Wenige Wochen vor den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen deutet sich an, dass die Veränderung in den gesellschaftlich-kulturellen Mentalitäten sich in eine deutliche Veränderung der politischen Kräfteverhältnisse umsetzen wird. Wie ist darin der Aufstieg der Piraten einzuordnen?
Seit dem Ausbruch der Großen Krise 2007 ist eine Mehrheit der BürgerInnen davon überzeugt, dass die gegenwärtige Form der Marktwirtschaft mit ihrem Zwang zur Steigerung der Produktion, der Produktivität und der Ausweitung der Finanzgeschäfte eine Sackgasse darstellt oder zumindest stark korrekturbedürftig ist. Die Linke hat hierzulande so wenig wie in anderen kapitalistischen Hauptländern die Systemkrise des kapitalistischen Akkumulationsregimes nutzen können, ihren politischen Einfluss auszuweiten. Der wachsende gesellschaftliche Problemdruck kontrastiert mit dem Veränderungspotenzial des politischen Systems; zugleich bildet sich auch eine Sehnsucht nach charismatischen Führungsfiguren heraus, von denen ein Durchschlagen der realpolitischen Widerspruchskonstellation erwartet wird. Die Präferenzen für ein verändertes sozio-ökonomisches Modell verbinden sich in den jüngeren Generationen mit einer Faszination für Mobilität, digitale Informationskultur und die damit mögliche breite Transparenz und BürgerInnenbeteiligung. Durch Internet und Handy verschwimmt die Grenze zwischen Arbeit und Privatleben. Berufstätige sind auch außerhalb der Arbeitszeiten erreichbar, nehmen Anrufe in der Freizeit entgegen oder beantworten von zuhause E-Mails.
Piraten-Milieu
Diese gesellschaftliche Stimmung, unter jungen BürgerInnen besonders ausgeprägt, unterliegt dem politischen Aufstieg der Piratenpartei. Die Piraten sind nach Ansicht von drei Vierteln der Deutschen (74%) so erfolgreich, weil sie das Lebensgefühl eines Großteils der jungen Leute treffend ansprechen. Demnach halten gut zwei Drittel der Befragten (67%) den Status als Protestpartei für die Ursache des Piraten-Zulaufs, 64% ihren neuen Politikstil und 34% ihre Internet-Kompetenz. Die Piraten werden von ihren WählerInnen als ein kultureller Vorreiter für die Verfügbarkeit von Wissen und kulturellen Gütern wahrgenommen. Ihre Mitglieder und Sympathisanten ordnen sich einem spezifischen Milieu zu, das mit den Stichworten »Kreative«, »Intellektuelle«, »Jugendliche«, »Mobilität« und »moderne Kommunikationsformen« umschrieben werden kann.
AnhängerInnen der Piraten zeichnen sich aus durch höhere Schulbildung und Qualifikation, Expertise im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien, eine hohe Anzahl an Selbständigen, ein Altersdurchschnitt von unter 30 Jahren sowie prekäre Arbeits- und Lebensbedingungen. Männer dominieren. So schnitten die Piraten bei den Wahlen in Berlin wie im Saarland überdurchschnittlich gut ab bei jungen Männern mit Hochschulreife nicht aber mit Hochschulabschluss. Bei jungen Männern mit Hauptschulabschluss haben sie dagegen kaum einen Fuß in die Tür bekommen. »Korreliert man diesen Befund mit den Angaben zu Erwerbsstatus, Berufsgruppe und Konfession, dann ist ein typischer Piratenwähler nicht nur jung und männlich, sondern gehört mit großer Wahrscheinlichkeit keiner Religionsgemeinschaft an und ist trotz Hochschulreife mehrheitlich entweder (schein)selbständig oder arbeitslos.« (FAZ 21.4.2012) Die Aktivisten der Partei nutzen die modernen Medien und Techniken das Internet und die mobilen Netze und sehen sich selbst als unkonventionelle, technologische und kulturelle Elite. Für Technik- und Kulturpessimisten haben sie wenig Sympathie.
