Informationsdienst Wissenschaft - idw - Pressemitteilung
Verband Biologie, Biowissenschaften und Biomedizin in Deutschland e.V.,
Dr. Kerstin Elbing, 02.09.2010 13:17Thilo Sarrazin hat grundlegende genetische Zusammenhänge falsch verstandenBundesbankvorstand Thilo Sarrazin hat bei der Vorstellung seines neuen
Buches "Deutschland schafft sich ab - Wie wir unser Land aufs Spiel
setzen" provokante Thesen aufgestellt, die eine kontroverse Diskussion
ausgelöst haben. In Bezug auf die Aussagen Sarrazins zur Genetik verwehrt
sich der Verband Biologie, Biowissenschaften und Biomedizin in Deutschland
(VBIO e. V.) entschieden gegen jede Verfälschung und politische
Instrumentalisierung biologischer Fakten. Sei es durch Thilo Sarrazin
selbst, sei es durch andere Teilnehmer der derzeit laufenden öffentlichen
und medialen Debatte.Die genetischen Thesen von Herrn Sarrazin sind nicht mit den modernen
Erkenntnissen zur Evolutionsbiologie des Menschen vereinbar.
Evolutionsbiologisch gesehen ist der Mensch eine der genetisch homogensten
Spezies die es auf der Erde gibt. Im Vergleich zu anderen Spezies sind die
Unterschiede zwischen Populationsgruppen sehr gering. Tatsächlich sind die
Unterschiede innerhalb von Populationsgruppen etwa 5-fach höher als
zwischen ihnen.
Das genetische Repertoire des heutigen Menschen geht auf eine
Gründerpopulation von weniger als 50.000 Individuen zurück. Praktisch alle
heute existierenden Genvarianten gab es bereits in dieser Population und
diese sind in praktisch allen gegenwärtigen Volksgruppen zu finden. Die
einzige signifikante Differenzierung die kürzlich gefunden wurde, ist die,
dass sich nur die Vorgänger der Europäer und Asiaten mit Genmaterial des
Neandertalers vermischt haben, nicht aber die Afrikaner. Genau genommen
gibt es "genetisch reine" Menschen - aus evolutionsbiologischer Sicht
allerdings ein unsinniger Begriff - daher nur in Afrika.Auf die Art des genetischen Unterschiedes kommt es an
Genetische Unterschiede zwischen den heutigen Volksgruppen lassen sich im
Wesentlichen nur mit Hilfe von neutralen genetischen Markern nachweisen,
die per definitionem keine Rückschlüsse auf spezifische Eigenschaften
erlauben. Neutrale genetische Marker verhalten sich eben weil sie
neutral sind - nach statistischen Zufallsprinzipien. Unterschiede zwischen
Bevölkerungsgruppen sagen nichts anderes aus, als dass diese eine Zeit
lang in unterschiedlichen Regionen gelebt haben. Wenn man eine Gruppierung
von Volksgruppen mittels neutraler Marker durchführt, erhält man ein
ungefähres Abbild der geographischen Verteilung.
Darüber hinaus gibt es aber tatsächlich einige wenige funktionale
Genregionen in denen Menschengruppen sich unterscheiden. Ganz
offensichtlich gehören dazu die Gene, die die Hautfarbe bestimmen. Sie
sind als lokale Adaptationen entstanden, aus der Balance zwischen Schutz
vor UV-Strahlen und der Notwendigkeit über eine Lichtreaktion Vitamin D in
der Haut zu erzeugen. Ein weiteres prominentes Beispiel ist eine bei
Westeuropäern sehr häufige Genvariante, die es Erwachsenen erlaubt
Milchzucker zu verdauen. Dies ist evolutionsbiologisch eine genetische
Anpassung an die kulturelle Errungenschaft der Milchverarbeitung (am
häufigsten ist diese Genvariante in Holland). Bei Japanern gibt es dafür
genetische Anpassungen in der Darmflora, die es ihnen erlauben Nährstoffe
aus Meeresalgen zu verwerten. Andere Unterschiede betreffen Resistenzen
gegen Krankheitserreger, wie etwa die mittelalterliche Pest.Genetische Unterschiede und Intelligenz
Dass es bei Volksgruppen genetische Unterschiede in Bezug auf
Intelligenzleistungen geben könnte, ist nach dem gegenwärtigen Stand des
Wissens nicht zu erwarten. Intelligenz wird von vielen Genregionen
beeinflusst, die in jedem Individuum neu zusammengewürfelt werden. Das
kann zu großen Unterschieden innerhalb einer Gruppe führen, wirkt aber
gleichzeitig im Vergleich zwischen Gruppen wie ein Puffer.
