wissenschaftlichen Methode. Die kann richtig oder falsch sein, unredlich
ist sie nicht; Unredlichkeit hat mit Plagiaten, absichtlich falschen
Zahlenreihen in wissenschaftlichen Arbeiten, Diebstahl geistigen
Eigentums und so weiter. zu tun, nicht aber mit der Sinnhaftigkeit einer
analytischen Vorgehensweise. Wenn die Schreiber des Papiers meinten,
die Anwendung der Strukturelemente des Stalinismus als System auf die
heutigen kapitalistischen Verhältnisse sei falsch, hätten sie das sagen
müssen. Unredlichkeit unterstellt böse Absicht. Wenn die Absicht aber
war, mittels dieses Vergleichs - richtig oder falsch - zu begründen,
dass die sozialistische Programmatik aus der Kapitalismuskritik
abgeleitet werden muss, warum sollte das für einen sozialistischen
Politiker oder Theoretiker mit einer bösen Absicht verbunden sein? Oder
war die Unterstellung der bösen Absicht die böse Absicht? Allerdings
räumt das „Für uns" scheinbar auch einen Rückzugsweg ein: es muss für
andere, gar für die ganze Parteiöffentlichkeit oder die Allgemeinheit ja
nicht so sein. Das subjektivistische „Für uns" ist sachlichen
Argumentationen nicht zugänglich, es muss sich nicht der Prüfung in der
Welt der objektiven Tatsachen oder auf das Wirkliche zielenden
Begründungen stellen. So bleibt die Invektive in der Welt des Meinens,
ist aus dieser aber durch sachliche Argumente nicht zu vertreiben.

Wenden wir uns nun der Frage nach der Richtigkeit oder Falschheit des
Vergleichs zu, der Lafontaine zum Vorwurf gemacht wird. In der
Politikwissenschaft befassen sich ganze Wissenschaftszweige seit
Jahrzehnten mit diesem Thema. In einem Buch zur vergleichenden
Politikwissenschaft, das sich ausdrücklich als „Lehrbuch" versteht und
den wissenschaftlichen „Mainstream" darzustellen bestrebt ist, schreibt
Jürgen Hartmann: „Betrachtet man das weite, heterogene Feld komparativer
Arbeiten und komparativ ansetzender Länderstudien, so lässt sich
folgendes Anliegen umreißen: Es geht darum, Probleme und Strukturen
selbst in exotisch anmutenden fremden Gesellschaften mit universell
anwendbaren beziehungsweise für wechselnde Kontexte brauchbaren
Vorstellungen, Metaphern und Definitionen zu beschreiben, die auf
Phänomene der eigenen Erfahrung bezogen werden können." Der
Gegenstandsbereich der vergleichenden Politikwissenschaft ist immer der
Gesellschaftsvergleich. (9)

In einem fast klassisch zu nennenden Politikwörterbuch schrieb Dieter
Nohlen im Stichwort: „Vergleichende Analyse politischer Systeme":
„Zentrales Untersuchungsobjekt... ist das Politische System als Ganzes und
in seinen Teilen, die horizontal und vertikal staatlichen Einheiten und
der vorpolitische gesellschaftliche Raum (Parteien, Verbände etc.). Das
Untersuchungsfeld schließt - entsprechend einem systemtheoretischen
Verständnis - die sozioökonomische und soziokulturelle Umwelt des
politischen Systems mit ein." Und weiter: „Der Vergleich gewinnt
insofern eine substantiellere Bedeutung für die Teildisziplin (Gemeint
ist die vergleichende Politikwissenschaft als Teildisziplin der
Politikwissenschaft. Anm. - E.C.), als theoretische Konzepte
entwickelt wurden, auf die gestützt der interkulturelle Vergleich -
synchron und diachron - möglich und fruchtbar wurde." (10) In diesem
Sinne ist Lafontaines Vergleich ein interkultureller (realsozialistische
Gesellschaften - bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft) auf einer
diachronen Ebene (vor 1989 - 2011). Ungewöhnlich aus
politikwissenschaftlicher Sicht ist nur, dass die analytischen Elemente,
die für das Verständnis des „Stalinismus" entwickelt wurden, auf die
demokratische, bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft von heute
angewendet werden, und damit die frühere Perspektive der westlichen
Politikwissenschaft gleichsam umgekehrt wird. Vielleicht meint ja
„Umkehr" auch, dass man diese Perspektive normativ unterbinden will.
Aber weshalb sollten sich Linke an solcher Unterbindung beteiligen,
nachdem die regierenden Politiker und die Mainstream-Wissenschaft uns
zwanzig Jahre lang erklärt haben, es sei völlig normal, die DDR mit dem
NS-Regime zu vergleichen, während gerade der interkulturelle Vergleich
zwischen Bundesrepublik Deutschland und DDR geflissentlich ausgeblendet
wurde?