Die Piraten repräsentieren den spezifischen Zeitgeist und ein neues politisches Lebensgefühl jüngerer Bevölkerungsgruppen. Die direkte Beteiligung an Planungen und Entscheidungen sowohl organisatorischer als auch inhaltlicher Art, also eine basisdemokratische Willensbekundung ohne nähere Bindung an die Partei, ist ein neuer Aspekt des politischen Betriebs. Alle können mitmachen, alle können kandidieren, alle fühlen sich ernst genommen, auch wenn sie sich mit konkreter Politik eigentlich noch nie beschäftigt haben. Die in der Politik verbreiteten Strukturen der Hinterzimmerintrigen und der Seilschaften zur Organisation von Parteikarrieren sind bei ihnen bislang nicht präsent.
Eines der verblüffendsten Merkmale der neuen Partei ist die Diskrepanz zwischen der Zahl der Mitglieder und jener der SympathisantInnen, was nur mit der konsequenten Nutzung des Internets erklärbar ist. Von den Mitgliedern selbst zahlen allerdings nur etwa 50% Mitgliedsbeiträge. Ihre bislang sehr fragmentarische politische Programmatik und politisch-strategische Zielsetzung machen die Piraten wett mit einer Netzinfrastruktur, die für eine erstaunliche Partizipations- und Kommunikationsfähigkeit sorgt.
Politische Kultur
Die letzten Umfragen prognostizieren den Piraten in Schleswig-Holstein 11% WählerInnenstimmen. Auch beim Einzug in den Landtag von Nordrhein-Westfalen scheint es nur um die Frage der Anzahl ihrer Mandate zu gehen. Auf Bundesebene erreichen sie in aktuellen Umfragen 10-13% der Stimmen. Die Grünen kommen nur mehr auf einen Stimmenanteil von 11-14%; bis in den August 2011 lagen ihre Werte noch deutlich über 20%. Die Linke erreicht nun 6-8% und liegt damit knapp über ihrem niedrigsten Wert seit Sommer 2005. Für die FDP würden sich aktuell nur noch 3-5% entscheiden.
Der bisherige Erfolg der Piraten erklärt sich auch aus dem starken Unbehagen und der Kritik an den politischen Konkurrenten. Gewählt werden die Piraten in erster Linie aus Unzufriedenheit mit den anderen Parteien. 78% von mehr als 700 befragten Sympathisanten der Piraten gaben dies als ihr Hauptmotiv an. Nur 25% wollten für die Piraten stimmen, weil sie mit Programm und politischen Zielen der Partei übereinstimmten. 38% nannten als Hauptmotiv, die vernetzte Struktur der Piraten biete ihnen Möglichkeiten der Mitwirkung und Mitgestaltung, die es bei anderen Parteien nicht gebe. Während bei den überlieferten politischen Parteien die wichtigen Entscheidungen in der Regel von Spitzengremien oder inoffiziellen Hinterzimmer-Runden vorbereitet werden, läuft der Meinungsbildungsprozess bei den Piraten öffentlich ab.
Allerdings schlägt sich diese transparente Weise der Entscheidungsfindung bislang noch nicht in einer umrissenen Zielsetzung nieder, die auf dem politischen Feld ausweisen könnte, wohin die Reise mit den Piraten gehen kann. Die inhaltlichen Positionen sind bescheiden und deren Verwirklichung im realen Kräfte- und Machtparallelogramm unbestimmt. Das politische Spiel mit dem Dilettantenbonus verweist auf eine Gesellschaft, die reichlich Probleme hat, in der aber gegenwärtig nicht wie in vielen anderen europäischen Ländern existenzielle Fragen (Arbeitslosigkeit, Verschuldung etc.) schnell gelöst werden müssen. Diese Konstellation erklärt auch den spezifischen Piraten-Hype, wie wir ihn gegenwärtig in Deutschland erleben.