Wissenschaftlich formuliert: die Varianz innerhalb der Gruppe übersteigt
die Unterschiede zwischen Gruppen bei weitem. Selbst wenn es zu lokalen
Veränderungen der Häufigkeit von Genvarianten kommen sollte (wie z.B.
durch Inzucht in Alpentälern), würden diese Verteilungsunterschiede im
Falle von Rückkreuzungen schnell wieder ausgeglichen (dafür reicht bereits
ein 1%-iger Genfluss). Es ist daher davon auszugehen, dass jede
Volksgruppe grundsätzlich das gleiche genetische Potential für
Intelligenzleistungen hat.
Dass es auch messbare Unterschiede in Intelligenzleistungen gibt, liegt
nur daran, dass die Intelligenztests durch kulturelle Vorerfahrungen
beeinflusst werden. Jede Volksgruppe, die einen Intelligenztest auf der
Basis ihrer eigenen Kultur entwickeln würde, würde feststellen, dass die
meisten anderen Kulturen durchschnittlich schlechtere Leistungen zeigen
als die Mitglieder des eigenen Kulturkreises. Da aber kulturelle Traditionen nicht genetisch festgeschrieben sind, können sie sich auch innerhalb einer Generation verändern. Die Großmutter ist dem Enkel bei Formulierung von handschriftlichen Briefen haushoch überlegen, während sie mangels einschlägiger Erfahrungen bestimmte (Intelligenz?) Leistungen am Computer nicht erbringen kann.Subjektive Wahrnehmung von Unterschieden
Dass wir neben den offensichtlichen Unterschieden in den Hautfarben
überhaupt Ethnien unterscheiden können, liegt an den ausgesprochen hoch
entwickelten kognitiven Fähigkeiten des Menschen, die für sie relevante
Informationen aus der Umwelt akzentuieren. Deswegen können wir als
Europäer auch sehr gut europäische Volksgruppen unterscheiden, asiatische
aber viel schlechter. Umgekehrt ist es aber genauso - Asiaten können
europäische Volksgruppen viel schlechter unterscheiden. Was uns subjektiv
als großer Unterschied erscheint, muss daher nicht bedeuten, dass es auch
tatsächlich einen großen genetischen Unterschied gibt.Fazit: Herr Sarrazin hat die grundlegenden genetischen Zusammenhänge
falsch verstanden - seine Aussagen beruhen auf einem Halbwissen, das nicht
dem Stand der Evolutionsforschung entspricht.Für Rückfragen steht Ihnen Prof. Dr. Diethard Tautz
(tautz@evolbio.mpg.de), Evolutionsbiologe und Präsident des VBIO zur
Verfügung*****
Literatur zum Thema:
Barbujani G, Colonna V (2010). Human genome diversity: frequently asked
questions. Trends in Genetics 26: 285-295.Arten der Pressemitteilung:
WissenschaftspolitikSachgebiete:
Biologie
Chemie
Medizin
PolitikDie gesamte Pressemitteilung erhalten Sie unter:
http://idw-online.de/pages/de/news384817 Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung stehen unter:
http://idw-online.de/pages/de/institution1163
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