Freitag, 25. Mai 2012

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Die Jagd nach Patienten?

Wie an der Rhönklinik in Hildesheim Menschen womöglich krank therapiert wurden

 
Bericht: Ursel Sieber, Jan C. Schmitt, Monika Wagener, Lena Brochhagen
 
Monitor Nr. 634 vom 24.05.2012

http://www.wdr.de/tv/monitor/sendungen/2012/0524/patienten.php5
 

Sonia Seymour Mikich: "Die Ökonomisierung aller Verhältnisse, auch der Gesundheit. Zu wenige Patientenrechte, zu viele unnötige Operationen. Das will die Regierung korrigieren, so die Nachrichten gestern. Ja, in deutschen Kliniken läuft vieles schief. Und es gibt einen Konflikt zwischen Patientenwohl und wirtschaftlichen Interessen. Man geht dahin, um gesund zu werden und gerät in eine Industrie. Ein ganz krasses Beispiel enthüllen Monika Wagener, Ursel Sieber, Jan Schmitt und Lena Brochhagen."

Es ist ein Medizinkrimi. Er handelt von dem Arzt Dr. H., der Patienten anscheinend unnötig mit radioaktivem Jod behandelt hat. Er handelt von Patienten, denen womöglich geschadet statt geholfen wurde. Und es geht um die Frage, welche Rolle das Klinikum Hildesheim dabei gespielt hat, eine Klinik des zweitgrößten privaten Krankenhausbetreibers Rhön. Es geht um eine Recherche, die uns bis nach Neuseeland führt. Es geht um die Jagd nach Patienten. Wir bekommen einen Hinweis von diesem Mann, Dr. Wolfgang Bergter. Er hatte eigentlich nur eine Praxisvertretung bei einem Nuklearmediziner übernommen. Er behauptet, dort auf unglaubliche Dinge gestoßen zu sein. Reihenweise Fehlbehandlungen, bei denen Patienten geschädigt worden seien.

 

Dr. Wolfgang Bergter, Nuklearmediziner: "Zu Anfang dachte ich, es könnte ein einzelner Fehler gewesen sein, aber ich bin dadurch, dass ich die Patienten natürlich selber auch gesehen und betreut habe, immer wieder darauf gestoßen, dass falsche Diagnosen gestellt wurden und das machte mich dann natürlich irgendwann stutzig."

Wurde tatsächlich eine Vielzahl von Menschen in einem Krankenhaus krank gemacht? Und keiner hat etwas bemerkt? Hier in Hildesheim soll es sich abgespielt haben. Hier treffen wir Katrin Schulz. Sie wurde von ihrer Hausärztin wegen einer Entzündung der Schilddrüse zu dem Nuklearmediziner Dr. H. ans Klinikum Hildesheim überwiesen.

Katrin Schulz, Patientin: Also ich habe mich gut aufgehoben gefühlt. Die Ärzte waren sehr sympathisch, sehr nett, sehr freundlich und man hatte als Patient das Gefühl, so, endlich versteht mich jemand, endlich wird mir wirklich geholfen. Zweimal behandelte sie der Arzt mit einer sogenannten Radiojodtherapie. Dabei muss der Patient eine Kapsel mit radioaktivem Jod schlucken. So wird die Schilddrüse von innen bestrahlt, mögliche Knoten werden zerstört. Das Problem: Gibt es keine Knoten, schädigt das radioaktive Jod die eigene Schilddrüse. Die kann dann lebenswichtige Hormone nicht mehr produzieren, genau das scheint bei Katrin Schulz passiert zu sein. Sie muss lebenslang Ersatzhormone schlucken. Wir zeigen ihre Arztbriefe und Befunde Professor Roland Gärtner von der Universitätsklinik München. Danach ist das für ihn ein klarer Fall von Fehlbehandlung.

 

Prof. Roland Gärtner, Universitätsklinik München: "Was einen sehr wundert und was eigentlich schon jeder Medizinstudent schon wissen muss, dass wann man die Radiojodtherapie macht und dass in diesem Fall mit Sicherheit die Radiojodtherapie nicht indiziert war."