Die aktuelle Mischung aus einerseits Engagement zur Veränderung eines verknöcherten politischen Systems, andererseits einer politischen Pluralität und ideologischen Unbekümmertheit, die selbst gegenüber rechtsextremen Sympathisanten keine Distanzierung vornehmen will, markiert zugleich eine Gefahr für die weitere Entwicklung der Piraten. Die populistische Grundhaltung ist eben auch offen für Austeritätspolitik und Systemstabilisierung.
Die deutlich wachsende Zustimmung zur neuen Partei zeigt sich auch als Abwanderung aus den bisherigen politischen Lagern. Die war bei der Wahl in Berlin offenkundig. »Wählerwanderung ist Hauptursache für ihren Erfolg. So ermittelte infratest dimap, dass 17.000 Wähler der Grünen und 14.000 der SPD zu den Piraten abwanderten. Auch die Linkspartei verlor 13.000 Wähler an die junge Aufsteigerpartei, die FDP nur 6.000. Einzig die CDU verlor nur 4.000 Stimmen an die Piraten. Die erfolgreiche Mobilisierung von Nichtwählern oder Wählern anderer kleiner Bündnisse aber hat letztlich entscheidend zum Wahlerfolg geführt. Laut infratest dimap konnten die Piraten 22.000 der Sonstigen und 23.000 Nichtwähler für sich mobilisieren. Zum Vergleich: das niederschmetternde Ergebnis der FDP von 1,8% entspricht einem Stimmenanteil von 26.916 Zweitstimmen.«1
Die Ergebnisse der Landtagswahlen im Saarland bestätigen diese These. Der größte Teil der neuen PiratenwählerInnen wird offensichtlich aus dem Bereich der ProtestwählerInnen rekrutiert: Fast 60% der neuen WählerInnen der Piratenpartei gingen bisher nicht zur Wahl. Insgesamt entfielen bei dieser Landtagswahl auf sie fast 35.600 Stimmen (7,4%). Bei der Europawahl 2009 hatten sie im Saarland erst 3.800 Stimmen (0,9%) erhalten, bei der Bundestagswahl 2009 waren es dann 8.600 Stimmen (1,5%). Unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Wahlbeteiligungen kann man davon ausgehen, dass etwa 10% der PiratenwählerInnnen bei Landtagswahlen die Partei schon bei anderen Wahlen gewählt hatten.
»Sozialliberalismus«
Vor dem Hintergrund einer positiven konjunkturellen Entwicklung in Deutschland, dem Vertrauensverlust in die bürgerlichen Parteien, die mit ihrer Sparpolitik die soziale Spaltung im Land befördern und bei der Bewältigung der Schuldenkrise versagen, und der Atomkatastrophe von Fukushima galt Rot-Grün mit dem zentralen Projekt eines sozial-ökologischen Umbaus Vielen als hoffnungsvolle Zukunftsperspektive. Der vermeintlich unaufhaltsame Durchmarsch der Grünen ist seit dem Herbst letzten Jahres offenkundig beendet. Den Piraten wird zugebilligt, bei der Herausbildung einer gesellschaftlichen oder ideologischen Plattform erst ganz am Anfang zu stehen. Der selbstformulierte Anspruch der neuen Partei ist hoch: Die Demokratie soll modernisiert werden, ja es gelte, die gesamte Gesellschaft umzubauen. Aber noch gibt es weder einen Masterplan für dieses Projekt, noch eine Aufgabenbestimmung des politischen Feldes.2
Die Veränderungen im politischen Feld zeigen sich auch bei der Mitgliederentwicklung. Die Zahlen der etablierten Parteien CDU und SPD sind deutlich rückläufig und unter die 500.000-Grenze gesunken. Auch FDP und Linkspartei verlieren seit längerem Mitglieder. Nur die Grünen melden noch eine leichte Aufwärtstendenz. Die Piratenpartei notiert dagegen einen starken Mitgliederzuwachs. Seit der Wahl in Berlin hat sich die Mitgliederzahl von 12.000 auf über 25.000 bundesweit verdoppelt.
