Wir spielen arbeiten. Sechs Monate Bewerbungstraining:
Wie Erwerbslose geregelte Tätigkeit üben sollen
Von Olaf-Michael Ostertag
[via Neues deutschland]
http://www.neues-deutschland.de/artikel/811028.wir-spielen-arbeiten.html
Leise sirren die Computer. Dicht an dicht nebeneinander wie in der Schule sitzen Erwachsene und starren auf Bildschirme. Auf der Etage verteilen sich vier Großraumbüros. Sie gehen vom Flur links ab, nach rechts liegen die verglasten Einzelbüros. Konzentrierte Geschäftigkeit, hier und da ein Schwätzchen, ab und zu Lachen aus der Teeküche.
Hier arbeitet eine große Firma, die zahlreiche Filialen hat. Die Firma behauptet stolz, Marktführer zu sein. Was wird hier hergestellt? Bewerbungen.
Die Jobcenter in Berlin wie anderswo in Deutschland sind verpflichtet, Menschen, die Geld für ihren Lebensunterhalt von ihnen beziehen, schnellstmöglich an einen »Arbeitgeber« im »ersten Arbeitsmarkt« zu vermitteln. Jeder Sachbearbeiter hat Vorgaben, wie stark er die »Hilfebedürftigkeit« seiner »Fälle« zu verringern hat. Gelingt das nicht, findet er sich bald selbst auf der anderen Seite des Schreibtisches als »Kunde« des Jobcenters wieder. Auch die Arbeitsverträge von Sachbearbeitern sind häufig prekär.
Die Beratungsarbeit, also die vom Gesetzgeber definierte Kernaufgabe der Bundesagentur für Arbeit, wird deshalb »outgesourct«. Viele Beratungsunternehmen sind im Umfeld der Jobcenter und ihrer Förderprogramme entstanden, Spötter nennen das die »Arbeitslosenindustrie«. Hier sind die Hartz-IV-Beziehenden nicht »Kunden«, sondern Ware. Rohstoff. Die Beratungsunternehmen sind auf stets frischen Nachschub angewiesen, den sie durch Schulungen, Maßnahmen, Qualifizierungen und Beschäftigungstherapien schleusen können.
So werde auch ich geschleust. Durch ein Bewerbungstraining. Sechs Monate lang. Meine Sachbearbeiterin im Jobcenter geht nämlich davon aus, dass ich nur deshalb keinen Arbeitsplatz finde, weil ich mich nicht richtig bewerbe. In der Beratungsfirma habe ich einen »Coach«, der mir schon am ersten Tag sagte: »Eine so perfekte Bewerbung wie Ihre habe ich noch nie gelesen.« So unterschiedlich können die Auffassungen sein.
Die über 100 Menschen an den Computerplätzen sind unter - laxer - Aufsicht verpflichtet, den Arbeitstag damit zu verbringen, Bewerbungen zu schreiben. Über die Bewerbungen und das Sozialverhalten der »Gecoachten« werden Statistiken für das Jobcenter geführt. Das Ganze soll sich anfühlen, als wäre man im »ersten Arbeitsmarkt« angekommen. Mit Kollegentratsch, Bürointrigen und Betriebsfeiern.
Wir spielen arbeiten. Die vielen Menschen, die täglich in Bewerbungsschulungen herumsitzen, werden von den Jobcentern vornehmlich aus einem Grund dorthin geschickt: Sie fallen damit aus der Arbeitslosenstatistik. In der Statistik werden nach Vorschrift nur die Hartz-IV-Beziehenden als arbeitslos geführt, die ausschließlich Geldleistungen beziehen und an denen sonst keine weitere »Maßnahme« vorgenommen wird. Schulungen, Praktika, Beschäftigungsmaßnahmen, die berüchtigten Ein-Euro-Jobs und alles, was sonst noch im Katalog der Hilflosigkeiten verzeichnet ist, führen zur Streichung aus der Statistik.
