[via Grundrisse]
"Wenn wir garantieren, dass jeder am Leben erhalten wird, der erst einmal geboren ist, werden wir sehr bald nicht mehr in der Lage sein, dieses Versprechen zu erfüllen."
(Friedrich A. Hayek)
"Der Sozialstaat wird nach und nach, ebenso unablässig wie konsequent, in einen ,Besatzungsstaat' umgewandelt [ ] einen Staat, der zunehmend die Interessen globaler, transnational operierender Unternehmen schützt, ,während er zugleich den Grad der Repression und Militarisierung an der Heimatfront steigert'."
(Zygmunt Bauman)
Schon immer ist Arbeitslosigkeit Gegenstand politischer Kämpfe und öffentlicher Dispute gewesen und dies hinsichtlich wenigstens zweier Momente. Das erste Moment ist bezogen auf die Frage nach der Existenz von Arbeitslosigkeit, thematisiert also deren Definition und Verursachung. Das heisst, es fragt danach, was unter Arbeitslosigkeit zu verstehen ist und von wem, den Käufern oder den Verkäufern von Arbeitskraft, Arbeitslosigkeit verursacht wird. Indem es die Frage nach der Bewertung von Arbeitslosigkeit aufwirft, ist das zweite Moment hingegen normativer Art. Von zentraler Bedeutung ist hier, ob Arbeitslosigkeit positiv oder negativ konnotiert und damit in der Konsequenz als ein Problem begriffen wird, das gesellschaftlich und politisch als inakzeptabel gilt und deswegen beseitigt oder doch zumindest entschärft werden soll. Dieser eigentlich recht triviale Sachverhalt, dass Arbeitslosigkeit nicht ,an sich' existiert, sondern sozial konstruiert und definiert wird, wenn auch mit Rückbezug auf ,objektive' soziale Phänomene[2], führt dazu, dass erst im politischen Prozess auf der Basis von Machtstrukturen und gegensätzlichen Interessenlagen in einem stets prekären und instabilen Interessenkompromiss entwickelt und selektiv festgelegt wird, ob überhaupt und in welcher Art und Weise Arbeitslosigkeit auf der politischen Agenda als Gegenstand erscheint.[3]
Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass je nach Zeitgeist nicht nur Arbeitslosigkeit, sondern auch die Arbeitslosen selbst unterschiedlich wahrgenommen und beurteilt werden.[4] Als Mitte der 1970er Jahre die Arbeitslosigkeit erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland die Millionengrenze überschritt und sich deren Verstetigung auf hohem Niveau allmählich abzuzeichnen begann[5], galten die meisten Arbeitslosen als "echte Arbeitslose mit einem schweren Schicksal" (Uske 1995: 216), denen die Politik durch Maßnahmen zur Wiederherstellung von Vollbeschäftigung zu helfen suchte. Gut 30 Jahre später hat sich der Blick auf Menschen ohne Arbeit gewandelt. Waren vormals die ,unechten' Arbeitslosen, das heisst die Arbeitslosen, von denen angenommen wird, dass sie eigentlich arbeiten könnten, es aber nicht wollten[6] und statt dessen lieber Transfereinkommen beziehen, eine Minderheit, der die ,echten' Arbeitslosen gegenüberstanden, rückten nunmehr in Politik und Medien und zunehmend auch in der Wissenschaft die Arbeitslosen als Menschen in den Vordergrund, denen es nicht an Arbeit fehle, sondern die etwas erhielten, das ihnen an und für sich nicht zustünde: nämlich staatliche Unterstützungsleistungen. Die Folgen hiervon seien desaströs, weil sie bei den Betroffenen Passivität fördere und Eigenaktivität mindere[7], so dass diese sich letztlich mit ihrer "nicht sehr komfortablen, aber erträglichen" (Kocka 2006) materiellen Situation abfänden und eine Art und Weise der Lebensführung herausbildeten, mit der der ,anständige' Bürger partout nichts zu tun haben will, weil sie unzivilisiert sei und eine Bedrohung der bürgerlichen Werteordnung mit ihren Sekundärtugenden wie Fleiß, Ordentlichkeit, Pflichtbewusstsein, Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit und Beständigkeit darstelle.
