Montag, 11. Oktober 2010

Presse Wissenschaft: Suizide bei Migrantinnen [via idw]


Informationsdienst Wissenschaft - idw - Pressemitteilung
Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen
Fachgesellschaften, Dipl.Pol. Justin Westhoff, 09.10.2010 12:28

Presse Wissenschaft: Suizide bei Migrantinnen

Zum Welttag für Seelische Gesundheit 2010 am 10. Oktober

Über die Kampagne "Beende Dein Schweigen, nicht Dein Leben" haben viele
Medien berichtet. Viele Journalisten fragen aber auch nach
wissenschaftlichem Hintergrundmaterial. Nachstehend findet sich eine
Zusammenfassung der bisherigen Erkenntnisse ebenso wie der noch
bestehenden Forschungslücken einschließlich Literaturangaben.

Die Medienkampagne "Beende Dein Schweigen, nicht Dein Leben" ist Teil
einer auf mehrere Jahre angelegten wissenschaftlichen Untersuchung zu der
Frage, aus welchen Gründen die Rate an Suizidversuchen und vollendeten
Suiziden bei jungen Frauen mit türkischem Migrationshintergrund in
Deutschland deutlich höher liegt als bei Gleichaltrigen ohne
Migrationshintergrund. Die Studie unter Federführung der Psychiatrie der
Charité (Campus Mitte, Direktor: Prof. Dr. Andreas Heinz) geht vor allem
der Frage nach, welche Risiko-, aber auch welche Schutzfaktoren die
Suizidanfälligkeit in dieser Gruppe beeinflussen. Im Interventionsteil der
Studie wird in Berlin untersucht, ob und welche Aufklärungskampagnen und
Hilfsangebote die Suizidrate verringern können.

Die beteiligten Forscher um Studienleiterin Dr. Meryam Schouler-Ocak*
publizieren demnächst mehrere Aufsätze zu diesem Thema in
Fachzeitschriften**. Die endgültige Auswertung der vom BMBF geförderten
Studie zu "Suizidraten und Suizidprävention bei türkischen Frauen in
Berlin" hingegen liegt naturgemäß noch nicht vor.
Doch schon jetzt zeichnen sich einige Ergebnisse ab:
° Die Ursachen für Suizidalität sind vielschichtig und haben vor allem
auch mit der Stellung der betroffenen Frau in  Familie und Gesellschaft zu
tun.
° Seelische Gesundheit ist ein ganz wesentlicher Faktor für Integration.
Grobe Vereinfachungen aus der jüngsten Zeit, wonach alle Probleme von und
mit Migranten auf deren Unwillen zurückzuführen seien, sich an die
deutsche Gesellschaft anzupassen, führen nicht nur nicht weiter, sie sind
auch falsch.
° Informationen und Hilfsangebote durch geschulten Multiplikatoren und
insbesondere durch die Mitarbeiterinnen  bei der Krisenhotline*** werden
sehr gut angenommen.
--

folgt: Hintergrundpressedienst

Kulturelle Einflüsse auf die Suizidgefährdung und Risikofaktoren

Selbsttötungen gehören zu den häufigsten Todesursachen auf der Welt – es
gibt sie in allen Kulturen, unabhängig davon, ob und wie sie gesetzlich
verboten oder sozial beziehungsweise religiös geächtet sind. Unstrittig
ist, dass biologische und psychologische Faktoren eine Rolle spielen. Ein
Suizid wird meist als persönliche Tragödie wahrgenommen – deshalb blenden
auch manche Fachleute den gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenhang
aus. Dieser aber ist nachweislich von großer Bedeutung. Migration kann –
zumindest als "letzter Tropfen" – eine gewichtige Rolle spielen. Sowohl
der Anpassungsprozess an ein Einwanderungsland als auch dortige
Diskriminierung können schließlich in einen Suizidversuch münden.

 

Nicht alle Migranten haben jedoch ein höheres Risiko.

 

Die Sellbsttötungsrate von türkischen Männern in Deutschland zum Beispiel

unterscheidet sich nicht von der im Herkunftsland – und die ist geringer als bei uns.

 

Hingegen ist die Häufigkeit von vollendeten Suiziden bei Mädchen und jungen

Frauen mit türkischem Migrationshintergrund ungefähr doppelt so hoch wie bei
gleichaltrigen Frauen aus deutschen Familien (1).

 

Und die Rate an Suizidversuchen übersteigt die bei Gleichaltrigen ohne
Migrationshintergrund sogar um das Fünffache (2).

 

Frauen mit türkischem Migrationshintergrund sind zudem bei ihrem

Suizidversuch deutlich jünger als deutsche.

Die höchste Suizidversuchsrate zeigte sich bei Migrantinnen
der zweiten Generation (3).


Als eine wichtige Ursache für Suizidgedanken und Suizide bei jungen
türkischen Frauen wurde die große Spannung zwischen traditionellen
Rollenerwartungen in der Familie und modernen Lebensformen im Aufnahmeland
gefunden (4). Eine niederländische Studie zeigte, dass ein großer Teil der
türkischen Migrantinnen Suizidversuche vornahmen, weil sie ihr Leben als
zu kontrolliert empfanden und ihre Angehörigen sie mit einer "Verletzung
der Familienehre" konfrontierten (5). Auch der Zugang zum psychosozialen
Versorgungssystem ist für Menschen mit Migrationshintergrund erschwert
(6).

Wer ist gefährdet, wer weniger: mögliche Schutzfaktoren

Migration bedeutet insbesondere dann eine psychische Belastung, wenn unter
anderem niedriger sozialer Status, soziale Isolierung, weiblicher
Rollenkonflikt oder auch vorbestehende seelische Krankheiten hinzu kommen.
Doch für viele Menschen stellt Migration sogar eine Chance für eine
positive persönliche Entwicklung dar. Also muss es so etwas wie
"Schutzfaktoren" gegen seelischen Stress durch Migration geben.
Wissenschaftler haben unter anderem die folgenden Einflüsse gefunden:  Zum
einen den Grad der sozialen Unterstützung, also ein positives und die
eigene Lebensplanung förderndes persönliches Umfeld, das eben anders ist
als eine starke soziale Kontrolle, die sich an überkommenden Maßstäben
orientiert (7).

 

Den zweiten Faktor nennen Psychologen "Selbstwirksamkeitserwartung":

der Glaube daran, aufgrund der eigenen Fähigkeiten sein Leben erfolgreich

gestalten zu können (8).

 

Ferner sind Menschen, die sich nach Außen öffnen können ("extrovertiert"),

auch nach wissenschaftlicher Meinung eher in der Lage, die Schwierigkeiten zu
bewältigen, die mit einer neuen Lebensumgebung verbunden sein können (9).

Die Berliner Studie – Konzept, Ziele und einzelne Schritte

Die Ausgangshypothese der wissenschaftlichen Untersuchung zu Suizidraten
und Suizidprävention bei türkischstämmigen jungen Frauen in Deutschland
lautet: Durch Aufklärung, Hilfsangebote, Verringerung der belastenden und
Stärkung der schützenden Faktoren sowie durch einen besseren Zugang zum
psychosozialen Versorgungssystem lässt sich die Rate an depressiven
Zuständen und Suizidversuchen zumindest teilweise senken.

 

Die Studie hat mehrere Teile, von denen einige bereits abgeschlossen sind,

andere noch nicht.

Statistische Erhebungen
Studienmitarbeiter erheben in einem Zeitraum von drei Jahren die
Häufigkeit aller Suizidversuche in Berlin und Hamburg. Dazu haben sie dort
in einem ersten Schritt sämtliche Notaufnahmen aufgesucht, um –
selbstverständlich anonymisierte – Daten zu Suizidversuchen und den
Beweggründen der Frauen zusammenzutragen. Zudem wurden allgemeine
statistische Daten über die Gruppe junger türkischstämmiger Frauen in
beiden Städten erhoben.

Strategieentwicklung
Meist (auch) türkischsprachige Experten (wie Ärzte, Psychologen, Lehrer
und Religionsvertreter) haben ihre Erfahrungen in mehreren moderierten
Gruppen ausgetauscht und gemeinsam die Bausteine für eine Aufklärungs- und
Hilfskampagne entwickelt. Dies taten genauso Gruppen von Frauen
unterschiedlichen Alters mit türkischem Migrationshintergrund,
insbesondere, um Beweggründe für suizidale Krisen und Erwartungen an das
Versorgungssystem zu formulieren. Drittens wurde ausführlich mit einer
Gruppe von türkischen Frauen gesprochen, die schon einmal einen
Suizidversuch begangen hatten, um "aus der Betroffenenperspektive" zu
erfahren, wo Hilfe ansetzen muss.

Die Intervention
Auch dieser Studienteil besteht aus mehreren Schritten. Zunächst wurden
sowohl Multiplikatoren mit gutem Zugang zur Zielgruppe (erwachsene Frauen
mit türkischem Migrationshintergrund, Beratungsstellen etc.) als auch
Mitarbeiterinnen aus Medizin, Pflege, Psychologie und Sozialpädagogik als
Ansprechpartnerinnen für suizidgefährdete Mädchen und junge Frauen
trainiert. Nachdem sie Multiplikatoren-Seminare durchlaufen haben, werden
ihre Erfahrungen in regelmäßigen Abständen erfasst.


Der zweite Teil der Intervention besteht aus der breit angelegten, über
sechs Monate laufenden Medienkampagne "Beende Dein Schweigen, nicht Dein
Leben". Sie wurde von der Agentur wbpr entwickelt und umfasst Plakate und
Flyer, Radiospots und U-Bahn-TV sowie Vieles mehr. Begleitet wird dies von
der Pressearbeit (Agentur MWM-Vermittlung).

Drittens wurde beim Berliner Krisendienst (Region Mitte) eine Hotline
sowie eine Internetseite für Hilfesuchende eingerichtet. Hier stehen
türkisch- und deutschsprachige Fachleute zur Verfügung, die den
Anruferinnen – entweder Suizidgefährdete selbst oder deren Angehörige und
Freundinnen – verständnisvoll zuhören und Kontakte zu Hilfseinrichtungen
vermitteln. Auch wenn die wissenschaftliche Auswertung erst später
erfolgen kann, deuten die Erfahrungen der Hotline-Mitarbeiterinnen schon
jetzt darauf hin, dass vielen Hilfesuchenden geholfen werden kann.

Die Evaluation
Nach ihrem Abschluss wird die Intervention ausgewertet. Dazu werden
nochmals Suizidraten und ihre Veränderungen erfasst. Zudem werden mittels
einer Befragung die Zusammenhänge zwischen Risiko- und Schutzfaktoren
einerseits und andererseits seelischen Beschwerden einschließlich
Suizidalität sowie Inanspruchnahme des Gesundheitssystems analysiert. Aus
dem Vergleich zwischen Interventionsregion (Berlin) und Kontrollregion
(Hamburg) können Schlüsse gezogen werden, welche Maßnahmen den betroffenen
Frauen geholfen haben. Wenn die Intervention (Multiplikatorenschulung,
Medienkampagne und Hotline) einen Effekt zeigt, kann – so Meryam Schouler-
Ocak – das Ergebnis in adaptierter Form auf andere Regionen und
Zielgruppen übertragen werden. In der letzten Studienphase soll dazu ein
Handbuch erstellt werden.
---

* Leitende Oberärztin an der Psychiatrischen Universitätsklinik der
Charité im St. Hedwig Krankenhaus Berlin sowie Leiterin der  Arbeitsgruppe
Migrationsforschung an der Klinik für Psychiatrie und  Psychotherapie der
Charité (Campus Mitte)
** "Kulturelle Einflussfaktoren auf die Suizidalität" / "Das
Studienkonzept" / "Suizidrisiko bei türkischen Migrantinnen –
Hintergründe und Interventionsmöglichkeiten", u.a. in "Zeitschrift für
Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie (ZPPP)"
*** 01805/22 77 07, montags bis freitags von 9.00 bis 16.00 Uhr zum
Ortstarif
Internetseite für Betroffene: <

www.beende-dein-schweigen.de> / auf
türkisch: <www.suskunlugunasonver.de/>

Anmerkungen und Literatur im beigefügten PDF-Dokument
---

Verwendung bzw. Abdruck frei –  Belegexemplar bzw. link bitte an
MWM-Vermittlung
Kirchweg 3 B, 14129 Berlin
mwm@mwm-vermittlung.de
<www.mwm-vermittlung.de/BeendeDeinSchweigen.html>

Arten der Pressemitteilung:
Forschungsergebnisse
Forschungsprojekte

Sachgebiete:
Gesellschaft
Medizin
Philosophie / Ethik
Politik
Psychologie

Weitere Informationen finden Sie unter
http://www.mwm-vermittlung.de/BeendeDeinSchweigen.html

Zu dieser Mitteilung finden Sie Anhänge unter der WWW-Adresse:
http://idw-online.de/pages/de/attachment5253
PD4BdS

Die gesamte Pressemitteilung erhalten Sie unter:
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Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung stehen unter:
http://idw-online.de/pages/de/institution76


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