Schlüsselthemen der neuen Partei sind das Urheber- und Patentrecht, die individuellen Freiheitsrechte im Internet sowie die Transparenz des politischen Prozesses. Die Piraten verstehen sich als »sozialliberale« Partei. Der Grund ihres Erfolgs bei jungen Menschen ist zweifellos ihre Modernität im Sinne von Technologie-Freundlichkeit, gepaart mit der Vision einer neuen Demokratie im digitalen Zeitalter. Zu diesem Selbstverständnis gehört ein anderes Verständnis von Willensbildung. Nachdem FDP-Generalsekretär Döring nach den Wahlen im Saarland seine Ignoranz gegenüber den veränderten Verhältnissen mit dem Satz krönte, das Politikbild der Piraten sei sehr von der »Tyrannei der Masse geprägt«, stellte einer der Stichwortgeber der Piraten, Sascha Lobo, die Äußerungen Dörings in einen größeren Zusammenhang. »Die Massen der Leute im Internet beginnen, ihren politischen Willen zu artikulieren und zwar häufiger als nur alle vier Jahre. Mit dem Netz verwandelt sich die Demokratie von einem reinen Wahlakt in eine prozessuale Demokratie mit digital vernetzten Mitteln: nichts anderes ist Digitale Demokratie. Und dafür stehen die Piraten, jedenfalls irgendwie, mit ihrer nerdigen Ingenieursdenkweise, mit ihrer offensiven Naivität, mit ihrer Netzweltoffenheit, die den 54-jährigen Spitzenkandidaten der Piraten in NRW jünger wirken lässt als den 38-jährigen Döring.«
Die Piraten drücken den Zeitgeist des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus aus: moderne Kommunikationstechnologien, aber auch massiv veränderte Arbeitsbedingungen raus aus den festgefügten fordistischen Arbeitsprozessen mit seinen übersichtlichen, auf lange Dauer angelegten Arbeitsverhältnissen.
»Prekäre Arbeits- und Lebensweisen wurden als Normalfall erlebt, die alte sozialstaatliche Welt der gesicherten Arbeitnehmerrechte, des Erwerbs von Sozialeigentum durch Arbeit, ist eine fremde bzw. ferne, nicht erreichbare Welt geworden. In der Unsicherheit bzw. Flexibilität steckt ein hohes Potenzial an Autonomie und Selbstbestimmung, aber auch ein hoher Zwang, immer wieder die gleichzeitigen materiellen, sozialen und psychischen Belastungen von Überarbeit, unregelmäßigen Einkommen und entgrenzter Verfügbarkeit zu kompensieren.«
Wahrgenommen wird dies bei den Piraten als Wandel zur Informationsgesellschaft. Den tiefgreifenden Konsequenzen dieser Umwälzung für Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur wollen sie mit ihren Positionen gerecht werden. Das bislang fragmentarische Parteiprogramm und die innerparteilichen Debatten lassen gleichwohl erkennen, wohin die Reise aus Sicht der Piraten gehen soll. Einen zunehmenden »Abbau von Monopolen und eine Öffnung der Märkte« fordern sie in ihrem Plädoyer für ein bedingungsloses Grundeinkommen. Patente werden als »staatlich garantierte privatwirtschaftliche Monopole« betrachtet und abgelehnt. Bei den Unternehmen gibt es allerdings Zweifel, ob die aus Piratensicht wettbewerbsfeindlichen Patente tatsächlich aufgeweicht werden können. Denn Urheberrecht, Patentschutz u.a. sind wesentliche Faktoren für die Wirtschaftskultur. Freier Zugang hat auch den Preis der Entwertung von Schutz- und Eigentumsrechten. In Fortführung dieser Argumentation weiten die Piraten ihren Kampf gegen Patente