Dass die veränderte Wahrnehmung der Arbeitslosen in der seit etwa dem Jahr 2004 forciert geführten Debatte über die "neue Unterschicht"[8] kulminierte, deren "einziger Ehrgeiz oft im professionellen Missbrauch von Sozialleistungen" bestehe, so Draxler (2006) in einem Bild-Kommentar Vorurteile produzierend und reproduzierend, verwundert daher nicht. Im Gegenteil. Liest man diese Debatte als ein diskursives Element des Projektes der neoliberalen Rekonstruktion der Gesellschaft, so lässt sie sich mühelos als klassenpolitische Komplementärdebatte zur sozialpolitischen Missbrauchsdebatte begreifen, die vom seinerzeitigen Bundeskanzler Gerhard Schröder mit den Worten: "Wer arbeiten kann, aber nicht will, der kann nicht mit Solidarität rechnen. Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft!", im April 2001 angezettelt wurde und die ihren vorerst letzten traurigen Höhepunkt im Mai 2005 fand, als in einer unsäglichen, vom vormaligen Wirtschafts- und Arbeitsminister Wolfgang Clement gewissermaßen regierungsamtlich zu verantwortenden und bis heute andauernden Missbrauchskampagne Arbeitslose in einem als "Report vom Arbeitsmarkt im Sommer 2005" bezeichneten Pamphlet pauschal der "Abzocke" (BMWA 2005: passim) bezichtigt und expressis verbis als "Parasiten" (ebd.: 10) bezeichnet wurden. Unter Berufung auf den BMWA-Report hetzte sodann im Herbst des gleichen Jahres zunächst das Boulevardblatt Bild, Deutschlands auflagenstärkste Tageszeitung, unter der Überschrift "Die üblen Tricks der Hartz-IV-Schmarotzer! und wir müssen zahlen" gegen hilfebedürftige Arbeitslose, die auf den Bezug von Arbeitslosengeld II zur Sicherung ihrer Existenz angewiesen sind. Eine Woche später griff der Spiegel mit der Titelgeschichte "Hartz IV: Das Spiel mit den Armen. Wie der Sozialstaat zur Selbstbedienung einlädt" das Thema auf in dem für ihn typischen ,seriösen Stil' für ,gehobene Leserschichten'. Seither hat die Thematik auf der Tagesordnung der Medien einen prominenten Stellenwert eingenommen, wofür neben der TV-Serie "Sozialfahnder" des kommerziellen Senders SAT.1 die im Frühjahr und Herbst des Jahres 2008 erneut von Bild inszenierte Hetze gegen Arbeitslose spricht, mit der diese nicht nur für ihr Schicksal, arbeitslos zu sein, selbst verantwortlich gemacht, sondern auch pauschal bezichtigt wurden, sich "vor der Arbeit zu drücken", sprich ,arbeitsscheu' zu sein, und den "Staat zu bescheißen".
Nun weiß, zumindest ahnungsweise, ein jeder, selbst der sogenannte ,kleine Mann' von der Straße, dass den Aussagen lügen- oder dummheitsträchtiger Sinnsysteme wie denen der Politik oder der Medien hinsichtlich ihres Wahrheitsgehalts nur bedingt Glauben zu schenken ist. Für die Wissenschaft als eines mit Nachdruck um Wahrheit bemühten Sinnsystems gilt diese Skepsis in besonderer Weise, so sie nicht zur Magd irgendwelcher Interessen verkommen ist. Das heisst, dass Wissenschaft, die man mit Elias als "Mythenjägerin" bezeichnen kann (vgl. Elias 1981: 51ff.), aufgefordert ist, die in einer Gesellschaft vorherrschenden Kollektivvorstellungen zu hinterfragen und gegebenenfalls zu verwerfen, wie sehr sie sich auch auf irgendwelche vermeintlichen Autoritäten zu stützen vermögen. Wenn sie dies mit Blick auf den Sozialleistungsmissbrauch und diejenigen tut, die ihn begehen, dann ist sie zunächst mit dem Sachverhalt konfrontiert, dass zwischen der Realität des Sozialleistungsmissbrauchs und seiner öffentlichen Thematisierung eine erhebliche Diskrepanz existiert, der es im folgenden nachzuspüren gilt (s. Abschnitt III). Ist die benannte Diskrepanz erst einmal als Ausdruck einer Inszenierung und Dramatisierung erkannt, wirft dies nahezu zwangsläufig die Frage nach dem Warum beziehungsweise dem Cui bono der Dramatisierung des Sozialleistungsmissbrauchs auf. Dieser wird gewöhnlich, so auch hier, auf der Ebene der ,Oberflächenstruktur' nachgegangen (IV). Allerdings sollte Wissenschaft bei der Analyse des in Rede stehenden Problems sich damit nicht begnügen, sondern versuchen, zu dessen ,Tiefenstruktur' vorzudringen (V). Bevor ein solcher Versuch im folgenden unternommen wird, scheint es angezeigt, den Ausführungen einige Bemerkungen zu der Vokabel ,Schmarotzer' vorwegzuschicken, da sie beziehungsweise deren mit ,sozial' gebildetes Kompositum sowohl in der Debatte über die "neue Unterschicht" als auch in der über den Sozialleistungsmissbrauch mit besonderer Vorliebe als Schmähwort im politischen Machtkampf benutzt wird (II).
