Occupy am Scheideweg
von Steffen Vogel
Nach den Großdemonstrationen in Spanien, Israel und den USA regt sich seit Mitte Oktober auch in Deutschland der Protest. Die hiesige Occupy-Bewegung wendet sich gegen die Unterhöhlung der Demokratie und fordert mehr soziale Gerechtigkeit. So vage sie dabei bisher geblieben ist, hat sie doch einen sichtbaren Kontrapunkt zur scheinbaren Alternativlosigkeit der Krisenbewältigung setzen können. Es ist auch ihr Verdienst, dass Debatten über Gestalt und Zukunft des Kapitalismus zuletzt wieder mehr Gehör gefunden haben.
Zuvor war es weder Gewerkschaften und Parteien, noch bestehenden außerparlamentarischen Akteuren gelungen, in einer breiten Öffentlichkeit Diskussionen über den Kurs der Bundesregierung zu entfachen. Auch bei ihren Protestaktionen sprang der Funke nicht über. Das gilt für das von Attac initiierte Bankentribunal ebenso wie für die Bündnisdemonstrationen unter dem Motto "Wir zahlen nicht für eure Krise". Sie alle blieben Eintagsfliegen. Erst die Kundgebungen nach amerikanischem und spanischem Vorbild vermochten auch hierzulande so etwas wie eine Bewegungsdynamik in Gang zu setzen.
Dennoch fällt eine vorläufige Bilanz der Occupy-Proteste zwiespältig aus. Offen bleibt, ob ihnen die Anbindung an die Lebensrealität breiterer sozialer Schichten gelingt. Fraglich ist auch, ob sich ihre heutigen politischen Formen als tragfähig erweisen können. Davon aber dürfte abhängen, wie dauerhaft diese Bewegung letztlich sein wird.
Für Kontinuität haben anfangs vor allem die Zeltcamps vor der Frankfurter Börse und auf dem Bundespressestrand in Berlin gesorgt. Die Demonstrationen erreichten hingegen bald nicht mehr die Größe des ersten Aktionstages am 15. Oktober 2011, in dessen Verlauf in ganz Deutschland etwa 40 000 Menschen auf die Straße gegangen waren. Knapp einen Monat später hatte sich die Teilnehmerzahl trotz des Aufrufs von Attac und DGB mehr als halbiert. Gemessen an den jüngsten Protesten der Anti-AKW-Bewegung oder der Stuttgart-21-Gegner ist das wenig. Geradezu enttäuschend wirkt es angesichts der Schwere der Krise und der Maßnahmen zu ihrer Bewältigung, deren Folgen auf Jahre spürbar bleiben werden. Jedoch verraten solche scheinbar objektiven Maßstäbe, für sich genommen, wenig über Gelingen oder Scheitern von sozialen Protesten. Aufschlussreicher sind ein Blick auf die Struktur der Bewegung und der internationale Vergleich.
In Spanien gingen im Frühjahr 2011 erstmals die sogenannten Indignados ("Die Empörten") auf die Straße. Sie besetzten zentrale Plätze wie die Puerta del Sol in Madrid und errichteten Zeltstädte. Selbst inspiriert vom Arabischen Frühling gilt der Movimiento 15-M benannt nach dem ersten Aktionstag am 15. Mai als Ideengeber für die folgenden Demonstrationen auf dem Rothschild-Boulevard in Tel Aviv und für Occupy Wall Street in den USA.[1]
Obwohl ihre Camps mehrfach geräumt wurden und während des Winters witterungsbedingt nicht wieder aufgebaut werden sollen, ist die Dynamik dieser Bewegung bis heute ungebrochen. Ein Grund dafür dürfte sein, dass sie neben grundsätzlichen Forderungen wie jener nach "echter Demokratie" die soziale Not im Land auf ihre Agenda gesetzt hat.
