Der Weg in die Knechtschaft
Hintergrund u Lettland, einst neoliberaler Musterstaat, befindet sich in einer tiefen ökonomischen Krise. Das schuldenbasierte Entwicklungsmodell hat die baltische Republik ruiniert
Doch dies war nur die eine, blendende Seite des Baltikums, und nur die bekam der Wochenendtourist in der Regel zu sehen. Ließ man aber einmal die herausgeputzten Innenstädte hinter sich, bot sich ein ganz anderes Bild. Man durchquerte riesige Plattenbausiedlungen, die seit dem Ende der Sowjetunion nicht einen neuen Anstrich gesehen haben, passierte stillgelegte Fabriken, deren zerfallene Fassaden mit gigantischen Reklameschildern verdeckt sind. Ging es weiter in das flache Land hinein, so wurde das Bild noch trostloser: Aufgelassene Kolchosen, Nebenstraßen, auf denen Gras wächst, und überall verlassenes Land, das sich die Natur langsam zurückerobert. Man hätte es längst wissen können, hätte man sich dafür nur interessiert: Um die baltischen Staaten stand und steht es überhaupt nicht gut. In Litauen liegen seit Jahren ganze Landstriche brach, in denen keine Agrarwirtschaft mehr betrieben wird. In Lettland und in Estland leiden die diskriminierten russischsprachigen Minderheiten unter Arbeits- und Perspektivlosigkeit, sind in ihren öden Neubausiedlungen Alkohol- und Rauschgiftsucht sowie Prostitution verbreitet. Wer weiß schon, daß aus diesem Grund ausgerechnet der neoliberale Musterstaat Estland das Land mit der höchsten AIDS-Rate nördlich der Sahara ist? Und wer hat zur Kenntnis nehmen wollen, daß seit dem Beitritt der baltischen Länder zur EU 2004 immer mehr, meist gut ausgebildete junge Menschen ihre Heimatländer verlassen haben und ihr Glück in Westeuropa, vor allem in Großbritannien und Irland, suchen?
Wachstum auf Pump
Weshalb dieser tiefe Einbruch? Welches Entwicklungsmodell ist hier in die Krise geraten? Nehmen wir Lettland als Beispiel, dessen ökonomischer Zusammenbruch umfassender ist als derjenige der Vereinigten Staaten während der Großen Depression. Den Weg des baltischen Landes bezeichnen die beiden US-amerikanischen Ökonomen Michael Hudson und Jeff Sommers als »Weg in die Knechtschaft«: »Sein Schicksal ist so typisch für die postsowjetischen Ökonomien, nur etwas extremer. ( ) Es waren die westlichen Neoliberalen, die diese Ökonomien zugrunde finanzierten (financialized, Hudson/Sommers), unter dem lauten Applaus der Weltbank, Washingtons und Brüssels.«2 Und Zsolt Darvas vom belgischen Bruegel-Institut schrieb: »Die drei baltischen Länder sind mit der tiefsten Rezession unter allen Ländern dieser Welt konfrontiert, und es ist nicht das Versagen der Politiker und der Völker dieser Länder, daß sie in dieser Lage sind.«3
Was waren die Stationen auf dem Weg in diese Knechtschaft? Das bei der Unabhängigkeit Lettlands 1991 vorgefundene Vermögen wurde nahezu restlos privatisiert, unter westlichen Investoren und neuen einheimischen Oligarchen aufgeteilt und anschließend hoch beliehen. Die Kredite wurden meist bei Auslandsbanken in Fremdwährungen aufgenommen. Für Lettland beträgt der Anteil dieser Fremdwährungskredite in Euro, Schweizer Franken, Britischen Pfund oder Schwedischen Kronen nicht weniger als 86,3 Prozent aller Kredite.4 Im Jahr 2007 betrugen die Schulden Lettlands gegenüber Auslandsbanken rund 130 Prozent des Bruttoinlandsprodukts! Kreditgeber waren vor allem skandinavische Banken. »Allein die skandinavischen Großbanken SEB, Nordea und Swedbank verliehen nach Berechnungen der schwedischen Finanzaufsicht rund 490 Milliarden Kronen ins Baltikum.« (FAZ vom 9.9.2009) Aber wie überall in den jetzt hoch verschuldeten Ländern der europäischen Peripherie sind auch die Geldhäuser aus Deutschland unter den Gläubigern. Die Forderungen der deutschen Banken betragen 4,7 Milliarden Euro.
