So was kann wohl nur in Deutschland passieren: ein Plädoyer für den Neoliberalismus aus dem Munde des höchsten Würdenträgers des Landes, als hätte diese Denkschule mit ihren politischen Vertretern Reagan und Thatcher und später Schröder in Deutschland nicht unendlich viel Leid über die sozial Ausgeschlossenen gebracht und die Einkommensverteilung nicht immer ungerechter eingerichtet. Oder haben wir einen naiven Bundespräsidenten, ausgerechnet in diesen Zeiten?
Gauck in seiner Rede beim Walter Eucken Institut:
"Wer dies im Hinterkopf hat, kann es übrigens nur merkwürdig finden, dass der Begriff "neoliberal" heute so negativ besetzt ist. Schließlich wandten sich Eucken und seine Mitstreiter selbst als sogenannte "Neoliberale" genau gegen jenes reine "Laissez-faire", das dem Neoliberalismus heute so häufig unterstellt wird. Ihnen hier im Saal erzähle ich damit nichts Neues. In unseren öffentlichen Debatten aber wünsche ich mir mehr intellektuelle Redlichkeit und auch etwas mehr historisches Bewusstsein und Anerkennung für das breite Spektrum des Liberalismus in unserem Land, das von Eucken und seiner Vorstellung von einem ordnenden Staat bis hin zu Friedrich August von Hayek reicht, der "spontanen Ordnungen" mehr zutraute als dem Staat."
Da sucht sich Gauck den Säulenheiligen der deutschen Liberalen Walter Eucken aus, um den gesamten Neoliberalismus neuer Prägung gleich mit reinzuwaschen. Das Laissez-faire der Neoliberalen haben wir mit der Deregulierung der Finanzwirtschaft und der folgenden schwersten Weltwirtschaftskrise seit fast 100 Jahren doch gerade erlebt und immer noch nicht durchlebt. Und das ist wirklich keine Unterstellung. Nein, das Euckensche Feigenblatt ist nicht groß genug, um die neueren neoliberalen Gemeinheiten von Steuersenkungen für Reiche und Kapitaleigner bis zu drastischen Kürzungen der Sozialleistungen und immer mehr Privatisierung öffentlichen Eigentums zuzudecken, Herr Bundespräsident. Verliert, wer im Schloß Charlottenburg residiert, den Blick für die realen sozialen Verhältnisse in Deutschland und anderswo, wo über Jahrzehnte neoliberale Politiken betrieben wurden? Gauck wünscht sich mehr intellektuelle Redlichkeit bein Umgang mit dem Neoliberalismus und ist dabei selbst nicht besonders redlich.
Wir haben einen Bundespräsidenten, der nicht versteht, warum viele Deutsche die derzeitige neoliberale Form von marktwirtschaftlicher Ordnung nicht für gerecht halten, wobei inzwischen selbst die OECD vor zunehmenden sozialen Verwerfungen warnt. Gauck:
"Im Grunde aber finden allzu viele den Wettbewerb eher unbequem. Es ist anstrengend, sich permanent mit anderen messen zu müssen. Und wenn wir uns immer wieder neu behaupten müssen, können wir auch immer wieder scheitern. Das ist das Paradoxe an einer freiheitlichen Ordnung: Ich kenne viele, die einst fürchteten, eingesperrt zu werden, und jetzt fürchten, abgehängt zu werden. Das ist menschlich verständlich, aber es lohnt, zu erklären, was Wettbewerb vor allem ist - jedenfalls dann, wenn er fair ist: nämlich eine öffnende Kraft. Er bricht althergebrachte Privilegien und zementierte Machtstrukturen auf und bietet dadurch Raum für mehr Teilhabe und Mitwirkung. Er bietet - auch im Falle des Scheiterns - idealerweise zweite und weitere Chancen. Und wenn er richtig gestaltet ist, dann ist er auch gerecht."
Nun ist aber unregulierter Wettbewerb eben nicht gerecht. Auch das ist täglich zu beobachten. Was sollen da die Sprüche aus einem idealen Wolkenkuckucksheim heraus? Was sollen die "idealerweise" zweiten und dritten Chancen? Spricht so einer, der die sozialen Realitäten kennt? Wohl kaum? Vielleicht sollte Gauck mal die Langzeitarbeitslosen fragen, von denen Deutschland mehr unter den Arbeitslosen hat, als die meisten anderen Länder.
Und schließlich kommt in Gaucks großer Rede - wie jetzt nur noch zu erwarten - eine Lanze für die Agenda-Politik mit der etwas versteckten, aber dennoch unverkennbaren sozialen Hängematte, an der sich schon Schröder und Westerwelle versucht haben:
"Auch gut gemeinte Eingriffe des Staates können dazu führen, dass Menschen auf Dauer aus- statt eingeschlossen werden. Wann etwa ist staatliche Fürsorge geboten, wann führt sie dazu, dass der Empfänger keinen Sinn mehr darin erkennen kann, sich um ein eigenes Auskommen zu bemühen? Im Zuge der Reformen der Agenda 2010 haben wir ausführlich über solche Fragen debattiert. Wir sollten es weiter tun."
Da kommen mir noch drei Fragen:
Erstens, hat die große Mehrheit der Deutschen, die eine weitere neoliberale Aufspaltung der deutschen Soziallandschaft befürchtet, wirklich nur persönliche Angst vor dem Wettbewerb und seinen Unbequemlichkeiten? Gauck scheint zu vergessen, daß 59 % der Wahlberechtigten links von CDU/CSU/FDP gewählt oder frustriert auf ihr Wahlrecht verzichtet haben. Erst vor wenigen Monaten haben 51 % der Befragten in einer ausgerechnet von der Bertelsmann-Stiftung veranstalteten infas-Umfrage die Befürchtung geäußert, daß der soziale Zusammenhalt in Deutschland schwächer werde. Alles Menschen in Angst vor Wettbewerb?
Zweitens, weiß Gauck nicht, daß soziale und nicht neoliberal verfälschte Gerechtigkeit in Deutschland West schon unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg und als eine der Lehren aus dem Nationalsozialismus und den schrecklichen Kriegszerstörungen ein hohes politisches Gut geworden ist, beispielsweise im Ahlener Programm der CDU nachlesbar? Oder hat ihn diese Nachricht in der DDR nicht erreicht?
Drittens, muß etwa unser aus der DDR stammendes politisches Personal, das dort nicht im Gefängnis gesessen hat, wirklich immer noch beweisen, wie viele Meilen es vom Sozialismus entfernt und wie nah es dem Neoliberalismus ist?
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