II
Wenn Sprache Denken zu dessen Schaden verführt, so liegt dies weniger an der Sprache, sondern mehr an dem Denken, das dumm genug ist, sich verführen zu lassen. Dieser Einsicht folgend, ist man stets gut beraten, einen kritisch reflektierten Umgang mit Sprache zu pflegen, das heisst, sich der Mühe des zweiten Blicks zu unterziehen. Dies steht mit Bezug auf die Vokabel ,Schmarotzer', bei der es sich bekanntlich um eine Verdeutschung von ,Parasit' handelt, auch hier an, um deutlich zu machen, dass a) ,Parasit' ursprünglich eine neutrale Bedeutung besaß, dass b) es kein Leben ohne Parasiten gibt und dass c) es eine Frage der Perspektive ist, wer eigentlich ein Parasit ist.
Ad a) Ursprünglich, das heisst zu Zeiten der attischen Demokratie, bezeichnete man mit ,Parasit' einen von der Gemeinde gewählten hochgeachteten Beamten, der an der Seite (pará) des Priesters am Opfermahl teilnahm und mit diesem gemeinsam Speisen (sĩtos) einnahm. Erst später erhielt die zunächst wertfreie Bedeutung ,Tischgenosse' (parasitus) einen abwertenden Beigeschmack: Aus dem wegen seiner Verdienste um das Gemeinwesen auf Staatskosten gespeisten Mann wurde die Figur des ungebetenen Gastes, der sich als Schmeichler auf Kosten seines Wirtes eine freie Mahlzeit zu verschaffen suchte.[9] Im Sinne des ,auf Kosten anderer leben' wird die Vokabel bis heute gebraucht, wobei allerdings die Formen, in denen Parasiten beziehungsweise Schmarotzer vorkommen, entsprechend der jeweiligen Kultur, Wirtschaftsweise und Herrschaftsordnung verschieden sind. Sie erstrecken sich vom ,Energieparasitismus', das heisst dem Aufbrauchen fossiler Energievorräte zu Lasten künftiger Generation, über den ,Bevölkerungsparasitismus', das heisst dem explosiven Wachstum der Weltbevölkerung auf Kosten anderer Lebewesen, bis hin zum ,Sozialparasitismus', der uns in der Figur des "Sozialschnorrers" (Schmölders 1973) beziehungsweise des "Sozialschmarotzers" entgegentritt, der im allgemeinen als eine Person begriffen wird, die sich Einkommensvorteile verschafft durch den Bezug von wohlfahrtsstaatlichen Unterstützungsleistungen, ohne dass diesen Leistungen eine entsprechende Gegenleistung gegenübersteht.[10]
Ad b) Spätestens mit dem Einzug des Begriffs des Parasiten in die Naturwissenschaften und der Entstehung einer eigenen Disziplin, der Parasitologie, zeigte sich, dass es kein Leben ohne Parasiten gibt. Im biologischen Sinne ist ein Parasit ein Lebewesen, das sich bei seinem Wirt aufhält, mit diesem allerdings nicht wie ein Symbiont in einer Symbiose, das heisst zum gegenseitigen Nutzen lebt, ihn aber auch nicht wie ein Raubtier tötet und verzehrt, sondern sich von ihm nur auf eine Art und Weise ernährt, die sicherstellt, dass dieser zumindest nicht kurzfristig zugrunde geht. Mit anderen Worten: Ein Parasit schädigt seinen Wirt, ohne ihn im allgemeinen zu töten. Es gibt Parasiten unter den Bakterien, den Pflanzen, den Tieren und selbstredend auch unter den Menschen. In Anspielung auf Hobbes' "Der Mensch ist ein Wolf für den Menschen" (Hobbes 1966: 59)[11] veranlasste dies Serres zu dem Bonmot: "Der Mensch ist des Menschen Laus." (Serres 1987: 14) Bedauerlicherweise hat die Erkenntnis, dass es kein parasitenfreies Leben gibt, nicht wesentlich die Einsicht befördert, dass die Verwirklichung des Traums von absoluter Reinheit etwas Totalitäres an sich hat und letztlich den Tod allen Lebens nach sich zieht, obwohl dies jedem seit dem Aufkommen der nationalsozialistischen Idee von der Reinheit der Rasse und deren barbarischen Folgen klar sein müsste.[12]