Kommunizierende Röhren
Die im Ausland aufgenommenen Kredite wurden aber nicht nur unproduktiv angelegt. Sie entzogen dem Land sogar wichtige Mittel. Für ihre Sicherung dienten Land, Immobilien und privatisierte Infrastruktur. Damit nun die Zinsen auf die Kredite gezahlt werden konnten, verzichtete man fast ganz auf die Besteuerung dieser Werte. Die Erträge aus Land, Immobilien und privatisierter Infrastruktur gingen nicht in den inländischen Wirtschaftskreislauf, sondern an ausländische Kreditgeber. Da man von einer progressiven Besteuerung größerer Vermögen nichts wissen wollte, sich statt dessen eine niedrige Flattax von nur 25 Prozent bei der Einkommenssteuer und einen einheitlichen Unternehmenssteuersatz von lediglich 15 Prozent leistete, legte sich so die ganze Steuerlast auf Arbeit und Landwirtschaft. Das wenige, was von dort an den Staat noch abgeführt wurde, reichte aber weder für die Förderung der industriellen und landwirtschaftlichen Entwicklung noch für den Erhalt oder gar Ausbau staatlicher Infrastruktur.
Dieses »Entwicklungsmodell« ist spätestens mit Beginn der Krise im Herbst 2008 gescheitert. Die ausländischen Kreditquellen versiegten schlagartig. Die Immobilienblase platzte und riß Anleger wie Spekulanten in die Insolvenz. Die Preise für Häuser und Wohnungen fielen um 50 Prozent. Das zweitgrößte lettische Kreditinstitut, die Parex Bank, mußte verstaatlicht werden, um sie vor dem Untergang zu retten. Viele der schönen Mercedes', BMW, Porsches und Audis wurden von Gerichtsvollziehern eingesammelt und warten nun, meist vergeblich, auf neue Besitzer. Die Einzelhandelsumsätze gingen um 30 Prozent zurück. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) meldete: »Als klinisch tot hat die Wirtschaft seines Landes gar der Präsident der lettischen Notenbank, Ilmers Rimsevics, bezeichnet.« (FAZ vom 9.9.2009)
Nirgendwo sonst in der EU stieg die Rate der Arbeitslosigkeit so rasch und so stark wie in Lettland. Zwischen dem zweiten Quartal 2008 und 2009 verdoppelte sie sich von 9,1 auf 20,9 Prozent. Die Jugendarbeitslosigkeit betrug im dritten Quartal 2009 33,6 Prozent und wurde nur noch von der Spaniens übertroffen.6 Angesichts dieser desaströsen Lage auf dem Arbeitsmarkt haben inzwischen Zehntausende weitere Letten ihr Land verlassen. Und viele weitere bereiten sich darauf vor: Die Sprachkurse für Englisch, aber auch für Russisch sind überfüllt. Man vermutet, daß bereits gut 200000 der 2,3 Millionen Einwohner des Landes im Ausland leben und arbeiten. Wie in einem Entwicklungsland stellen die Überweisungen dieser Arbeitsimmigranten inzwischen eine der wichtigen Finanzquellen des Landes dar. Zum Bild des Niedergangs gehört auch der drastische Geburtenrückgang.
Mit dem Zusammenbruch seiner Wirtschaft verlor Lettland auf einen Schlag jeden Zugang zu den internationalen Finanzmärkten. Im Unterschied zu Griechenland, das noch im Januar 2010 ohne Probleme eine Staatsanleihe von acht Milliarden Euro plazieren konnte, gelang dies Lettland 2009 nicht mehr. Für 2010 hofft man nun, zumindest 2,7 Milliarden Euro aufnehmen zu können, geplant waren allerdings mal vier Milliarden. Die Zahlungsfähigkeit Lettlands wird heute durch Hilfen des IWF und der EU aufrechterhalten. Als Bittsteller des IWF findet sich das EU-Land dabei in einer Reihe mit der Republik Kongo, Afghanistan, Costa Rica, Ghana, Georgien und Haiti. Die IWF-Hilfe für Lettland beläuft sich auf insgesamt 1,7 Milliarden Euro. Mehr als zwei Milliarden Euro brachte eine Ländergruppe, bestehend aus skandinavischen Staaten, Polen und der Tschechischen Republik, auf. Hinzu kommen 3,1 Milliarden Euro von der Europäischen Kommission. So kam ein Hilfspaket von insgesamt 7,5 Milliarden Euro zusammen. Anders als für die Länder der Euro-Zone gibt es bei Hilfen für die Nicht-Euro-Länder der EU kein Verbot eines Bail-outs, eines Heraushauens.7 Für solche Hilfen bei Zahlungsbilanzschwierigkeiten eines Mitgliedslandes steht der EU-Kommission ein Fonds von insgesamt 50 Milliarden Euro zur Verfügung. Neben Lettland erhielten 2009 auch Rumänien (fünf Milliarden Euro) und Ungarn (6,5 Milliarden Euro) Kredite aus diesem Brüsseler Topf.
