Deutsche Besonderheiten: Arbeitsmarkt und Sozialstaat in vergleichender
europäischer Perspektive
mit Professor Heiner Ganssmann, Freie Universität Berlin
25.Februar 2004 , 19:30 Uhr, Umweltzentrum Dresden, Schützengasse 18
Wir können es täglich auf allen Kanälen hören: Deutschland gilt seit
einiger Zeit als der kranke Mann Europas. Die Symptome: hohe
Arbeitslosigkeit, stagnierende Wirtschaft. Niedriges Wachstum und
niedrige Beschäftigung, und Alterungsprozesse zehren den Sozialstaat
aus. Das schrumpfende Umverteilungspotential wiederum bedroht die
relativ egalitäre Einkommensverteilung, durch die sich die
Bundesrepublik lange Zeit auszeichnete.
Zudem gilt die Seuche, die den kranken Mann Europas heimsucht, auch noch
als infektiös: Wenn der deutschen Wirtschaftslokomotive der Dampf
ausgeht, bleibt der ganze Euro-Zonen-Zug stehen. Für dieses Elend muss
es Schuldige geben. Alljährlich treiben Experten, voran der
Sachverstän-digenrat, die üblichen Verdächtigen zusammen: die
unbewegliche, vom Sozialstaat verwöhnte Gesellschaft, den unflexiblen
Arbeitsmarkt und natürlich die Gewerkschaften.
Heiner Ganssmann widerspricht dem neoliberalen Credo, die einzig
richtige Medizin sei Deregulierung und weitere Entstaatlichung. Er sucht
zunächst die Wurzeln der deutschen Krankheit und ihre Besonderheiten -
um Klarheit für die Differenz zu den allgemeinen Herausforderungen wie
Globalisierung und Strukturwandel zur Wissensgesellschaft zu gewinnen.
Im Vergleich lässt sich dann auch die Frage verständlicher beantworten,
warum es anderen Ländern bisher besser gelungen ist, den Strukturwandel
zu organisieren.
Heiner Ganssmann arbeitet die Voraussetzungen und Formen von
Sozialstaatlichkeit heraus. Dabei zeigt er, dass - wenn man die Probleme
des Sozialstaates in den Strukturzusammenhängen der kapitalistischen
Entwicklung sieht - von einer wirklichen Krise kaum die Rede sein kann.
Dem interessierten Gejammer, wonach der Sozialstaat nicht mehr bezahlbar
sei, stellt er entgegen, dass es gerade unter den Bedingungen der
ökonomischen Globalisierung keine wirklichen Alternativen zu einer
politisch organisierten kollektiven Daseinsvorsorge gibt, die auf die
von kapitalistischen Ökonomien produzierten sozialen Brüche und Probleme
reagiert.
Heiner Ganssmann ist Professor für Soziologie an der Freien Universität
Berlin. Wir freuen uns, ihn - den selten als Referent auftretenden
Experten - für die Veranstaltung gewonnen zu haben.
Veröffentlichungen u.a.:
Soziale Sicherheit und Kapitalmobilität. Hat der Sozialstaat ein
Standortproblem? in: Appelt, E., Weiss, A. (2001) (Hrsg.),
Globalisierung und der Angriff auf die westeuropäischen
Wohlfahrtsstaaten,
Arbeitsmärkte im Vergleich: Flexibilität und Rigidität der Arbeitsmärkte
in den Niederlanden, Dänemark und Schweden (mit Michael Haas), 2001
Wirtschaftliche Grenzen des Wohlfahrtsstaats? in: Honegger, C. et al.
(Hrsg.), Gesellschaft ohne Grenzen?, 1999
Jens Hommel
Bildungswerk Weiterdenken in der Heinrich-Böll-Stiftung
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