Ad c) Wenn menschliche Parasiten als Personen betrachtet werden, die von den Früchten anderer schmarotzen, dann ist unklar, wer eigentlich von dieser Charakterisierung betroffen ist. Zwar sind im massenmedial geprägten Bild der öffentlichen Meinung es zumeist diejenigen, die ein Einkommen beziehen, ohne hierfür arbeiten zu müssen, nämlich die ,unechten' Arbeitslosen: die "Arbeitsunwilligen", "Drückeberger", "Faulenzer", "Müßiggänger", die "Sozialschmarotzer" eben. Für Saint-Simon, den Frühsozialisten, und viele andere in seiner Nachfolge[13] war indes klar, dass dieses Bild eine "verkehrte Welt" darstelle, weil diejenigen, die damit betraut sind, die öffentlichen Angelegenheiten zu verwalten, die eigentlichen, wirklichen Parasiten seien. Denn sie beraubten die am "wenigsten Begüterten eines Teiles des Notwendigsten", um den Reichtum der Reichen zu vermehren, und sie seien beauftragt, die "kleinen Vergehen gegen die Gesellschaft unter Strafe zu stellen". Mit einem Wort: Die "unmoralischsten Menschen sind berufen, die Bürger zur Tugend zu erziehen, und die großen Frevler sind bestimmt, die Vergehen der kleinen Sünder zu bestrafen." (Saint-Simon 1970: 162) So gesehen dienen projektive Parasitenvorwürfe, ganz nach dem Motto "Haltet den Dieb!", auch dem Verschleiern der Frage, wer eigentlich wen ausnutzt und missbraucht.
Wenn also, soviel sollte selbst bei den wenigen Hinweisen deutlich geworden sein, Vorsicht geboten und Nachdenken angezeigt ist beim Aufscheinen der Vokabel ,Parasit' im politischen Sprachgebrauch, dann gewinnt unter Umständen auch der "Sozialschmarotzer" und das Ausmaß des ihm von Politik und Medien angelasteten Sozialleistungsmissbrauchs eine etwas andere Kontur. Vor diesem Hintergrund empfiehlt es sich, sich dem Phänomen des Sozialleistungsmissbrauchs detaillierter zuzuwenden.
III
Obwohl der "Report" des BMWA über den Umfang des Sozialleistungsmissbrauchs keine Angaben enthält, wird von diesem wie auch in den Medien auf der Grundlage eines gewollt unklaren Missbrauchsbegriffs durch eine unzulässige und tendenziöse Verallgemeinerung besonders spektakulärer Fälle[14] von Sozialleistungsmissbrauch in der Öffentlichkeit der Eindruck erweckt, eine große Anzahl, jeder fünfte, so Wolfgang Clement (zit. nach: Köhler 2005), der Arbeitslosengeld-II-Bezieher erhielte zuviel oder zu Unrecht Sozialleistungen.[15] Das heisst nun nicht, dass es Sozialleistungsmissbrauch nicht gäbe. Allerdings ist, erstens, nicht alles Missbrauch, was Missbrauch genannt wird[16], so das Ausschöpfen eines Rechtsanspruchs zum eigenen Vorteil durch die rechtlich zulässige Auslegung einer unklaren Rechtsnorm. Auch sogenannte Mitnahmen, "unter schlitzohriger Ausnutzung aller Sozialangebote" (Kaltenbrunner 1981b: 22), wie es Wohlfahrtsstaatskritiker zu formulieren pflegen, stellen keinen rechtswidrigen Leistungsbezug dar, sondern sind allenfalls unter dem Aspekt der moralischen Legitimität zu bewerten.[17] Zudem ist, zweitens, zu vermerken, dass Sozialleistungsmissbrauch im juristischen Sinne einer rechtswidrigen Inanspruchnahme von Leistungen sowohl die Folge betrügerischen[18] Handelns der Leistungsempfänger sein kann als auch Folge administrativen Fehlverhaltens seitens der Leistungsträger. Letzteres liegt beispielsweise dann vor, wenn es zu Überzahlungen kommt auf Grund vom Leistungsträger verschuldeter Fehlberechnungen oder Verzögerungen im Verwaltungsablauf. Missbrauch seitens der Leistungsträger ist jedoch nicht bloß Folge von Fahrlässigkeit, sondern kann auch auf Grund vorsätzlichen Handelns gegeben sein. Dies ist dann der Fall, wenn die Leistungsträger ihren Informations-, Beratungs- und Unterstützungspflichten nicht nachkommen und Rechtsvorschriften missachten, in der Absicht, erwerbsfähige hilfebedürftige Arbeitslose aus dem potenziellen wie aktuellen Leistungsbezug "auszufördern", wie es im Behördenjargon unverblümt heisst.
Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang mit Bezug auf die Verwaltungspraxis der Grundsicherungsträger die Kritik des Bundesrechnungshofs, der moniert, dass etliche der Grundsicherungsträger gegen die gesetzlich auferlegte Pflicht, erwerbfähige Hilfebedürftige umfassend zu betreuen, verstießen, indem sie bei "Personen mit multiplen Vermittlungshemmnissen" auf ein Case-Management verzichteten, weil sie es für wirtschaftlicher hielten, "sich um integrationsnahe Arbeitslose zu kümmern" (BRH 2008: 4,12). Zugleich stellt er unmissverständlich fest: "Solange der Status der Erwerbsfähigkeit als leistungsbegründendes Merkmal für das Arbeitslosengeld II bejaht wird, verstösst ein fehlendes Fallmanagement [...] nach Auffassung des Bundesrechnungshofes gegen wesentliche Ziele der Grundsicherung." (ebd.: 14) Auch war die überwiegende Zahl der Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigungen[19], also der sogenannten Zusatz- oder Ein-Euro-Jobs, zu beanstanden[20]: So war bei zwei Drittel mindestens eine Förderungsvoraussetzung nicht erfüllt. Das heisst, in vier Fünftel der beanstandeten Maßnahmen waren die Tätigkeiten nicht zusätzlich, da sie reguläre Aufgaben eines öffentlichen Trägers betrafen und normale Arbeitskräfte einsparen oder einen haushaltsbedingten Personalmangel ausgleichen sollten. Und bei der Hälfte der beanstandeten Maßnahmen waren die Tätigkeiten auch nicht im öffentlichen Interesse, weil ihr Nutzen nur einem stark eingeschränkten Personenkreis zugänglich war. Außerdem wurden in drei Fünftel der Fälle Maßnahmekostenpauschalen von mindestens 200 Euro pro Monat und Teilnehmer gezahlt, obwohl keine nennenswerten Aufwendungen seitens der Maßnahmeträger erkennbar waren. (vgl. ebd.: 17f.)
Dass der in der Öffentlichkeit erweckte Eindruck, der Missbrauch von Sozialleistungen sei geradezu ein Massenphänomen, mit der Realität nicht im Geringsten übereinstimmt, belegen, wenn auch diesbezügliche systematische, empirische Analysen "bislang ausgesprochen rar" (Lamnek et al. 2000: 13) sind, sowohl ältere international vergleichende (vgl. Henkel/Pawelka 1981) wie auch neuere nationalstaatlich fokussierte (vgl. Martens 2005; Trube 2003: 195) empirische Untersuchungen. Die Größenordnung des Missbrauchs bewegt sich hier in einer Schwankungsbreite von einem bis, im Extrem, zehn Prozent. Im Durchschnitt geht man von drei Prozent aus. Selbst die Bundesagentur für Arbeit kommt auf der Grundlage des von ihr vierteljährlich durchgeführten automatisierten Datenabgleichs, mit dem geprüft wird, ob Arbeitslose anderweitige Transferleistungen beziehen, einer Beschäftigung nachgehen oder andere Einkünfte haben, zu dem Ergebnis, dass bei noch nicht einmal drei Prozent aller Arbeitslosengeld-II-Fälle Sozialleistungsmissbrauch vorliege und dass hiervon bei lediglich knapp 40 Prozent der Verdacht auf Vorliegen einer Ordnungswidrigkeit oder Straftat bestehe. (vgl. Spiegel-Online vom 20. 06. 2006) Zudem gilt es zu beachten, dass Sozialhilfeempfänger, entgegen dem sozialpolitischen Stereotyp, faule "Sozialschmarotzer" zu sein, sich auch durch Annahme gering entlohnter Tätigkeiten darum bemühen, ihre materielle Situation zu verbessern und unabhängig von staatlichen Zuwendungen zu werden (vgl. Gebauer et al. 2002: passim). Vergleichbares ergab auch eine kürzlich publizierte DIW-Studie, in der resümierend festgestellt wird, "dass die meisten Arbeitslosen nicht wählerisch sind, wenn es darum geht, in einen Job zu kommen" (Brenke 2008: 684).