Schauen wir noch auf das Stichwort: „Systemvergleich" von Gert-Joachim
Glaeßner, so finden wir: „Gegenstand des politikwissenschaftlichen
Systemvergleichs ist die Analyse unterschiedlicher politischer und
sozialökonomischer Ordnungen, ihrer Ziele und der Mittel der
Zielrealisierung, der politischen und gesellschaftlichen Institutionen
und Strukturen, der formalen und informellen Entscheidungsprozesse, der
Gruppen politischer Handlungsträger, der sozialen Strukturen und ihrer
Auswirkungen auf die Politik sowie der politisch-gesellschaftlichen
Problemlagen und ihrer politischen Bewältigung. Man kann zwei Formen des
Systemvergleichs unterscheiden: a) Intersystemare Vergleiche
untersuchen divergierende sozialökonomische und politische Systeme
(Ost-West-Vergleich). b) Intrasystemare Vergleiche analysieren
Gemeinsamkeiten und Unterschiede innerhalb eines Systemtyps." Hier sei
ausdrücklich noch einmal festgehalten: Der intersystemare Vergleich,
also der unterschiedlicher politischer Systeme, gehört seit Jahrzehnten
zu den üblichen Untersuchungsgegenständen der Politikwissenschaft. In
diesem Sinne hat Lafontaine nichts getan, was nicht viele andere bereits
vor ihm getan haben, und viele nach ihm ebenfalls tun werden. Bei
Glaeßner heißt es weiter: „Eines der zentralen Probleme jedes
Systemvergleichs ist die Frage nach den Vergleichsmaßstäben. Die
Konkordanzmethode fragt nach den Gemeinsamkeiten in den
unterschiedlichen Systemen... Die Differenzmethode stellt die Unterschiede
der Systeme in den Mittelpunkt. Sie fragt nicht nach dem Grad der
Ähnlichkeit, sondern stellt sie einander gegenüber." (11) In der
Politikwissenschaft ist es Konsens, dass es keine allgemeingültigen
Regeln dafür gibt, wo die Kriterien, Parameter und Fragestellungen des
Vergleichs herkommen. Sie können normativ, aus politischen, moralischen
oder ethischen Erwägungen, aus politischen Theorien oder auch aus
Analyseelementen der vergleichenden Regierungs- oder Institutionenlehre
abgeleitet sein; man kann auch die Funktionselemente des einen
politischen Systems zum Ausgangspunkt der Betrachtung eines anderen
machen. Nichts anderes hat Lafontaine getan. Und aus dem
grundsätzlichen, sozusagen systemischen Unterschied zweier politischer
Systeme folgt nicht, dass man nicht einzelne ihrer Funktionselemente
vergleichen kann; daraus ergibt sich keine Gleichsetzung auf der
systemischen Ebene. Jeder Erstsemester-Student der Politikwissenschaft
lernt bereits in den Einführungsseminaren an der Universität, dass
vergleichen nicht mit gleichsetzen zu verwechseln ist. Von einer
„formalen Übertragung" von Strukturelementen des einen Systems auf das
andere, hier des Stalinismus auf die jetzige Gesellschaft, bei
Lafontaine kann keine Rede sein. Wie historisch und vergleichend
erklären nicht entschuldigen ist, ist vergleichen nicht in einen Topf
werfen, im Gegenteil. Politikwissenschaftlich betrachtet gibt es gegen
Oskar Lafontaines Vergleichen keinen sinnvoll begründbaren Einwand.

Bleibt zu dem als „Erstens" zitierten Satz aus der „Erklärung" die
dritte Frage, die nach der Charakterisierung der heutigen Verhältnisse.
Die Denkfigur von den „offenen" und den „geschlossenen" Gesellschaften
nach Karl Popper und ihre Erklärungsreichweite sollen hier unbeachtet
bleiben. Ich meine die Charakterisierung der heutigen Gesellschaft als
„eine parlamentarische Demokratie und eine fest in die Weltökonomie
integrierte Marktwirtschaft, ...eine wettbewerbsorientierte offene
Gesellschaft". Sehen wir uns zunächst an, welche Charakteristik im
Entwurf des Parteiprogramms der LINKEN vorgenommen wird: „Der
Kapitalismus ist nicht das Ende der Geschichte, sondern eine Etappe der
Menschheitsentwicklung, in der sich zwar viele Hoffnungen der Aufklärung
erfüllten und eine enorme Steigerung der menschlichen Produktivkräfte
stattfand, die aber auch massenhafte Verelendung, Völkermord und
unvorstellbare Kriege über die Menschheit brachte. Heute, da der
Kapitalismus zu einem globalen System geworden ist, treibt sein Raubbau
an Mensch und Natur in eine globale, die menschliche Zivilisation
bedrohende Krise. Wir sind davon überzeugt, dass den vielfachen
Krisenszenarien nur durch eine Überwindung des kapitalistischen
Ausbeutungssystems, eine Veränderung der Produktions- und Lebensweise
und eine Veränderung des Verhältnisses von Mensch und Natur
entgegengewirkt werden kann. Der Kapitalismus kann überwunden werden,
wenn es gelingt, Mehrheiten zu gewinnen für einen Aufbruch zu einer
anderen Art zu arbeiten und zu leben." (12) Vor diesem Hintergrund ist
deutlich, dass die in der Erklärung enthaltene Schönschreibung der
gegenwärtigen Verhältnisse nicht auf dem Boden jener Kapitalismusanalyse
steht, die im Entwurf des Parteiprogramms vorgenommen wird.

Nun ist eine Interpretation der Gesellschaft von 1990 als in Sachen
liberaler Freiheitsrechte fortschrittlicher zu sein, als es die
realsozialistischen Verhältnisse bis 1989 waren, unter einer
geschichtsphilosophischen Perspektive durchaus möglich (eine
entsprechende Passage findet sich auch in meinem Text von 1990 [13]),
nur ist der Sachstand in Sachen Freiheitsrechte in der Bundesrepublik
2011 nicht mehr der von 1990 - Stichwort Asylrecht, Stichwort
Sicherheitsgesetze nach dem 11. September 2001 - und vor allem darf
diese geschichtsphilosophische Position nicht gegen die Klarheit der
Kapitalismusanalyse ausgespielt werden. Genau dies aber tun die Autoren
jener Erklärung. So heißt es in dem nächsten Satz, der auf den eben
zitierten folgt: „Der Zweck erscheint uns durchsichtig: Die heutige
Realität wird durch die Gleichsetzung mit dem Vergangenen diskreditiert,
wer im Heute - verglichen mit dem Vergangenen - historischen
Fortschritt erkennt, soll ideologisch abgekanzelt werden." Hier wird
zunächst wieder Lafontaine subjektivistisch etwas in die Schuhe
geschoben, was recht eigentlich eine tatsächliche und programmatisch
relevante Differenz zum Parteiprogramm-Entwurf ist, die in den real
existierenden Verhältnissen begründet liegt. Die muss auch ausgesprochen
werden. Die Aussage von dem größeren Fortschritt heute ist durch den
Inhalt des Schumann-Referats 1989 nicht gedeckt. Sie wurde bereits seit
Anfang der 1990er Jahre immer mal wieder in die parteipolitische und
programmatische Debatte gebracht, sie war aber auch in der PDS nicht
mehrheitsfähig. Es blieb stets eine Minderheitenposition, die sich
allerdings immer als besonders „reformerisch" verstand. Insofern bleibt
jetzt der Eindruck, dass die ganze Lafontaine-Beschimpfung nur dem Zweck
dient, diese These wieder in Umlauf und sozusagen gleichrangig mit der
Kapitalismus-Kritik wieder auf den Tisch zu bringen, nachdem sie in den
Programmentwurf nicht Eingang gefunden hat.

Der zweite Punkt der Erklärung gegen Lafontaines Text lässt genau diesen
Zweck deutlich hervortreten: „Zweitens ist für uns unübersehbar, dass
mit diesem Text wenige Tage nach Vorlage des Programmentwurfs an einer
zentralen Stelle der Richtungskampf wieder aufgemacht wurde. Wir lesen
erneut eine harte Polemik gegen die so genannten Reformer und vor allem
gegen die Grundsubstanz dessen, was die PDS unter ihrer Führung aus der
DDR und dem Scheitern des Realsozialismus gelernt hatte." Auch hier
wieder die Schreibtaktik des „Für uns", so dass sachliche
Argumentationen gegen die gemeinte Einschätzung eigentlich von
vornherein ausgeschlossen sind. Interessant zunächst der Hinweis, dass
es in der PDS erstens eine „Führung" gab - und folglich auch Geführte -
und dass zweitens dies eine der „so genannten Reformer" war.
Wahrscheinlich ist das ja das eigentliche Problem der Initiatoren dieser
Erklärung, dass in der neuen, größeren LINKEN eine solche „Führung"
nicht mehr besteht, weil: die Verhältnisse, die sind nicht so. Dafür
aber ist nicht Lafontaine verantwortlich, im Gegenteil. Das von den
„sogenannten Reformern" geführte Parteiprojekt PDS begann sich 2002
seinem Ende zuzuneigen. Wer das damals bewusst verfolgt hatte, erinnert
sich an das Haupt-Wahlplakat zur Bundestagswahl 2002, als die vier
damals verantwortlichen Politikerinnen und Politiker in vier
verschiedene Richtungen aus dem Plakat herausschauten: Schon die
Symbolik machte deutlich, dass sie sich untereinander nichts zu sagen
hatten, geschweige denn dem Wähler. Am Ende zog die PDS nicht wieder als
Fraktion in den Deutschen Bundestag ein. Nur Petra Pau und Gesine
Lötzsch hatten ihr Direktmandat errungen, und Herr Thierse (SPD), der
damalige Bundestagspräsident, ließ sie auf Strafstühlen am Rande des
Plenums sitzen - das mit den Linken sollte in diesem Lande sichtbar ein
Ende haben. Mit der Gründung der WASG im Westen und dann vor allem dem
Hinzutreten Oskar Lafontaines und der Reaktivierung Gregor Gysis gab es
eine neue Linke in Deutschland, die auch für die PDS ein zweites Leben
bedeutete. Soll „der Mohr" Lafontaine nun seine Schuldigkeit getan haben
und gefälligst im Saarland verschwinden? Wer über eine neue „Führung"
durch die „sogenannten Reformer" nachdenkt, provoziert die
Wiederherstellung der Situation von 2002, das heißt die Wiederholung des
Scheiterns, was die Schwächung der Partei DIE LINKE einschließt und
voraussetzt.

Psychologisch gesehen birgt der Satz zugleich zwei bezeichnende
Eingeständnisse. Die Rezension Lafontaines enthält gar keine Polemik
gegen die „sogenannten Reformer", sondern eine Argumentation in der
Sache - Strukturelemente des Stalinismus als System und die heutigen
Verhältnisse, wie oben erörtert - und eine Aufforderung für ein besseres
gegenseitiges Verständnis der Parteimitglieder Ost und West, zu dem
Gesine Lötzsch‘ Buch beitragen möge. Wenn das als „harte Polemik gegen
die so genannten Reformer verstanden wird", spricht das nicht gegen
Lafontaine, sondern gegen jene, die das so verstehen (wollen). Was haben
sie gegen das bessere gegenseitige Verständnis? Oder geht es doch um
die Wiederherstellung des Führungsanspruchs? Hinzu kommt: Wenn es nicht
Lafontaine war, der mit seinem Text „an einer zentralen Stelle den
Richtungskampf wieder aufgemacht" hat, dann waren es die Initiatoren
dieser Erklärung mit ihrem Text. Das heißt, es geht ihnen gar nicht um
den „Stalinismus als System" selbst, sondern um eine
Instrumentalisierung des Themas und der Rede von 1989 in den jetzigen
Richtungskämpfen. Es sind also die „so genannten Reformer", die den
Kompromiss des Parteiprogramm-Entwurfs wieder zu öffnen bestrebt waren
oder sind, um bestimmte Themen, die eigentlich erledigt schienen, wieder
neu in die Debatte einzuführen, darunter das von der angeblichen
Fortschrittlichkeit des jetzigen Kapitalismus.

Der Rest der Erklärung ist Moralisieren und Beschwören von
Heilslegenden. So heißt es weiter unter Punkt Zwei, das unter der
Führung der sogenannten Reformer aus der DDR und dem Scheitern des
Realsozialismus Gelernte werde nun „als überflüssig unter den heutigen
Bedingungen und bestenfalls zeitweilig von Belang dargestellt. Damit
wird für uns nicht nur die Leistung all derer diskreditiert, die den
sehr schmerzhaften Weg gegangen sind, die Geschichte unserer Partei
anzunehmen, die historische Fehlentwicklung konsequent zu überwinden.
Nein, wir finden das ist Geschichtsrevisionismus." Der Satz ist im Kern
historisch falsch und der Rest ist schwammig. Zunächst das Falsche. Die
„historische Fehlentwicklung konsequent" überwunden haben die Menschen
in der DDR, die gegen die SED-Führung demonstriert haben und dann die
Mauer von Osten aus aufdrückten. Daran waren „einfache" Mitglieder der
SED beteiligt, aber nicht die Partei war die Vorkämpferin. Der Parteitag
im Saal hat sich lediglich gemüht, daraus politische Konsequenzen zu
ziehen, und das hat er angesichts der Umstände damals ziemlich auf der
Höhe der Zeit getan. Die konsequente Überwindung der Verhältnisse aber
der SED/PDS zuzuschreiben, ist eine Wiederholung der Legendenbildung, an
der sich im Oktober/November 1989 bereits Egon Krenz versucht hatte.
Nun das Unklare. Was ist denn der „sehr schmerzhafte Weg", der da
gegangen wurde? Die Verhältnisse in der DDR, der Untergang der DDR oder
das „Annehmen" der Geschichte? Ersteres hat mit den Verhältnissen und
ihren Folgen zu tun, beim letzten geht es um einen psychologischen
Vorgang, sozusagen posttraumatische Wiederauferstehung. Der
„schmerzhafte Weg" klingt irgendwie nach Golgatha und Aufopferung. Wir
bewegen uns hier aber nicht im Heilsgeschehen, sondern in der Sphäre der
Politik. Und da die Sachaussagen verquast und unklar sind, ist auch die
Sprache unangemessen, und die Pointe, Lafontaines inkrimierter Text sei
„Geschichtsrevisionismus", ist nicht begründet, jedenfalls nicht mit
den Textteilen in dieser Erklärung.

