Freitag, 28. Dezember 2012

"Es ist bequem, mit den Wölfen zu heulen (...)" [Weihnachtsansprache v. 24.12.1971 v. Bundespräsident Gustav Heinemann]

Bürgermut

 

Liebe Mitbürger!

 

Wir alle wissen es: auch an dieser Weihnacht als Fest des Friedens zwischen Gott und den Menschen wird Krieg geführt und Gewalt ausgeübt.

 

Flüchtlinge verlassen ihre Heimat; Kinder rufen nach einem Stück Brot.

 

Menschenrechte werden mißachtet.

 

(...)

 

Wir haben gelernt, das der Staat kein höheres Wesen mit Anspruch auf
unterwürfigen Gehorsam ist.

 

 

(...)

 

Wir besitzen einen großartigen Freiheitsbrief in der Gestalt unseres
Grundgesetzes, das zum erstenmal in unserer Geschichte jedem von
uns unantastbare, jeder staatlichen Gewalt vorgehende Freiheitsrechte zuspricht.

 

 

Achten wir diesen Freiheitsbrief, und schöpfen wir seine Möglichkeiten aus?

 

(...)

 

Wir alle haben die Freiheit, nach unserem Gewissen zu leben.
Wir alle haben die Freiheit, unsere Meinung zu äußern,

 

einschließlich der Presse-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit.

 

(...)

 

Auch ich weiß, daß Recht und Wirklichkeit nicht immer übereinstimmen.
Wo es an Übereinstimmung fehlt, geht es darum, sie Schritt um Schritt herbeizuführen.

 

 

Auf der anderen Seite ist es aber auch so, daß wir uns selber in unserem
Freiheitsraum einengen, wo wir nicht mutig genug sind, wo wir nicht die
Zivilcourage haben, ihn auch gegenüber unserer Umgebung wahrzunehmen.

 

Die Grundrechte können uns wohl davor schützen, daß wir - wie unter dem
nationalsozialistischen Regime - wegen freier Meinungsäußerung mit dem
Verlust der Freiheit oder gar mit dem Leben zu bezahlen.

 

Sie können uns aber nicht gewährleisten, daß wir sie untereinander gelten lassen.

 

Im Umgang mit unseren Mitbürgern müssen wir alle selber unsere
Freiheit erkämpfen.

 

Was ich meine ist dies:

 

Es ist bequem, unangenehme Wahrheiten zu verschweigen.

 

 

Es ist bequem, sich um eine Kindesmißhandlung in der Nachbarschaft
nicht zu kümmern.

 

Es ist bequem, mit den Wöfen zu heulen, wenn ein Wohngebiet sich gegen ein
neues Heim für körperlich oder für geistig behinderte Mitmenschen in seinem
Bereich wehrt, wie es auch unlängst in Bayern vorgekommen ist.

 

Bequem ist es ebenfalls, im Betrieb schweigend zuzusehen, wenn ein Gastarbeiter
wie ein minderwertiger Mensch behandelt wird.

 

In solchen und unzähligen anderen Fällen kommt es jeden Tag darauf an,
als einzelner nicht vor der Hürde stehenzubleiben, die da lautet:
Was tun die anderen, was tut man nicht?
Solidarität ist eine gute Sache, wenn sie in Hilfsbereitschaft für diejenigen

 

geübt wird, die selber nicht mithalten können.

 

Solidarität ist eine schlechte Sache, wo sie als ein gemeinsames Schweigen geübt
wird, anstatt beim Namen zu nennen, was man schlecht oder gefährlich hält.

 

 

Nur wer bekennt, findet den, der mit ihm bekennt.

 

 

Nur wer Bürgermut lebt, macht andere Bürger lebendig.

 

Sprechen wir also das, was wir denken oder meinen, auch dann aus,
wenn es unserer Umgebung nicht gefällt!

 

Wir wollen eine Gemeinschaft der Vielfalt sein.
Wo aber alle dasselbe denken, denkt wahrscheinlich niemand sehr viel.

 

Wo einer sich den Bürgermut nehemen läßt, etwas Gebotenes trotz

 

möglicher Schwierigkeiten zu tun, trägt er dazu bei, daß unsere
Freiheiten in Gefahr geraten.

 

 

(...)
Das tut auch, wer als Vorgesetzter, als Behördenvertreter oder als
Politiker seine Macht einsetzt gegen diejenigen, die Mißstände oder
Ungerechtigkeiten aufdecken.

 

Wir gefährden unsere eigene Freiheit auch dann, wenn nicht
ebenfalls jeder andere sagen kann, was ihn bewegt.

 

Jeder von uns ist  nur so lange ein freier Bürger,
als wir alle es sind.

 

(...)

 

 

[Bürgermut, Weihnachtansprache 1971 v. 24.12.1971, Gustav Heinemann,
Präsidiale Reden, edition suhrkamp, 2. Auflage, 1977, Seiten 201ff

 

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