Angst vor der Stadt
Von Eberhard Straub
Die Natur des Menschen ist die Kultur. Die entwerfen sich wandelbare Menschen in der stets beweglichen Geschichte je nach ihren Wünschen und unter dem wechselnden Druck der Notwendigkeiten, es zu lernen, einander zu ertragen. Das ist die Grundlage zivilisierten, städtischen Lebens.
Die Humanität und der Humanismus entwickelten sich immer in der Stadt, nicht draußen auf dem Lande, wo die Natur mit ihren Schrecken den Landmann in ihrer vollständigen Abhängigkeit hielt. Stadtluft macht frei in jeder Beziehung, weil sie von der Idiotie des Landlebens mit ihren Zwängen erlöst. Städte waren immer laut, schmutzig, unübersichtlich und gefährlich, und dennoch wurden sie von ihren Bewohnern gepriesen. Der öffentliche Raum gehörte allen, nicht zuletzt den Armen, den Arbeitslosen, den Behinderten, den Asozialen und den Lebenskünstlern unter den Kleinkriminellen. Das Zusammenleben ist unweigerlich dramatisch. Darin lag seine Poesie, darin lag die ungemeine Anziehungskraft der Stadt.
Jetzt soll es ruhig, übersichtlich, reinlich, geordnet und vor allem möglichst gefahrlos funktionieren, wie in einem Großraumbüro, wo alle einander kollegial brauchen und ergänzen. Das ist umweltfreundlich, weil es die Welt als Natur nicht verletzt.
Das glauben die Besserverdienenden, die Leistungsbringer, die nichts so fürchten wie die Anderen, die Taugenichtse mit gar nicht leistungsorientierten Lebensweisen. Sie wollen aus der Stadt ein Getto machen, eine grüne Vorstadt, in der alle so leben wie sie, ohne Zigaretten, ohne Alkohol, ohne Fleisch, nur mit Obst und Gemüse, immer mit dem Rad unterwegs, früh zu Bett gehend und früh aufstehend, um neben dem Chef den Kindern viel Freude machen zu können.
Wer die Stadt als Ort der Lebensfreude betrachtet, seinen Spazierstock in die Luft wirft, singt, musiziert, bis in die tiefe Nacht redet und dabei auch noch Bier oder Wein trinkt, ist ein Störenfried. Die Natur will schlafen und der Mensch soll das auch. Ruhe ist des Bürgers erste Pflicht und das Recht des Kindes!
In München gab es 1962 wochenlang Krawalle. Es ging darum, auch nach zehn Uhr auf der Leopoldstraße noch musizieren zu dürfen. Die Polizei sorgte nicht für Ruhe, sie sorgte für tagelangen Lärm und ziemliche Unordnung. Seitdem konnte allerdings auf Münchner Straßen gepfiffen, gestrichen, getrommelt und gesungen werden. Damit begann der unheimliche Aufstieg Münchens zur heimlichen Hauptstadt Deutschlands. Es war eine Stadt der Freiheit. Heute ist es ein arbeitsintensiver, umweltbewusster Standort, keimfrei, er wirkt, als würde er jede Nacht mit Kernseife abgewaschen.
Davon ist die wirkliche Hauptstadt Berlin zum Ärger vieler weit entfernt. Sie ist vor allem immer noch keine Frauen- und kindergerechte Stadt. In der Stadt der Zukunft haben Männer ohne Begleitung erwachsener Frauen nichts zu suchen, denn: Ein Mann allein mit einer Bierflasche ist ein potenzieller Kinderschänder. Zwei Männer mit zwei Flaschen Bier wollen sich nur Mut antrinken, um eine Frau zu vergewaltigen. Drei unrasierte Männer ohne Bier sind Islamisten und Terroristen.
Wo bleibt die Polizei? Die Stadt ist keine sichere Heimat mehr. Außerdem: Leistungsempfänger stören Leistungsträgerinnen Netzhaut kränkend beim Einkauf. Die Umwelt wird verschmutzt durch deren Gegenwart. Wer Sozialleistungen empfängt, soll sich an den Stadtrand zu Seinesgleichen zurückziehen. Dabei wäre es besser, die wieder in die Vorstadt zurückzuschicken, die sich in der Stadt ängstigen, weil ein heller Berliner ihnen zuruft: " Hau Dir selber 'n paar in die Fresse, ick hab' keene Zeit."
Eberhard Straub, Publizist und Buchautor, geboren 1940, studierte Geschichte, Kunstgeschichte und Archäologie. Der habilitierte Historiker war bis 1986 Feuilletonredakteur der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" und bis 1997 Pressereferent des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft. Heute lebt er als freier Journalist in Berlin. Buchveröffentlichungen u. a. "Die Wittelsbacher", "Drei letzte Kaiser" sowie "Das zerbrechliche Glück. Liebe und Ehe im Wandel der Zeit" und "Zur Tyrannei der Werte".
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