Mit anderen Worten: Sozialleistungsmissbrauch kommt zwar vor, aber er ist verschwindend gering und rechtfertigt in keiner Weise, hilfebedürftige Arbeitslose pauschal dem Verdacht auszusetzen, skrupellose Betrüger zu sein. Dass diese Wertung mehr als berechtigt ist, wird vor allem dann deutlich, wenn man den Sozialleistungsmissbrauch in Beziehung setzt zur "verdeckten Armut", das heisst zur Nichtinanspruchnahme von zustehenden Sozialleistungen auf Grund gesellschaftlicher und administrativer Schwellen[21], die erst überwunden werden müssen, bevor aus den Anspruchsberechtigten auch tatsächliche Leistungsbezieher werden (vgl. Leibfried 1976). So weisen Daten für die Bundesrepublik Deutschland aus, dass etwa nur 50 Prozent der Anspruchsberechtigten tatsächlich Leistungen in Anspruch nehmen. (vgl. Becker 1996: 6; Henkel/Pawelka 1981: 67; Becker/Hauser 2005: 16ff.) Noch marginaler erscheint der Sozialleistungsmissbrauch, vergleicht man den durch ihn angerichteten monetären Schaden mit dem von anderen Missbrauchstatbeständen wie zum Beispiel Subventionsbetrug oder Steuerhinterziehung: Er beträgt nur etwa sechs Prozent hiervon (vgl. Lamnek et al. 2000: 69) und ist insofern lächerlich gering. Dies verdeutlicht eindringlich auch Oschmianskys Feststellung: "Selbst wenn alle Leistungsempfänger [von Arbeitslosengeld und -hilfe; M.W.] ,Arbeitsverweigerer' wären, ihre Leistungen entsprechend missbräuchlich in Anspruch genommen hätten, betrüge der ,Schaden' gerade 28 Prozent des Schadens durch Schwarzarbeit ." (Oschmiansky 2003: 15).
So wie die Frage des Missbrauchs von Sozialleistungen nicht losgelöst betrachtet werden kann von den gesetzlichen Leistungsversprechen, sprich Anspruchsberechtigungen, einerseits und der tatsächlichen Einlösung dieser Versprechen, sprich Anspruchsrealisierung, andererseits, so gehört zur Beantwortung der Frage des Sozialleistungsmissbrauchs nicht nur die Berücksichtigung des Legalitätsaspekts, sondern auch des Legitimitätsaspekts des Missbrauchs, bei dem es um die Gründe geht, die einen Verstoß gegen rechtlich codierte Normen zu einer subjektiv-sinnvollen und damit legitimen Verhaltensalternative machen. Sollten zum Beispiel aus einer willkürlichen Verwaltungspraxis offensichtliche oder auch bloß scheinbare Ungerechtigkeiten resultieren, so ist durchaus denkbar, dass dies bei den Betroffenen die Bereitschaft fördert, die subjektiv wahrgenommene Gerechtigkeitslücke eigenmächtig durch Sozialleistungsmissbrauch zu schließen (vgl. Lamnek et al. 2000: 22).[22] Das Problem der Gerechtigkeitslücke stellt sich selbstredend auch angesichts der Tatsache, dass Personen des öffentlichen Lebens häufig, gemessen am Umfang der von ihnen hinterzogenen Steuern, vergleichsweise gering bestraft werden oder sogar straffrei ausgehen, weil die Steuerbehörden auf eine Strafverfolgung verzichten, da sie den unter Umständen immensen Aufwand juristischer Verfahren scheuen.[23] Zudem muss gesehen werden, dass in einer Gesellschaft, in der als Folge der Universalisierung des Marktes und des Wettbewerbs geradezu eine Ellenbogenmentalität zur Durchsetzung der eigenen Interessen gefordert wird, gemeinwohlorientiertes Handeln nicht prämiiert wird. Wenn jeder angehalten wird, im alltäglichen Konkurrenzkampf, sei es in der Schule, am Arbeitsmarkt oder im Betrieb, das Beste für sich herauszuholen, dann erscheint auch der Sozialleistungsmissbrauch als eine rationale und legitime Handlungsweise zur Erweiterung des eigenen finanziellen Handlungsspielraums, zumal das Streben nach Verbesserung der eigenen ökonomischen Situation durchaus gesellschaftlich anerkannt ist, ja sogar als Motor der Wirtschaft angesehen wird. Vor diesem Hintergrund wird dann auch eher verständlich, was Arbeitslose motiviert, sich öffentlich als "Sozialschmarotzer" zu bekennen: Es ist Ausdruck einer Rationalisierungsstrategie, mittels deren die erfolglose Arbeitsuche und immer bedrohlichere Aussichtslosigkeit bewältig wird, indem man nämlich sein Handeln