Getragen wird der Protest von einer Generation, die direkte Erfahrungen mit den Folgen der Krise gemacht hat. Litt sie schon vor dem Platzen der spanischen Immobilienblase unter weit verbreiteten prekären Beschäftigungsverhältnissen, sieht sie sich jetzt obendrein mit einer Jugendarbeitslosigkeit von 48 Prozent konfrontiert.[2] Dementsprechend greifen die Indignados verstärkt die Alltagsprobleme in ihrem ökonomisch massiv gebeutelten Land auf. Sie unterstützen vielerorts das medizinische Personal im Kampf gegen Streichungen im Gesundheitswesen, sie versuchen, Zwangsräumungen überschuldeter Hausbewohner zu verhindern oder besetzen Häuser, die sie an bereits geräumte Familien übergeben.
Auch in anderen Ländern bildet die wachsende soziale Kluft eine wesentliche, wenn nicht die zentrale Antriebskraft der Proteste: In Israel nahmen sie ihren Ausgang an der Schwierigkeit, bezahlbaren Wohnraum zu finden, und in Großbritannien richtet sich die Empörung gegen den Sozialkahlschlag der konservativ-liberalen Regierung. In den USA wiederum sorgen die massiv gewachsene Arbeitslosigkeit und die enorme Reichtumskonzentration für öffentlichen Unmut, der sich längst nicht mehr nur gegen den Finanzsektor, sondern auch gegen die Großkonzerne richtet.[3]
Mehr Kraft im Bündnis
Zudem haben insbesondere die amerikanischen Aktivisten eine hohe Bündnisfähigkeit bewiesen. So haben sie beispielsweise schnell Gemeinsamkeiten mit den Gewerkschaften ausgelotet. Nicht nur wegen ihrer skeptischen Haltung gegenüber den Arbeitnehmervertretern fehlt der deutschen Occupy-Bewegung diese starke Anbindung an die gesellschaftlichen Verwerfungen noch. Langzeitarbeitslose oder irregulär Beschäftigte aus dem Dienstleistungssektor finden sich allenfalls vereinzelt auf ihren Demonstrationen, eher trifft man dort auf prekäre Kreativarbeiter. Will die Bewegung jedoch wirklich im Namen einer Mehrheit sprechen, wie es der Slogan von den "99 Prozent" beansprucht, muss sie sich um ihr Breitenwachstum kümmern. Dazu braucht sie eine Reihe klar erkennbarer Forderungen und plausible Strategien.
Mindestens ebenso dringend benötigt sie einen starken Bezug zu den Alltagsnöten der Menschen. Kurz: Sie muss gesellschaftliche Interessen benennen und vertreten, auch um den Preis, damit mehr als nur das symbolische eine Prozent zu verärgern. Andernfalls droht sie vom öffentlichen Radar zu verschwinden, sobald die Medienaufmerksamkeit nachlässt. Allein aus dem momentan weit verbreiteten Unbehagen angesichts der schwer überschaubaren Eurokrise lässt sich nicht dauerhaft eine Bewegung speisen.
Negativbeispiel Attac
Wie wichtig Interessenpolitik für eine breite soziale Bewegung ist, lässt sich an Attac zeigen wenn auch ex negativo. Elf Jahre nach seiner Gründung ist das Netzwerk zwar in der politischen Landschaft verankert, einen dauerhaften Protest gegen die Krisenpolitik vermochte es aber nicht zu initiieren. Attac handelt, ähnlich wie viele globalisierungskritische Initiativen in Europa, in hohem Maße advokatorisch. Ihr Einsatz gilt globalen Fragen oder ausgebeuteten Bevölkerungsgruppen auf der Südhalbkugel. Solange jedoch nicht der Bogen zu den Alltagsproblemen im eigenen Land geschlagen werden kann, spricht eine solche Form des Engagements vor allem eine hoch gebildete Mittelschicht an. So hatten denn auch von den Teilnehmern des Weltsozialforums 2009 81 Prozent eine Hochschule besucht oder studierten noch.[4]
Den Globalisierungskritikern ähneln die Occupy-Aktivisten in ihrer Auffassung von Demokratie, ihrer Kritik an der politischen Repräsentation und ihren daraus folgenden Organisationsformen. Die Aktivisten von Seattle, Genua und Porto Alegre folgten einer modifizierten Bündnislogik: Die beteiligten Organisationen respektierten ihre Differenzen bei Ideologie, Strategie und Zielen und prägten so den konstitutiven Pluralismus dieser Bewegung der Bewegungen aus. Gleichzeitig verabredeten sie auf dieser Basis gemeinsame Mobilisierungen und einigten sich auf Minimalziele. Das Neuartige dabei lag in der Netzwerkform, die nicht nur den jeweiligen Repräsentanten Kontakt und Austausch erlaubte, sondern über Maillisten oder Sozialforumsbesuch potentiell allen Mitgliedern und Interessierten.