Der dritte Punkt der Erklärung ist dann nur noch subjektivierend. All
das, was Lafontaine geschrieben habe, sei „unter Missbrauch von Namen,
Autorität und Lebensleistung von Michael Schumann" geschehen. Zunächst
hat sich Lafontaine in seinem Text zur Lebensleistung Schumanns nicht
geäußert. Er hat die Rede über den „unwiderruflichen Bruch mit dem
Stalinismus als System" zitiert. Mit Zitaten zu argumentieren, heißt
sich auf einen Autor zu beziehen und einen konkreten Text. Das hat
zunächst mit der Lebensleistung des Autors nichts zu tun, sondern
lediglich mit der Qualität des Textes beziehungsweise des Zitats.
Insofern ist eine Lebensleistung logisch und dem Sinne nach nicht gegen
eine Zitation in Stellung zu bringen. Und beim Zitieren den Namen des
Autors zu benutzen, ist wissenschaftliche Redlichkeit, alles andere ist
Plagiat. Daher kann ein solches Sich-auf-einen-Autor-Beziehen schwerlich
Missbrauch sein. Die Unterzeichner der Erklärung aber „empfinden"
Lafontaines Bezug auf Schumann „schlichtweg als infam". Das meint,
Lafontaine sei infam. Muss man jetzt und künftig jemanden fragen, wenn
man sich auf jenes Referat von 1989 beziehen will? Wer ist der
Gralshüter und entscheidet darüber, wie jemand dieses Referat zitieren
darf?

Schließlich tritt uns jenes Referat auch noch als handelndes Subjekt
entgegen: „es hatte für eine ganze Partei das Tor zur demokratischen
Erneuerung des Sozialismus aufgestoßen". Dieser Satz ist insofern
interessant, als er darauf abhebt, dass es mit dem Referat von 1989 um
die „demokratische Erneuerung des Sozialismus" gegangen war - dem Sinn
und der Satzlogik nach den der DDR. Damit bestätigen in diesem dritten
Punkt die Erklärer die Aussage in der Rezension Lafontaines, dass es mit
dem Schumann-Referat „um die Fehlentwicklung der gesamten Gesellschaft
im Staatssozialismus, nicht um die innere Struktur einer Partei"
gegangen sei, was ihm seine Kritiker ja gerade vehement vorgeworfen
haben. Allerdings wurde es ja bekanntlich nichts mit der demokratischen
Erneuerung des Sozialismus in der DDR, sondern es kamen die deutsche
Vereinigung und der real existierende Kapitalismus des vereinten
Deutschlands. Aber immerhin die Erneuerung der Theorie vom Sozialismus,
die demokratisch sein muss. Das aber ist kein Privileg der
Erklärungsschreiber oder der „so genannten Reformer", sondern dazu
gehören nun auch Oskar Lafontaine und alle Mitglieder und Sympathisanten
der LINKEN, die auf dem Boden der derzeitigen Programmatik und der
Satzung der LINKEN stehen. Es sollten nicht Spaltungen erfunden werden,
wo keine sind.

Die Fortsetzung



Benjamin-Immanuel Hoff, Bundessprecher des Forums Demokratischer
Sozialismus (FDS) und Staatssekretär in der Berliner Landesregierung,
gab dann seinerseits eine Erklärung zu der Erklärung ab (datiert auf den
1. August 2011, www.forum-ds.de). Er spricht in Bezug auf die oben
besprochene Erklärung die ganze Zeit von „Thomas Falkner und anderen",
was offensichtlich meint, dass aus der Sicht des FDS Falkner der
eigentliche Autor ist. Da aber eine Falkner-Erklärung nicht durch die
Presse gegangen wäre, brauchte es einige bekannte Namen und außerdem
eine Mindestanzahl von Unterschriften, es waren die erwähnten zehn, um
von „Unmut in Teilen der Linkspartei" sprechen zu können. Hoff
interpretiert auf neun Seiten die anderthalbseitige Erklärung. (Alles,
was sich inhaltlich von der Erklärung nicht unterscheidet oder die
Argumentationsfiguren nicht erweitert, soll hier unbeachtet bleiben.)