auf andere Wirtschaftsbereiche aus, bei denen sie eine »Zweckentfremdung der gesellschaftlichen Ressourcen« vermuten, wie bei der Pharmaindustrie. Sie lehnen mit dem Endziel einer »Öffnung der Märkte« und dem »Abbau von Monopolen« aber auch »Patente auf Geschäftsideen« ab, weil diese die Entwicklung der Wissensgesellschaft behinderten und »gemeine Güter ohne Gegenleistung und ohne Not« privatisierten was dem Gebot der gesellschaftlichen Teilhabe für alle zuwiderlaufe. Die Piraten fordern mehr Transparenz bei staatlichen Beteiligungen und sagen »Nein« zur Zwangsmitgliedschaft in Kammern und Verbänden. »Diese Zwangsregelung trifft besonders kleine Gewerbetreibende oder Handwerker hart«, heißt es im Programm des NRW-Landesverbands. Auch die Durchsetzung der Trennung von Staat und Religion ist sympathisch, wirft aber Fragen auf. »Die weltanschauliche Neutralität des Staates herzustellen, ist daher eine für die gedeihliche Entwicklung des Gemeinwesens notwendige Voraussetzung. Ein säkularer Staat erfordert die strikte Trennung von religiösen und staatlichen Belangen; finanzielle und strukturelle Privilegien einzelner Glaubensgemeinschaften, etwa im Rahmen finanzieller Alimentierung, bei der Übertragung von Aufgaben in staatlichen Institutionen und beim Betrieb von sozialen Einrichtungen, sind höchst fragwürdig und daher abzubauen.« Eine solche Umbaustrategie erfordert also reichliche Eingriffe in das System sozialer Sicherheit und damit die öffentlichen Finanzen. In NRW haben sich die Piraten klarer zu Wirtschaftsfragen positioniert als auf Bundesebene. Subventionen für angeschlagene Konzerne wie sie etwa im Fall der insolventen Drogeriemarktkette Schlecker diskutiert wurden lehnen sie ab. »Zahlreiche Beispiele belegen, dass mit diesen Maßnahmen das unvermeidliche Ende meist nur hinausgezögert wird«, heißt es im NRW-Parteiprogramm eine Formulierung, die mit Positionen des linken Parteienspektrums nur wenig gemeinsam hat. »Ein Staat, der überreglementiert, kann keine Freiheit zulassen, egal ob bei den Grundrechten oder in der Wirtschaft«, erläutert Piratenchef Nerz die Ausrichtung seiner Partei. »Ein Staat, der sich in marktradikaler Ausrichtung aber komplett zurück hält, der kann Probleme nicht korrigieren oder schädliche Monopole verhindern.« Nerz sieht darin eine »sozialliberale« Haltung.
Grundeinkommen und Grundsicherung
Die mit den veränderten Arbeitsbedingungen einhergehenden Unsicherheiten (immer weniger unbefristete Arbeitsverträge, zunehmende projektbezogene Jobs in halb- oder ganz selbständiger Tätigkeit mit immer niedriger werdender Entlohnung vor allem in jenen Feldern mit hohem Anteil digitaler Technik) machen die Forderung der Piraten nach einem bedingungslosen Grundeinkommen für viele Menschen, vor allem mit höheren Bildungsabschlüssen, attraktiv. Sie sprechen diesen Hintergrund an und fordern: »Die Piratenpartei setzt sich daher für Lösungen ein, die eine sichere Existenz und gesellschaftliche Teilhabe individuell und bedingungslos garantieren und dabei auch wirtschaftliche Freiheit erhalten und ermöglichen. Wir wollen Armut verhindern, nicht Reichtum.«
Vor dem Hintergrund erlebter Aussichtslosigkeit auf gesicherte Jobs scheint auch folgendes Argument plausibel: »Wenn ein Einkommen nur durch Arbeit erzielt werden kann, muss zur Sicherung der Würde aller Menschen Vollbeschäftigung herrschen. Unter dieser Voraussetzung ist Vollbeschäftigung bislang ein großes Ziel der Wirtschaftspolitik. Sie wird auf zwei Wegen zu erreichen versucht: durch wirtschaftsfördernde Maßnahmen mit dem Ziel der Schaffung von Arbeitsplätzen oder durch staatlich finanzierte Arbeitsplätze mit dem vorrangigem Ziel der Existenzsicherung. Beide sind Umwege und verlangen umfangreiche öffentliche Mittel. Wenn jedoch öffentliche Mittel eingesetzt werden, muss dies möglichst zielführend geschehen. Da das Ziel ein Einkommen zur Existenzsicherung für jeden ist, sollte dieses Einkommen jedem direkt garantiert werden. Nur dadurch ist die Würde jedes Menschen ausnahmslos gesichert. So wie heute bereits u.a. öffentliche Sicherheit, Verkehrswege und weite Teile des Bildungssystems ohne direkte Gegenleistung zur Verfügung gestellt werden, soll auch Existenzsicherung Teil der Infrastruktur werden.«
Die Verfechter des allgemeinen Grundeinkommens wollen die BürgerInnen aus der gesellschaftspolitischen Sackgasse einer repressiv-erniedrigenden Armutsverwaltung herausholen. Mit dem Grundeinkommen soll der Arbeitszwang aufgehoben werden. Die BürgerInnen erhalten durch das Grundeinkommen die Möglichkeit, bei Sicherung ihrer existenziellen Grundbedürfnisse einer sinnvollen Arbeit nachzugehen. Diese Konzeption geht über den sozialen Ausgleich der Sozialen Marktwirtschaft hinaus. Das Grundeinkommen soll mehr sein als Instrument der Versorgung wegrationalisierter ArbeitnehmerInnen. Es wird als ein Modell der Zukunftsausrichtung verstanden.
Ein akzeptables Existenzminimum wird allerdings ohne eine Veränderung der Produktions- und Verteilungsverhältnisse nicht zu haben sein. Diese aber ist notwendig und möglich. Erste Schritte zur Rückführung der einseitigen Verteilung und zum Abbau der strukturellen Arbeitslosigkeit können mit öffentlichen Investitionen, Anhebung der Masseneinkommen und Arbeitszeitverkürzung gegangen und zugleich die Erfordernisse einer Verbesserung der Chancen der weniger entwickelten Länder, von Umweltschutz und ökologisch verträglicher Produktion nicht vergessen werden.
Eine andere Ausrichtung fordern die Piraten auch für den ÖPNV. Denn wenn ein großer Teil der Menschen von Hartz IV leben muss und ein anderer Teil in prekarisierten Arbeitsverhältnissen mit Minilöhnen, dann bedeutet eine Erhöhung von Fahrpreisen im Nahverkehr Ausgrenzung. Die Piraten haben auch dieses Problem aufgegriffen: »Wir werden mittelfristig eine unentgeltliche Nutzung des ÖPNV einführen, um das soziale Recht der Mobilität vom Einkommen des Einzelnen abzukoppeln. Die Umstellung des ÖPNV auf eine unentgeltliche Nutzung bedeutet keinen Verlust von Arbeitsplätzen. Statt die Fahrgäste zu kontrollieren, wird freiwerdendes Personal zur Verbesserung des Informationsservice eingesetzt. Fahrgäste werden wieder Gäste in den öffentlichen Verkehrsmitteln und sind keine potenziellen Schwarzfahrer mehr.«
Auch hier gilt: Die Umstellung auf eine kostenlose Nutzung des Nahverkehrssystems ist machbar und sinnvoll, soweit sie in eine Gesamtkonzeption der öffentlichen Güter und Dienstleistungen sowie ihrer Finanzierung eingebunden wird.
