Führt die Krise zu einer Politisierung und Radikalisierung der Bevölkerung? von Frank Behrmann [via scharf-links.de]
Wenn es um die Euro-Krise geht, kursieren in der Linken nur zu oft optimistische Einschätzungen über die Bereitschaft der Bevölkerung zu Systemveränderungen. Es wäre ja auch zu schön, wenn der Wille, eine sozialere Welt zu schaffen, bei immer mehr Menschen wüchse - und oberflächlich gelesen scheint eine neue Allensbach-Studie (http://goo.gl/XSejc ) diese Hoffnung zu bestätigen. Denn danach kritisieren 69 % der Deutschen eine wachsende Gerechtigkeitslücke, während nur 15 % die hiesigen Zustände für gerecht erachten. Dass speziell die Marktwirtschaft Gerechtigkeit vermindere, meinen immerhin 43 % der Befragten (Westdeutschland 38 %, im Osten 61 %). Und 70 % finden es ungerecht, dass ein Managereinkommen um ein Vielfaches höher liegt als ein Arbeiterlohn. 60 % sind mit der derzeitigen Einkommensverteilung unzufrieden.
Aber bedauerlicher Weise geht es dabei nur darum, die Versprechen dieses Staates einzulösen: Die Mehrheit wünscht eine Chancengleichheit unabhängig von Alter, sozialer Herkunft und Geschlecht - die enorme soziale Ausdifferenzierung des Kapitalismus stört sie im Prinzip nicht. "Verteilungsgerechtigkeit" finden nur 21 % der Befragten wichtig, "Chancengerechtigkeit" hingen 57 %. Und 70 % sind dafür, dass die, die mehr leisten (definiert wird das nicht), auch mehr Geld verdienen. Wer arbeitet soll deutlich mehr Einkommen haben als der, der von staatlicher Unterstützung lebt (77 %). Dass eine Gesellschaft ohne große Einkommensunterschiede gerecht sei, meinen dagegen nur 9 % der Bevölkerung.
Jeder ist seines Glückes Schmied!
Besonders die letzte Zahl ist ernüchternd, zeigt sie doch, dass die auf Entsolidarisierung zielende Propaganda von der Ungleichheit der Menschen, vom Glück des Tüchtigen und vom Selbstverschulden des Armen verfängt. Die meisten Menschen in diesem Land haben die bürgerliche Ideologie verinnerlicht, nach der das Leben ein ständiger Konkurrenzkampf ist. Ein Wettbewerb, für den man bloß gleiche Startchancen für alle haben will. Unter diesen Umständen ist es schwer, für eine andere Gesellschaft zu werben, deren Grundprämisse die Gleichheit aller Menschen sein soll. Erst wenn diese ideologische Festung fällt, besteht die Chance, größere Teile der Bevölkerung für eine sozial-revolutionäre Bewegung zu gewinnen!
Die große Mehrheit ist mit diesem Wirtschaftssystem also durchaus einverstanden und glaubt ihr persönliches Wohlergehen hier gut aufgehoben. Die meisten bemängeln allerdings, dass zwischen dem Anspruch auf Chancengleichheit und der sozialen Wirklichkeit zunehmend breitere Abgründe klaffen. Die wieder zu schließen, wird als Aufgabe der Regierung gesehen.
Dieses Denken fällt noch hinter den klassischen Reformismus der Gewerkschaften zurück, die immerhin eine andere Verteilung des erwirtschafteten Gesamtprodukts verlangten, ohne dabei das Wirtschaftssystem in Frage zu stellen. Bei ihnen stand die Verteilungsgerechtigkeit im Mittelpunkt - "Einkommen und Vermögen sind ungerecht verteilt. Damit werden sich die Gewerkschaften nicht abfinden." (DGB-Grundsatzprogramm 1996) Die Gewerkschaften sind offenbar weniger denn je in der Lage (oder willens), ihre Vorstellungen in die Gesellschaft zu tragen und breite Zustimmung für sie zu erreichen. Diese Verschiebung gesellschaftlicher Werte und Ansichten sind u.a. die ideologische Nachwirkung des Untergangs des "Realsozialismus".
Die Konsequenz daraus ist der Ruf nach einer Politik, die die gute Ordnung herzustellen hätte. (Dass solch eine Ordnung von den Mechanismen der kapitalistischen Wirtschaft immer wieder untergraben würde, wird nicht wahrgenommen und führt daher zur "Politikverdrossenheit".) Zur Gerechtigkeit müsse nach Überzeugung der Bevölkerung in erster Linie die Politik beitragen (65 %), viel weniger die Wirtschaft (32 %), die Gewerkschaften (21 %) oder die BürgerInnen selbst (28 %). Man legt die Hände in den Schoß und ruft nach einer Regierungspolitik, die alles richten soll, oder schimpft über miese PolitikerInnen, wenn diese Rechnung nicht aufgeht.
Kein Wunder, dass die Auftraggeber der Studie, die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, gestandene Anhänger des hiesigen Kapitalismus, zufrieden sind. Die Politik solle sich künftig um mehr Gerechtigkeit kümmern, "statt auf rückwärtsgewandte Steuerdiskussionen oder populistische Umverteilungsforderungen zu setzen" (FAZ, 15.2.), triumphiert es von dort. Aber das ist dann doch etwas zu früh gefreut, denn immerhin sprachen sich jeweils um die 50 % für höhere Steuern auf Unternehmensgewinne, eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes und eine Vermögenssteuer aus.
VON: FRANK BEHRMANN
Posted via email from Daten zum Denken, Nachdenken und Mitdenken
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