Hoff teilt „die Kritik von Falkner u.a. vollinhaltlich", seine
Einwendungen seien „vollkommen berechtigt", Lafontaine werde „zu Recht
des Geschichtsrevisionismus geziehen". Es müssten aber einige Facetten
hinzugefügt werden. So handele es sich um einen erneuten Versuch
Lafontaines, „die Erkenntnisse der vormaligen PDS und der sie tragenden
politischen Formation - der Reformer/-innen, heute insbesondere im forum
demokratischer sozialismus (fds) beheimatet - infrage zu stellen, kurz
Geschichts- und Positionsrevisionismus zu betreiben". Das ist sehr offen
gesprochen. Die Erkenntnisse der vormaligen PDS sind mit denen der „sie
tragenden Formation" in eins gesetzt, das heißt bewahrenswert sind nur
die Positionen der „Reformer", die bei Hoff nicht einmal „so genannte"
und ohne Anführungsstriche geschrieben sind, wie bei Falkner, sondern
eben „die Reformer" (die weibliche Form ist hier stets mitgemeint).
Alles andere, was es in der PDS gab, etwa die „Kommunistische Plattform"
oder das „Marxistische Forum", werden von vornherein nicht mitgedacht
und als Teil des Gesamterbes ausgeschlossen. Erbe der PDS ist nur, was
die Reformer darunter verstehen. Sie haben einen
Alleinvertretungsanspruch in Bezug auf das Erbe der PDS. Dies aber ist
der wirkliche Geschichtsrevisionismus. Auch wenn die „reformerischen"
Positionen programmatisch oft ein Übergewicht hatten, bestimmten sie
doch nicht durchweg die PDS. Es sei nur an die Friedensfrage und den
Parteitag von Münster im Jahre 2000 erinnert. Zugleich wäre die Frage zu
stellen, ob nicht mit „tragender Formation" dieser
Alleinvertretungsanspruch bei Hoff noch schärfer formuliert ist, als mit
„Führung" bei Falkner.
Und das fds versteht sich als Erbe dieses Reformertums, das heißt wenn -
wie oben erörtert - die Wiederherstellung der „Führung" innerhalb der
Partei durch die „so genannten Reformer" der Kern der Anwürfe gegen
Lafontaine ist, so versteht Hoff das FDS als die Verkörperung dessen in
der LINKEN heute. Das heißt mit dem FDS existiert - nach Hoff - eine
Formation innerhalb der LINKEN, deren Selbstverständnis es ist, in der
Partei eine Führungsrolle haben zu sollen oder zu wollen. Und der Kern
des Geschichtsrevisionismus ist Positionsrevisionismus. Wenn wir
wiederum, wie oben bei der Falkner-Erklärung herausgearbeitet,
feststellen, dass zwar Lafontaine die Brechung des Konsenses unterstellt
wird, diese aber in der Sache mit der Erklärung und den dahinter
stehenden Positionierungen erfolgt ist, so muss hier klar gesagt werden:
das fds hat die Debatte um Geschichtsrevision angezettelt, um eine
Revision von inhaltlichen Positionen herbeizuführen. Bei Hoff werden
dann auch in der Tat etliche aufgezählt: „Kritik überzogener
Verstaatlichungsperspektiven", „staatliche Planungseuphorie", „keine
Klarheit, welches Staats- und Gesellschaftsverständnis die LINKE hat".

Der angebliche Stalinismus wanderte dann durch weitere Bekundungen in
Zeitungen und die Welt des Internets. Einmal heißt es, Politiker der
LINKEN würden sich „ohne jede geistige Mühe, unter hedonistischem
Verzicht auf wissenschaftliche Arbeit sich zu komplizierten
philosophischen und historischen Problemen zu äußern wagen". Auch hier
wird Lafontaines Text zum Buch, herausgegeben von Lötzsch, als Beitrag
zur Stalinismus-Analyse angegangen. In all diesen Debatten haben sich
viele vor den Karren des Lafontaine-Prügelns spannen lassen.
Wahrscheinlich haben sie nicht einmal gemerkt, dass sie dabei vor einen
machtpolitischen Karren gespannt wurden, den andere lenkten. Der oben
erwähnte Mathis Oberhof schreibt auf seiner Webseite von „Lafontaines
Stalinismus-Verharmlosung", die ein „Tiefpunkt der De-Moralisierung der
LINKEN" sei, und teilt am Ende mit, er sei nun aus der LINKEN
ausgetreten.