Eine Neuausrichtung fordern die Piraten schließlich auch für den Bereich des Wohnens. Drohende steigende Mieten (Steigerung um 5%) sind für viele Menschen nicht mehr bezahlbar. Für die Piraten ist Mieterschutz zudem auch Milieuschutz. »Die Piraten Berlin begrüßen den Kiezcharakter, die bunte Vielfalt in dieser Stadt. Wir wollen diese erhalten und fördern, sehen sie aber bedroht von falschen politischen Impulsen. So haben sich die Förderrichtlinien des Landes Berlin zu lange auf die Schaffung von Privateigentum konzentriert zu Lasten alteingesessener Mieter, die aus ihrem angestammten Kiez in die Randgebiete verdrängt wurden. Darüber hinaus hat auch die Objektförderung im sozialen Wohnungsbau nicht zu einer Entlastung des Berliner Wohnungsmarktes geführt. Wir fördern personenbezogen, für alle Berliner eine gesellschaftliche Teilhabe an der Vielfalt dieser Stadt. Wir wollen keine leeren Innenstädte, die von Zweit- und Drittwohnungen, sowie Gewerbeimmobilien geprägt sind. Wir stärken die Mieter gegenüber Eigentümerinteressen Eine direkte Bürgerbeteiligung an der Entscheidung ist für uns Voraussetzung für eine Veräußerung von Liegenschaften und Immobilien, die sich in Besitz des Landes Berlin befinden.«
unter Bedingungen von Austeritätspolitik?
Vor dem Hintergrund klammer öffentlicher Haushalte und den Grundsätzen der neuen Schuldenregel (»Schuldenbremse«) gerät die Piratenpartei ganz unvermeidlich unter den Druck, sich der Frage der Finanzierung ihrer sozialpolitischen Forderungen zu stellen. So hat sie sich vor der Landtagswahl in NRW zur neuen Schuldenregel bekannt. »Wir halten die Schuldenbremse für sehr sinnvoll«, sagte der Landesvorsitzende Michele Marsching. Die Piraten wollten die Regularien einhalten, die spätestens ab 2020 strukturell ausgeglichene Haushalte vorsehen. Wie die Partei dies umsetzen will, lässt Marsching offen. Für die Wirtschafts- und Finanzpolitik gebe es Arbeitsgruppen der Partei, denen detaillierte Zahlen zu den Haushalten im Land und den Kommunen aber nicht vorlägen. »Wir kommen an die Details nicht heran«, beklagte er. Ändere sich dies, strebten die Piraten eine »fakten- und zahlenbasierte Politik« an.
Gleichwohl bleibt das Kernproblem unbeantwortet: Wie soll ein ausgeglichener Haushalt ohne soziale Grausamkeiten erreicht werden? Sind die Piraten bereit, eine Politik der Steuererhöhung auf höhere Einkommen, die Wiederhebung der Vermögenssteuer und einen demokratischen, transparenten Steuervollzug mitzutragen? Wie kann darüber hinaus ein Schuldenabbau stattfinden, wenn beispielsweise WLAN und ÖPNV kostenlos sind und jedem ein bedingungsloses Grundeinkommen zugestanden wird? Die Lösungsvorschläge sind vage: Mal liest man etwas vom Bürokratieabbau oder der Verschlankung der Verwaltung. Sicherlich würde auch die flächendeckende Schließung von Opernhäusern ein paar Euros in die klammen Kassen spülen. Durchdacht und durchfinanziert ist ein solches Programm nicht. Mit Grundeinkommen, Öffentlichem Nahverkehr und Mieten sind zentrale Aspekte der Lebenswirklichkeit von vielen BürgerInnen im Programm der Piraten angesprochen, gleichwohl bleiben die Realisierbarkeit und die Schritte dorthin im Dunkeln. Wie ein Teil der politischen Linken versprechen sich auch die Piraten von der Einführung eines allgemeinen, bedingungslosen Grundeinkommens nicht nur eine Aufhebung der entwürdigenden Praxis einer Berechtigungs-, Ermittlungs- und Kontrollbürokratie, sondern eine Stärkung der organisierten Lohnarbeit. Angesichts der aktuellen Zementierung von kapitalistischer Wirtschaftsordnung und Arbeitszwang geht es in der Tat auch um eine Vergrößerung der Gestaltungsräume für Arbeitslose und prekär Beschäftigte. Allerdings müssen dafür auch die strategischen Fragen, wie wir heute und in Zukunft leben und arbeiten wollen, angegangen werden. Bei den Piraten wie bei anderen Befürwortern des Grundeinkommens finden sich jedoch kaum Überlegungen zu einer Gesellschaftsstrategie, die auf die Transformation der auf dem Gegensatz von Lohnarbeit und Kapital basierten Gesellschaften zielt. Die Unterschiede in der Verteilung gesellschaftlichen Reichtums würden auch nach Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens bestehen bleiben. Zudem würden die hinter den Verteilungsverhältnissen stehenden Machtstrukturen die Ausgestaltung des Existenzminimums beständig gefährden.