zur Überwindung der Zwangslage, in der man sich befindet, als "Ergebnis ökonomischer Rationalität und sogar besonderer individueller Schläue" (Zilian/Moser 1989: 50) darstellt. Insofern gibt es auch eine Parallele zu denjenigen, die mit Hilfe von bezahlten Beratern alle Spielräume, negativ formuliert: Schlupflöcher, der Steuergesetzgebung nutzen nur mit dem kleinen, aber feinen Unterschied, dass diesen gegenüber keineswegs der Vorwurf erhoben wird, sie würden sich Vorteile erschleichen. Im Gegenteil, in den Medien spricht man fast mit Bewunderung von der ",Cleverness' solcher Leute" (Henkel/Pavelka 1985: 319)
IV
Dass der Sozialleistungsmissbrauch sowohl von den seinerzeitigen als auch den derzeitigen politisch Verantwortlichen so dramatisiert wird, obwohl diesen das tatsächliche Missbrauchsausmaß hinlänglich bekannt ist[24], hat seinen tieferen Grund und lässt auf nicht ausgewiesene Interessen schließen. Hierbei kann gewissermaßen zwischen zwei Schichten unterschieden werden: der schon irgendwie verständlichen Sinnschicht der Oberfläche und der dem unmittelbaren Zugriff verschlossenen Sinnschicht der ,Tiefenstruktur', auf die sich die Erscheinungsformen der ,Oberflächenstruktur' letztlich zurückführen lassen.[25] Setzt man an der ,Oberflächenstruktur' an, so ist allem voran selbstverständlich zu nennen, dass den Gegnern des Wohlfahrtsstaats jegliches Mittel recht ist, diesen insgesamt als ,zu teuer', ,zu ineffizient', als ,nicht wirksam und zielgenau', als ,wachstumsschädigend', als im Grunde ,überflüssig' zu diskreditieren, um dadurch die gesellschaftliche Akzeptanz für ihn zu minimieren ein Motiv, das die immer wiederkehrenden Debatten über den Wohlfahrtsstaat seit seinen Anfängen, sei es in seiner Entstehungsphase, sei es in seiner Expansionsphase, begleitete, wie ein Blick in dessen Geschichte zu zeigen vermag.[26] Vor dem Hintergrund der durch die Massenarbeitslosigkeit mitbedingten höchst prekären Finanzlage der öffentlichen Haushalte zielt die Missbrauchskampagne mit ihrer Begründung, den Wohlfahrtsstaat nicht abschaffen, sondern durch Modernisierung sichern zu wollen[27], insbesondere darauf ab, Zustimmung zu erheischen für die Durchsetzung restriktiverer Kontrollmaßnahmen und für ein weiteres Zurückschneiden wohlfahrtsstaatlicher Leistungen.
Über die genannte ideologische Flankierung des Abbaus des Wohlfahrtsstaats hinaus vermutlich nicht minder bedeutsam einzuschätzen ist das Bemühen der politisch Verantwortlichen, sowohl von den wirklichen Ursachen und Verursachern der Arbeitsmarktkrise als auch vom eigenen Versagen, das heisst von den Misserfolgen der betriebenen Arbeitsmarktpolitik oder anderer damit in Zusammenhang stehender unzureichender Reformaktivitäten, abzulenken. Erinnert sei hier nur an das bis heute uneingelöste Versprechen der damaligen rot-grünen Bundesregierung anlässlich der Übergabe des Schlussberichts der Hartz-Kommission, die Anzahl der Arbeitslosen in drei Jahren um zwei Millionen zu verringern (vgl. Handelsblatt vom 08. 08. 2002). In die gleiche Richtung zielt auch der BMWA-Report, der eine sachlich-objektive und kritische Betrachtung des Arbeitsmarkts und der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik möglichst zu durchkreuzen trachtet, indem er den "Arbeitsmarkt im Sommer 2005" als nur von "Sozialschmarotzern" bevölkert beschreibt. Indem von den Arbeitslosengeld-II-Beziehern ein Bild als "Müßiggänger" gezeichnet wird, die auf Kosten der Allgemeinheit ein angenehmes Leben führen und dabei den Staatshaushalt ruinieren, wird zudem von der tatsächlich armseligen Lage der Hartz-IV-Betroffenen abgelenkt, die sich seit der mit dem SGB II vollzogenen organisatorischen Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe nicht verbessert, sondern, von Ausnahmen abgesehen, verschlechtert hat, und zwar um bis zu 18 Prozent, je nachdem, ob die Analyse der dadurch entstandenen Einkommensverteilungseffekte auf der Basis der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe oder des Sozio-ökonomischen Panels erfolgt. (vgl. Becker/Hauser 2006)