Die Kritik der Repräsentation
Die Occupy-Bewegung geht nun noch einen Schritt weiter und versucht, völlig mit der politischen Repräsentation zu brechen. Das schlägt sich zunächst in der Kritik an der auf diesem Prinzip basierenden parlamentarischen Demokratie nieder, wobei die Aktivisten eine gewisse Pragmatik walten lassen: Zwar halten sie eine große Distanz zum politischen Betrieb, indem sie sich eine nicht näher definierte "echte Demokratie" auf die Fahnen schreiben. Nichtsdestotrotz plädieren beispielsweise die spanischen Empörten für eine Wahlrechtsreform zugunsten kleiner Parteien. Und vor dem Urnengang im November 2011 riefen sie nicht geschlossen zum Ungültigstimmen oder Fernbleiben auf, sondern zogen auch ein Votum für Kleinparteien in Betracht.
Deutlicher zeigt sich die Ablehnung der Repräsentation bei den Protesten selbst. So endete etwa die Berliner Demonstration am 15. Oktober 2011 nicht wie bei solchen Veranstaltungen üblich mit Redebeiträgen der veranstaltenden Gruppen. Vielmehr erklang Charlie Chaplins Ansprache aus "Der große Diktator" vom Band, dann wurde das Mikrofon freigegeben und ein Speaker's Corner improvisiert.
Eine solche Protestkultur garantiert zwar ein hohes Maß an Inklusivität, weil prinzipiell jeder mitreden kann selbst wenn sich das in der Praxis zumeist auf jene beschränkt, die es gewöhnt sind, ihre politischen Ansichten vor anderen zu artikulieren. Überdies entziehen sich die Aktivisten der gängigen medialen Personalisierung von Politik, indem sie bewusst auf Sprecherinnen und Sprecher verzichten und versuchen, Entscheidungen in ausgedehnten Plena herbeizuführen. Hier wird mit egalitären Formen des Politischen experimentiert, die den gestellten Forderungen entsprechen: Demokratie soll nicht nur angemahnt, sondern auch vorgelebt werden. Darin spiegeln sich nicht zuletzt gesellschaftliche Veränderungen wie die Zunahme von netzwerkförmigen Arbeitsprozessen und der Kommunikation über soziale Netzwerke. Unklar bleibt jedoch, ob solche Strukturen dauerhaft arbeitsfähig sein werden. Überdies ist für Außenstehende eine Bewegung schwer zu durchschauen, wenn sie dem eigenen Anspruch nach nicht mehr sein darf, als die temporäre Zusammenkunft von
Individuen. Und so sehr ausgedehnte Debatten in Vollversammlungen basisdemokratischen Ansprüchen entsprechen mögen, verlangen sie doch sowohl den Beteiligten als auch den interessierten Zuhörern eine Menge an Geduld ab.