Verarmungspolitik
Man kann am Fall Lettland sehr gut studieren, was passiert, wenn sich ein in Zahlungsschwierigkeiten geratenes Land an den IWF und an die Europäische Kommission wenden muß. Ganz ähnlich würde es zugehen, würde man dem jetzt vorgeschlagenen Europäischen Währungsfonds die Sanierung in die Hand geben. Diejenigen, die heute mal so eben die Forderung nach einem Bail-out Griechenlands durch die EU oder einzelne Mitgliedsstaaten fordern, sollten bedenken, daß der dafür zu zahlende Preis sehr hoch ist.
In der Euro-Falle
An Stelle der Aufgabe der Bindung des Lat an den Euro und seiner dann möglichen Abwertung empfiehlt die Europäische Kommission eine interne Abwertung. Die internationale Konkurrenzfähigkeit des Landes soll über ein Absenken der Löhne und der Preise wiederhergestellt werden. Auch Griechenland wird dieser Weg empfohlen. Diese Methode gleicht aber dem berühmten Herausziehen aus dem Sumpf am eigenen Schopfe. Im Ergebnis wird die sich ausbreitende Depression nur weiter vertieft, denn ein weiteres Absenken der Nachfrage führt unweigerlich zu weiteren Insolvenzen und beschleunigt damit den Abwärtstrend der lettischen Wirtschaft. Der Weg Lettlands gleicht heute dem Argentiniens zwischen 1999 und 2002. Auch damals war es die feste Bindung der Landeswährung an eine Fremdwährung, an den Dollar, die ein Land in den Staatsbankrott trieb.
Um einem solchen Bankrott zu entgehen, muß Lettland eine Wende vollziehen. Die feste Anbindung des Lat an den Euro ist aufzugeben und die Währung abzuwerten. Die ausländischen Gläubiger der lettischen Unternehmen und Privatpersonen müssen sich zu großzügigen Umschuldungen und zu Zinsverzicht bereit erklären. Verweigern sie sich dem, so werden sie zahlreiche Totalverluste erleiden. Das völlig irreale Ziel der Europäischen Kommission, das Haushaltsdefizit des Landes auf den Maastricht-Schwellenwert von drei Prozent bis 2011 drücken zu wollen, muß aufgegeben werden. Daß damit auch die Einführung des Euro in weite Ferne rückt, ist kein Schaden. Wichtiger ist es, daß das Land sehr viel mehr Zeit für einen Schuldenabbau bekommt. Diese jetzt dringend notwendigen Schritte können die ersten auf dem Weg aus der Knechtschaft des Landes sein.
1 Vgl. Klaus Dräger/Andreas Wehr, »Die EU und die Krise: Die ewige Wiederkehr des Gleichen«, in: Jürgen Klute (Hrsg.) Jeder gegen Jeden? Die EU und die Krise, Supplement der Zeitschrift Sozialismus 1/2010, S. 34 ff.
2 Michael Hudson and Jeff Sommers, »Latvia's Road to Serfdom«, in: Counterpunch www.counterpunshorg/hudson02152010.html Der Titel des Aufsatzes ist natürlich eine ironische Reminiszenz an das berühmte Werk Friedrich August Hayeks »Der Weg in die Knechtschaft«
3 Zitiert nach der Nachrichtenagentur Reuters, »Estonia test case for post-crisis euro zone expansion«, 14.12.2009
4 Zsolt Darvas und Jean Pisani-Ferry: Avoiding a new European divide; Bruegel Policy Brief 2008/10, December 2008
5 Europäische Zentralbank, Jahresbericht 2007, S. 93
6 Vgl. die Meldung der Nachrichtenagentur eis: »EU jobless rate continues to rise«, 1.12.2009
7 Die Rechtsgrundlage ist Artikel 143 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEU)
8 Der Kurs zwischen Euro und Lat ist seit dem 1.1.2005 im Verhältnis 1 Euro gleich 0,702804 Lat festgelegt
9 »The IMF thinks Latvia should devalue its currency. EU officials are determined that it should not, for fear of the wider effect on ex-communist countries that are trying to join the euro zone«, in: Ailing fast, Economist, 7.10.2009
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