Mit einem Grundeinkommen an sich werden die gesellschaftlichen Strukturen noch nicht verändert es bleibt die Zeitverteilung, es bleiben die entfremdeten Strukturen bei der Verausgabung von Arbeit und auch die Reproduktion sozialer Ungleichheit in Bildung, Gesundheit, Freizeit, Kultur und Politik mehr oder minder bestehen.
Kritische Dialoge
Die Alternative zu repressiver »aktivierender« Sozial- und Arbeitsmarktpolitik bestünde in einem Maßnahmenbündel, das im Kern eine Veränderung der Verteilungsverhältnisse zum Hebel für eine Veränderung der Strukturen von Wirtschaft und Gesellschaft macht. Dafür hatte bereits John Maynard Keynes im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts plädiert, um die kapitalistischen Gesellschaften aus Stagnation, Depression und Deflation herauszuführen. Die zentralen Punkte eines solchen Maßnahmenbündels sind noch immer
- die Ausweitung »sinnvollen« Konsums, Reduzierung der Sparquote, Ausweitung öffentlicher Investitionen;
- der Ausbau öffentlicher Güter und Dienstleistungen;
- und schließlich die Arbeitszeitverkürzungen in verschiedenen Formen.
Die Piraten haben Umfragen zufolge gute Chancen, bei der Landtagswahl in NRW am 13. Mai in den Landtag einzuziehen. Eine Regierungsbeteiligung streben sie danach nicht an. Dies könne sich aber in kommenden Legislaturperioden ändern, sagte Simone Brand, die auf der Landesliste für die Partei kandidiert. Sie persönlich könne sich vorstellen, einmal ein Verbraucherschutzministerium in Düsseldorf zu führen. Die Piraten seien »keine Blockierer-Partei« und könnten sich in einem neuen Landtag auch Vorschlägen anderer Parteien anschließen, betont Spitzenkandidat Joachim Paul. In den Landtagswahlkampf will die Partei mit einem »sehr breit gefächerten Programm« ziehen, kündigte Mersching an. Zentrale Themen sollten dabei der Verbraucherschutz und die Bildungspolitik sein.
Die Mitglieder einer neuen Landtagsfraktion könnten autonom entscheiden, unterstrich Marsching. Bei Grundsatzfragen würden die Piraten zwar die Basis befragen, doch »eine Bindung an die Meinungsbilder der Parteibasis gibt es (für die Abgeordneten) nicht«. Stellten sie sich in ihren Entscheidungen allerdings gegen die Basis, drohe ihnen aber ein »Shitstorm« im Internet also massive Kritik im Netz.
Eine Kampfansage richteten die Grünen an die neue Konkurrenz: »Für uns sind die Piraten Mitbewerber«, sagte deren Spitzenkandidatin Sylvia Löhrmann. »Wir haben die Basisdemokratie erfunden.« Die Grünen wollten zudem ihren Wahlkampf im Internet ausbauen. Die Herausforderung, mit den Piraten in einen kritischen Dialog und solidarischen Streit zu kommen, sollte nicht nur von den Grünen angenommen werden.
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