Er hatte die Behandlung trotzdem angeordnet: Dr. H., der im Klinikum praktizierte und dort gleichzeitig für die Klinik die Radiojodtherapien überwachte. So konnte er sich selbst die Patienten überweisen. Und niemand stutzte: Obwohl er so pro Jahr bis zu 548 Radiojodtherapien im Klinikum Hildesheim machte, fast dreimal so viel wie statistisch erwartet. Sie dachten, das komme vom guten Ruf von Dr. H., sagt die Klinik heute. So viele Fälle - wegen des guten Rufes? Wir finden noch weitere fragliche Arztbriefe und legen sie Professor Gärtner vor.

Prof. Roland Gärtner, Universitätsklinik München: "Alle diese Patienten, die behandelt worden sind, was ich gesehen habe, die waren nach der Behandlung kränker als zuvor. Die waren vorher ... Zum Teil hatten sie eine normale Schilddrüsenfunktion, manche hatten eine Schilddrüsenunterfunktion unter Schilddrüsen-Hormontherapie, weil die Schilddrüse sowieso schon nicht funktioniert hat. Man hat aber das bisschen, was noch funktioniert hat, dann auch noch ausgeschaltet."

Der Ärztekammer Niedersachsen ist lange nichts aufgefallen. Erst nach Beschwerden wurde Dr. H. aufgefordert, ausführliche Falldokumentationen vorzulegen. Doch da stirbt der Nuklearmediziner plötzlich. Er kann jetzt nichts mehr erklären. Aber er arbeitete ja nicht alleine. Mit ihm arbeitete noch ein anderer Arzt, Dr. M., der bis vor kurzem noch in der Praxis als Assistenzarzt tätig war. Erst scheint Dr. M. wie vom Erdboden verschluckt. Dann finden wir ihn schließlich doch noch - am anderen Ende der Welt, in Neuseeland. Auf seine Arbeit in Hildesheim möchte er aber ganz offensichtlich nicht angesprochen werden.

Reporterin: "Guten Tag, Lena Brochhagen von der ARD. Wir sind hier, weil in Hildesheim es viele Patienten ... Sagen Sie etwas dazu, zu den Radiojodtherapien. Wir möchten Ihre Position kennen lernen."

Schade, Dr. M. könnte sicher einiges erklären. Aber wir bekommen ein internes Gutachten der Ärztekammer zugespielt. Schon in einer Stichprobe von nur 17 willkürlich herausgegriffenen Fällen fand die Ärztekammer eine klare Fehlbehandlung, bei der die "Indikation zur Radiojodtherapie überhaupt nicht gegeben" war, in einem weiteren Fall war die Behandlung laut Gutachten "nicht nachvollziehbar". Drei weitere Fälle galten als ausgesprochen fraglich. Von zahlreichen "falsch dokumentierten Laborwerten" ist die Rede und sogar von "bewusster Manipulation". Wie ist das möglich, dass ein Arzt in einem Klinikum so arbeitet und offenbar nicht kontrolliert wird? Der Rhön-Konzern, dem das Klinikum gehört, will jetzt 2.000 Patientenakten überprüfen, weist aber jede Verantwortung von sich.

 

Max Müller, Rhön Klinikum AG: "Also wir sind natürlich vollkommen überrascht und nahezu fassungslos ob dieser Tatsache. Erklären können wir uns das angesichts eines wissenschaftlich tadellosen Rufes von dem behandelnden Arzt nach wie vor nicht. Wir haben Kenntnis davon erlangt Ende März, am 30.03., um genau zu sein. Und es gab vorher zu keinerlei Zeitpunkt irgendwelche Hinweise, insofern ist das für uns vollkommen überraschend."

Vollkommend überraschend? Wir erfahren, dass viele Nuklearmediziner im Raum Hannover das Wirken von Dr. H. schon lange mit Sorge beobachteten. Die Klinik dagegen sagt, sie war ahnungslos. Klar ist, das Klinikum profitierte von Dr. H's. Zuweisungen mit jährlich geschätzt 1,2 Millionen Euro, denn Radiojodtherapien werden gut bezahlt. Dr. H. sei pauschal entlohnt worden. D.h. also, vor allem die Klinik profitierte, und zwar von jedem zusätzlichen Patienten.

Sonia Seymour Mikich: "Falsch behandelt, aber richtig kassiert? Nur ein Einzelfall? Das Stichwort ist Jagd nach Patienten!"



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