Gleichsam spiegelbildlich zur Dethematisierung der arbeitsmarktpolitischen Misserfolge stellt die Missbrauchskampagne schließlich darauf ab, hilfebedürftige Arbeitslose als Subjekte ohne jeglichen Sinn für Verantwortung darzustellen, und zwar sowohl gegenüber sich selbst als auch gegenüber der Gesellschaft. Einerseits werden nämlich die Opfer der Arbeitsmarktkrise in der Weise einer Blaming-the-victim-Strategie zu deren Tätern umdefiniert, indem man ihnen vorhält, sie allein trügen Schuld an ihrer Situation, weil ein jeder, der Arbeit suche, auch welche finde. Das heisst, die Ursache von Arbeitslosigkeit wird nicht in den kapitalistischen Ausbeutungs- und Aneignungsverhältnissen gesehen, sondern, der Denktradition Mandevilles[28] folgend, begriffen als Resultat einer moralischen Fehlhaltung: dem mangelnden Willen zur Arbeit[29]. Ein völlig absurdes Argument, das allein schon durch die seit drei Jahrzehnten existierende Massenarbeitslosigkeit Lügen gestraft wird. Wäre Arbeitslosigkeit wirklich, wie von den Gegner des Wohlfahrtsstaats gebetsmühlenhaft immer wieder behauptet, Ausdruck von Arbeitsunwilligkeit, müssten in der Bundesrepublik Deutschland regionale Faulheitszonen existieren und die Erwerbstätigen von konjunkturellen Faulheitszyklen befallen werden.[30] Zudem müsste, wenn die Behauptung sich als zutreffend erweisen sollte, dass Arbeitsunwillige durch zu hohe Transferleistungen verleitet würden, von Beschäftigung in Arbeitslosigkeit zu wechseln, eine positive Korrelation von Massenarbeitslosigkeit und massenhaften Kündigungen von Beschäftigungsverhältnissen bestehen. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Denn in der Arbeitsmarktkrise nehmen Kündigungen ab und nicht zu.
Zu Tätern werden die Arbeitslosen aber auch andererseits, weil sie durch ihr vermeintlich verantwortungsloses Handeln sich gemeinschaftsschädlich verhielten, insofern die von ihnen beanspruchten wohlfahrtsstaatlichen Unterstützungsleistungen einen kostspieligen Wettbewerbsnachteil im Rahmen der globalisierten Standortkonkurrenz der Nationalstaaten darstellten.[31] Hier kommt der Missbrauchskampagne die Funktion zu, von den Arbeitslosen ein Feindbild[32] zu produzieren, wodurch die Bevölkerung in eine herrschende Majorität der ,Leistungsbürger' und eine diskriminierte Minorität der ,Anspruchsbürger' gespalten und ein gesellschaftliches Klima der "Entsachlichung und normativen Dichotomisierung von Problemen" (Prisching 2003: 231) erzeugt wird. In einem derartigen Klima, das geeignet ist, Aggressionsbarrieren zu schwächen und Tatbereitschaften aufzubauen und abzurufen[33], bedarf es keiner schriftlich fixierten Dienstanweisung mehr, um die Mitarbeiter der Arbeitsverwaltung, die längst zu einem der Orte der Realisierung der conditio inhumana mutiert ist, auf den Grundsatz zu verpflichten, die soziale Ausgrenzung der das Gemeinwohl schädigenden Arbeitslosen voranzutreiben, wie sich zum Beispiel einer jüngst erschienenen Untersuchung zu den Interaktions- und Deutungsmustern von Mitarbeitern entnehmen lässt, die mit der Beratung beziehungsweise Betreuung von arbeitslosen Leistungsempfängern befasst sind. Im Vergleich zur früheren Arbeitsverwaltung hat sich nämlich seit der Hartz-IV-Reform der Umgang mit den Arbeitslosen in der Weise geändert, dass diese nicht nur, wie bisher schon, bei Verstößen gegen rechtliche Regelungen negativ sanktioniert werden, sondern mittlerweile auch dann, wenn sie ,falsche' Denk- und Verhaltensweisen an den Tag legen. "Aktivieren als soziale Kontrolle zielt heute primär direkt auf die Einstellungen und Haltungen." (Behrend 2008: 21)
V
Mit dem letztgenannten Punkt ist, wenn man so will, die Schnittstelle zwischen ,Oberflächenstruktur' und ,Tiefenstruktur' ins Blickfeld geraten, und zwar insofern,
Posted via email from Daten zum Denken, Nachdenken und Mitdenken
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