* * *



Sich in einer Partei zu engagieren, muss jede oder jeder stets selbst
entscheiden. Es gibt aber nur die real existierende LINKE, die wir
jetzt haben, oder es wird keine parteipolitisch organisierte Linke in
Deutschland geben. Das wollen die anderen Parteien, und den Herrschenden
und Regierenden im Lande würde das gut in den Kram passen. Am Ende aber
wird es auch keine parteipolitische Strömung geben, die gestärkt aus
einer Schwächung oder Spaltung der Partei hervorgehen könnte. Entweder
alle Strömungen und Richtungen kommen miteinander aus und arbeiten
gemeinsam an der Partei DIE LINKE und ihrer Zukunft, oder die Partei
wird zerrissen. Wer strömungspolitisch einen Führungsanspruch innerhalb
der Gesamtpartei stellt, stellt sie in Frage und wird sie schwächen. Das
auf Oskar Lafontaine Einschlagen hat etlichen bürgerlichen Medien
willkommenes Material geliefert. Aus der Sicht der Partei war diese
Stalinismus-Debatte die falsche Debatte zum falschen Zeitpunkt zum
falschen Gegenstand und gegen die falsche Person. Am Ende aber zielte
sie vielleicht auch gegen die Vorsitzende Gesine Lötzsch. Sie hatte
schließlich das Buch herausgegeben, das die Rezension zur Folge hatte,
an der die Anwürfe fest gemacht wurden.

Anmerkungen:



(1) - Erhard Crome: Radikaler Bruch mit den alten Vorstellungen von
der Macht (Neues Deutschland, 1. September 1990), in: Gesine Lötzsch
(Hrsg.): Alles auf den Prüfstand!, Verlag Neues Deutschland, Berlin
2011, S. 32



(2) - Wolfram Adolphi (Hrsg.): Michael Schumann. Hoffnung PDS. Reden,
Aufsätze, Entwürfe 1989-2000. Mit einem Geleitwort von Lothar Bisky,
Rosa-Luxemburg-Stiftung: Texte Bd. 12, Karl-Dietz-Verlag, Berlin 2004



(3) - Ebenda, S. 96ff.



(4) - Ebenda, S. 111



(5) - Antragsheft 1, Zeilen 298-341



(6) -
http://www.neues-deutschland.de/artikel/203265.eine-notwendige-erwiderun....
Die Erklärung ist unterschrieben von Helmuth Markov, stellvertretender
Ministerpräsident sowie Finanzminister in Brandenburg und ehemaliger
Landesvorsitzender der PDS, Ralf Christoffers, Brandenburgischer
Wirtschaftsminister und ebenfalls ehemaliger Landesvorsitzender der PDS,
Kerstin Kaiser, Fraktionsvorsitzende der LINKEN im Brandenburgischen
Landtag, und Angelika Klein, Landtagsabgeordnete der LINKEN in
Sachsen-Anhalt, sowie Achim Bittrich, Thomas Falkner, Katja Haese, Lutz
Kupitz, Kurt Libera und Mathis Oberhof.



(7) - http://www.matthias-muba.de/Themen/Busse.html



(8) - Mormonwiki.com, Stichwort: „Umkehr"



(9) - Jürgen Hartmann: Vergleichende Politikwissenschaft. Ein Lehrbuch, Campus Verlag, Frankfurt a. M./ New York 1995, S. 16



(10) - Pipers Wörterbuch zur Politik 1, Teilband 2 (N-Z), 3. Auflage, Piper Verlag, München/ Zürich 1989, S. 1077f.



(11) - Ebenda, S. 1014f.



(12) - Antragsheft 1, Zeilen 923-936



(13) - Alles auf den Prüfstand!, S. 31





30.09.2011
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