Anti-Ideologie ist noch kein Ziel
Als größeres, ja vielleicht als größtes Problem könnte sich schließlich die fast schon reflexartige anti-ideologische Haltung der Aktivisten erweisen, die letztlich jede konkretere gemeinsame Stoßrichtung zu verhindern droht. Ohne geteilte und einigermaßen verbindliche politische Orientierung dürfte es der Bewegung jedoch schwer fallen, einen klaren Kurs zu bestimmen: Will sie etwa der Eurokrise mit einem Plädoyer für die Angleichung der Lebensverhältnisse in Europa begegnen? Oder soll es zurück in den scheinbar leichter zu bewahrenden nationalen Sozialstaat gehen? Für eine Bewegung, die sich bei ihrem Aktionstag Mitte Oktober voller Stolz als eine globale präsentiert hat, sind solche Fragen von fundamentaler Bedeutung. Beim französischen Attac-Ableger haben sie jüngst zu schweren Zerwürfnissen geführt: Während dort die einen für die Stärkung der "nationalen Souveränität" plädieren, halten die anderen am Ziel einer gerechten Globalisierung fest.
Die deutsche Occupy-Bewegung steht heute an einem Scheideweg: Noch ist sie ein lose verbundener Zusammenschluss von Aktivisten, die auf die Krise mit einem demokratisch motivierten Unbehagen reagieren. Sie könnte infolge dieser Unbestimmtheit zerfallen oder aber den Versuch unternehmen, sich zu einer Allianz von kritischer Mittelschicht und Prekären zu verbreitern, die wirkliches politisches Gewicht in die Waagschale werfen kann. Das aber würde voraussetzen, dass sie mit konkreten politischen Positionen eine offensive Bündnispolitik betreibt.
Einer solchen, breiten Bewegung könnte in den kommenden und bereits absehbaren Auseinandersetzungen tatsächlich eine nicht geringe Bedeutung zuwachsen, wenn nämlich die in der Europäischen Union derzeit vorherrschende technokratisch-autoritäre Krisenpolitik ihre Wirkung entfalten wird. Das aber birgt die Möglichkeit zur Intervention von unten: Schon die von Angela Merkel und Nicolas Sarkozy gewollte Änderung der europäischen Verträge könnte der Bestätigung durch die Bevölkerung bedürfen. Dadurch bekäme diese, so der französische Philosoph Étienne Balibar, die Gelegenheit, Sand ins Getriebe zu streuen: "Jede Befragung birgt Chancen, sich gegen das Projekt zu wenden."[5]
Doch auch abseits eines möglichen Referendums ist heute mehr öffentlicher Druck in Europa dringend nötig. Wenn sich die Parteien "tatsächlich zu einem selbstbezüglichen System geschlossen und gegenüber der Umwelt einer nur noch administrativ als Stimmenreservoir wahrgenommenen politischen Öffentlichkeit abgekapselt hätten", so kürzlich Jürgen Habermas, "dann könnten sich die Parameter für das, was in der Öffentlichkeit als selbstverständlich gilt, nur noch im Zuge einer sozialen Bewegung verschieben."[6]
Wenn Occupy tatsächlich diese notwendige Bewegung sein soll, setzt dies allerdings voraus, dass es die Dynamik des Spätherbstes über den Winter retten kann und nicht bereits vorher an seiner programmatischen Unbestimmtheit scheitert.
[1] Vgl. Albert Scharenberg, Die Wiedergeburt der amerikanischen Linken, in: "Blätter", 12/2011, S. 17-20.
[2] Vgl. Eurostat, 31.10.2011.
[3] Vgl. Jeff Goodwin, Occupy Wall Street, in: "Le Monde diplomatique", 11/2011.
[4] "Le Monde", 25.1.2010.
[5] Étienne Balibar, Union européenne: la révolution par en haut? In: "Libération", 21.11.2011.
[6] Jürgen Habermas, Rettet die Würde der Demokratie, in: "Frankfurter Allgemeine Zeitung", 5.11.2011.
(aus: »Blätter« 1/2012, Seite 9-12)
Themen: Soziale Bewegungen, Demokratie und Kapitalismus
Posted via email from Daten zum Denken, Nachdenken und Mitdenken
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen