Sonntag, 2. Januar 2011

#Bodeneigentum und #Städtebau [Gustav Heinemann 1971]

Gustav Heinemann

Bodeneigentum und  Städtebau

 

 

Meine Damen und Herren!

 

Der Parole >>Rettet unsere Städte jetzt << liegt die Frage zugrunde, ob wir endlich wahrnehemen wollen, wo wir heute stehen und vor welchen Sachverhalten wir morgen in unseren Städten stehen werden – ob wir endlich wahr sein lassen wollen, was wir angerichtet haben, als wir vielen Entwicklungen in unseren Städten freien Lauf ließen, und wir in Kürze vollends anrichten werden, wenn wir so weitermachen wie bisher. Brechen diese Fragen jetzt so durch, daß wir zum Handeln kommen? Das ist das Thema dieser Tagung.

 

Ich brauche – zumal Ihnen – nicht zu schildern, worin die Not besteht, die zu dem Ruf – oder soll ich sagen: zu dem Aufschrei führt >>Rettet unsere Städte jetzt!<< Diese Not läßt sich von Tag zu Tag drastischer und bedrängender darstellen, wobei allenfalls die Betonungen einmal stärker auf das Zusammenbrechen des Verkehrs in städtischen Kerngebieten, das andere Mal auf die Bodenspekulation, einmal auf Dreck und Abgase in der Luft, das andere Mal auf die Lawinen von Müll oder noch andere Notstände fallen – wobei in jedem Fall aber die Geldnot der Städte dabei ist, die sie gegenüber der Vielfalt ihrer Aufgaben und den steigenden Aufwendungen für Personal oder Baukosten immer hilfloser macht.

 

Sind unsere städtischen Lebensverhältnisse noch menschenwürdig? Was nutzt z. B. die Verkürzung der Arbeitszeit, wenn die Wege zur Arbeit und nach Hause immer mehr Zeit wegnehmen? Wo behält bürgerliche Mitverantwortung noch Raum für Mitbestimmung, wenn die Zusammenhänge immer undurchsichtiger werden? Eine ganze Kette weiterer Fragen ließe sich anschließen.

 

Klar ist, daß die Übersiedlung vom Land in die Städte anhält. Bald werden vier Fünftel der Menschen der Bundesrepublik Deutschland in Städten wohnen. Die Ballungsgebiete wachsen. Vor Jahren schon habe ich von der Großstadt Euroa-Nordwest gesprochen, in der sich das Ruhrgebiet mit Teilen von Holland und Belgien zusammensiedelt, oder – um in der Nähe zu bleiben – von dem Raum München-Augsburg-Ingolstadt.

 

Kurzum, wie wird das alles weitergehen? Darauf zu antworten, ist Aufgabe dieser Tagung. Ich kann hier nicht vorgreifen. Ich beschränke mich auf eine grundsätzliche Bemerkung zur Frage des Bodeneigentums – wohl ahnend, daß Herr Oberbürgermeister Dr. Vogel auch darauf leidgeprüft zu sprechen kommen wird.

 

Meine Damen und Herren, wir sind glücklich darüber, daß wir in einem Rechtsstaat leben. Seine Kernstücke sind seit langem eigewurzelt. Dazu gehören die Trennung der Gewalten, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Justiz und Offenheit des Rechtsweges. Nach der nationalsozialistischen Verwüstung ist der Rechtsstaat durch Gewährleistung von Grundrechten und durch das Hinzutreten des Bundesverfassungsgerichts verbessert wiederhergestellt worden. Er ist bei uns jetzt so vervollkommnet, daß man bereits von einem Rechtsstaat spricht, der einige Abläufe zu sehr behindere.

 

Auf der anderen Seite aber ist das zweite Grundprinzip unserer Verfassung, nämlich die Sozialstaatlichkeit, offensichtlich arg im Rückstand.

 

Freilich, den Rechtsstaat konnte die Verfassung selber setzen. Seine Ausgestaltung im einzelnen ist längst geläufige wissenschaftliche und gesetzgeberische Bemühung.