Ich beziehe beispielsweise seit acht Jahren Hartz IV, fehle aber seit fünf Jahren in der Statistik. Denn ich bin ein so genannter »Aufstocker«. Mein Einkommen ist so gering, dass es mit Geld vom Jobcenter »aufgestockt« werden muss, damit ich überleben kann. Das bedeutet, dass ich über meine Einnahmen penibler Bericht erstatten muss als handelsübliche abhängig Beschäftigte.
Als Schauspieler erhalte ich hin und wieder Gage. Es liegt im Wesen der Schauspielerei, dass ein Engagement von begrenzter Dauer ist. Meinem Jobcenter leuchtet das leider nicht ein. Jedes Mal, wenn ich einen einmaligen Verdienst angebe, versteht es mich falsch und setzt in der Berechnung eine monatlich wiederkehrende Einnahme an. Was bedeutet, dass ich in den Folgemonaten zu wenig Geld erhalte und sehen muss, wie ich über die Runden komme. Zwar ist bisher noch jedem meiner zahlreichen Widersprüche stattgegeben worden, aber kann das Jobcenter nicht von sich aus begreifen, wie es in der freien Wirtschaft zugeht? Nein, offensichtlich nicht.
Die Lohnabrechnung kam immer pünktlich am 10. des Folgemonats. Mein Jobcenter bestand aber darauf, dass ich ihm die Lohnabrechnung für den laufenden Monat bis spätestens am 15. desselben Monats vorzulegen hätte. Also 25 Tage bevor ich sie selbst hatte. Mein Arbeitgeber wiederum konnte überhaupt nicht einsehen, warum es mit den Formularen solche Eile haben sollte. Mittlerweile beschäftigen Film- und Synchronfirmen prinzipiell keine Hartz-IV-Beziehenden mehr als Statisten, Kleindarsteller oder Sprecher. Der Formularkrieg mit den Jobcentern ist ihnen zu groß.
So wurde ich in den zwei Jahren förmlich zerrieben zwischen den Routinen des Arbeitgebers und des Jobcenters, als Diener zweier Herren. Der Kontakt zum ersten Arbeitsmarkt war keinerlei Gewinn von Freiheit, sondern die Erfahrung doppelter Unfreiheit.
Das Erstaunliche am Hartz-System ist, dass es viele eingebaute Fallstricke und Fußangeln enthält, die die »Verringerung der Hilfebedürftigkeit« erschweren statt erleichtern. Deshalb ist es so schwer, aus einer Langzeitarbeitslosigkeit herauszukommen. Mangelnde Qualifikation ist nicht der Grund. Um mich herum sitzen hochqualifizierte Menschen. Es sind Tüftler dabei, die mit Ideenreichtum und praktischem Geschick vieles im Leben einfacher machen können. Leidenschaftliche Dienstleister, die es als ihre Ehre betrachten, Kunden mit dem Besten und Passendsten bekanntzumachen, statt ihnen anzudrehen, was den größten Profit bringt.
Lauter Menschen, die die reine Lehre der Betriebswirtschaft für unbrauchbar erklärt hat, da sie den Prozess behindern, die geringstmögliche Leistung zum höchstmöglichen Preis abzugeben. Tatsächlich sind häufig die Klienten der Jobcenter im wahrsten Sinne des Wortes »leistungsbereiter« als die fälschlicherweise so bezeichneten »Leistungsträger der Gesellschaft«.
Das System ist so eingerichtet, dass es eine perfekte Blockade des kreativen Potenzials eines großen Teils der Bevölkerung bildet. In den Firmen sorgt die Drohung mit dem Absinken in die Jobcenter-Menschenmühle für Zurückhaltung der eigenen Kreativität und somit für die Verfestigung der gegebenen Hierarchie, im Hartz-IV-System die Drohung mit der Existenzvernichtung für eine fatalistische Duldungsstarre.
In unserem Großraumbüro allerdings dürfen wir tuscheln. »Hier hat sich noch keiner totgearbeitet«, hatte der Chef zu Beginn augenzwinkernd gesagt. Die Absurdität der Angelegenheit wird auf beiden Seiten des Schreibtisches gleichermaßen wahrgenommen. Die tun nichts, die wollen nur spielen.
Es ist Zeit für eine Abwandlung der Bremer Stadtmusikanten: Etwas Besseres als dieses Büro finden wir überall.
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