 

Das Sozialstaatsprinzip dagegen ist ein allgemein gehaltener, also von der Verfassung noch nicht selbst wahrgenommener sondern an den Gesetzgeber weitergegebener Auftrag. Dieser Auftrag muß als eine ständig aus der Verfassung nach Verwirklichung rufende Verpflichtung empfunden werden. Das aber hat sich bislang in unserem Bewustsein weitgehend noch nicht durchgesetzt.

 

Eine der Quellen städtischer Nöte ist – ich sagte es schon – die Bodenspekulation. Wenn wir ihrer nicht Herr werden, fahren wir uns hoffnungslos fest.

 

Wann endlich lesen wir laut und deutlich, daß Artikel 14 des Grundgesetzes das Eigentum nicht lediglich gewährleistet, sondern auch von  der Möglichkeit spricht, seinen Inhalt und seine Schranken durch Gesetze zu bestimmen?

 

Wann endlich lesen wir laut und deutlich aus Artikel 14 des Grundgesetzes, daß jedes Eigentum verpflichtet und sein Gebrauch zugleich dem Wohle der Allgemeinheit Rechnung tragen soll?

 

Wann endlich erfüllt der Gesetzgeber bei dem Bodenrecht – um für den Augenblick davon zu sprechen – seine verfassungsmäßige Pflicht?

 

Auch die dritte Gewalt, die Justiz ist hier gerufen. Freilich kann und soll sie nicht an die Stelle des Gesetzgebers treten und etwa allgemeine Rechtssätze aus dem Sozialstaatsprinzip herleiten. Wohl aber kann und soll die Justiz im Einzelfall auch prüfen, ob ein Eigentümer sich dem vollen Inhalt von Artikel 14 des Grundgesetzes entsprechend verhält. Aus dem Bundesverfassungsgericht ist die Stimme eines seiner Mitglieder, des Richters Professor Dr. Leibholz, laut geworden, daß auch das Bundesverfassungsgericht das Verhalten eines Eigentümers auf seine Übereinstimmung mit dem Sozialstaatsprinzip überprüfen könne. Möchte es nur recht bald einmal dazu kommen, wenn der Gesetzgeber weiter so im Rückstand bleibt wie bisher.

 

Meine Damen und Herren, es gibt mancherlei Minderheiten uter uns. Einige von ihnen können in unserer auf Leistung, d. h. auf einen persönlichen Beitrag zum allgemeinen Wohlstand ausgerichteten Gesellschaft nicht Schritt halten, weil sie körperlich oder geistig behindert sind, ihnen schuldet die Gesellschaft eine Hilfe zum Ausgleich ihrer Behinderung. Es gibt eine andere Minderheit unter uns, der ohne Leistung große und größte Vermögen zufallen, weil sie Bodeneigentum besitzt, das die städtische Gesellschaft in steigender Dringlichkeit benötigt, ohne es vermehren zu können. Diese schulden ihrerseits der Gesellschaft den Beitrag aus ihrem Eigentum, den Artikel 14 des Grundgesetzes beschreibt.

 

Dieses deutlich auszusprechen, sei mein Beitrag zu dieser Tagung.

 

Ich schließe mit zwei Sätzen aus einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes aus dem Jahre 1966:

>>Die Tatsache, daß der Grund und Boden unvermehrbar und unentbehrlich ist, verbietet es, seine Nutzung dem unübersehbaren Spiel der freien Kräfte und dem Belieben des einzelnen volltändig zu überlassen; eine gerechte Rechts- und Gesellschaftsordnung zwingt vielmehr dazu, die Interessen der Allgemeinheit beim Boden in weit stärkerem Maße zur Geltung zu bringen als bei anderen Vermögensgütern<< (vgl. Bverf.G E21, 72 ff. [82]).

 

Ich wünsche dieser Tagung einen erfolgreichen Verlauf.

 

 

Gustav Heinemann

Bodeneigentum und Städtebau

Ansprache bei der 16. Ordentlichen Hauptversammlung des Deutschen Städtetages

München, 26. Mai 1974

[Gustav W. Heinemann; Präsidiale Reden; edition suhrkamp 790; 2. Auflage; 1977; S. 82 – 85; Suhrkamp Verlag; Frankfurt am Main]

 

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