Ehrliche Aufbauhelfer und rücksichtslose Zocker
Von Wilfried Neiße, Potsdam
(Neues Deutschland)
http://www.neues-deutschland.de/artikel/179290.ehrliche-aufbauhelfer-und-ruecksichtslose-zocker.html
Aktuelle Stunde des Landtags zum Thema »Anschluss oder Beitritt« der DDR Wenn die Gegenwart nicht mehr viel zu bieten vermag, dann wendet man sich der Vergangenheit zu. Lang und breit wogte gestern im Landtag die Debatte hin und her, wie denn nun die Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands »richtig« zu sehen sei.Pessimisten ahnten schon, dass es diesmal nicht bei den 60 Minuten bleiben würde, auf die sich eine Aktuelle Stunde für gewöhnlich beschränkt. Die FDP-Fraktion hatte das Thema »20 Jahre deutsche Einheit Anschluss oder Beitritt« auf die Tagesordnung gesetzt, und als schließlich alles vorbei war, konstatierte Landtagspräsident Gunter Fritsch (SPD) eine Verdoppelung der veranschlagten Zeit es seien »zwei Aktuelle Stunden« gewesen.Anlass war ein Interview, das Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) dem Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« gegeben hatte, und in dem er eine »gnadenlose Deindustrialisierung« weiter Regionen Ostdeutschlands und eine »Anschlussmentalität« vieler Westdeutscher beklagt hatte.Beides bekräftigte Platzeck gestern und legte nach. Es seien drei Gruppen von Westdeutschen gewesen, mit denen die einstigen DDR-Bürger nach der Wende Bekanntschaft geschlossen hätten: die Aufbauhelfer aus innerer Überzeugung, die Karrieristen und die rücksichtslosen Zocker. Bei allem, was erreicht und geleistet worden sei, bei allem, was an Geld geflossen sei, müsse es möglich und gestattet sein, über die negativen Seiten und Erfahrungen zu sprechen, forderte er. Dazu gehöre das Erlebnis, dass leistungsfähige Betriebe im Osten »genau zu dem Zweck« gekauft wurden, um sie als Konkurrenten auszuschalten. Auch das Prinzip »Rückgabe vor Entschädigung« habe sich als bedrückend für viele Ostdeutsche herausgestellt.Die CDU-Fraktionsvorsitzende Saskia Ludwig reduzierte die DDR in gewohnter Weise auf »Diktatur, Bespitzelung, Bevormundung, Einschnitte in die Menschenrechte und Angst«. Damals seien die Lebensbedingungen »unerträglich« gewesen. In Brandenburg würden diese Seiten der DDR-Geschichte »verdrängt, relativiert und instrumentalisiert«, behauptete sie. Und das sei in anderen neuen Ländern nicht so. Bezogen auf LINKE und SPD fügte Ludwig hinzu, es gebe »politische Parteien, die ein Interesse an dieser Stimmung haben und auf dieser Welle reiten«. Die CDU-Politikerin warf Platzeck vor, seinerzeit in der Volkskammer gegen die deutsche Einheit gestimmt zu haben.Für die LINKE sagte die Fraktionsvorsitzende Kerstin Kaiser, dass es im Landtag keine Partei gebe, auf welche diese Vorwürfe zutreffe. Vielmehr seien es die Oppositionsparteien, die über heutige Probleme und Erfahrung nicht zu sprechen bereit seien und welche die »Widersprüchlichkeit des Alltags« nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Die Angst vor Arbeitslosigkeit beispielsweise sei eine Angst, die erst nach 1989 die Ostdeutschen massenhaft ergriffen habe. Wer seinerzeit ehrlichen Herzens Helmut Kohl und die alte Bundesrepublik gewählt habe, der habe nicht mit einem Staat rechnen müssen, der durch tiefe soziale Ost-West-Unterschiede bei Lohn und Rente, durch Hartz IV, Rente mit 67, ein Zwei-Klassen-Bildungssystem und Beteiligung deutscher Soldaten an Kriegen geprägt sei. Kaiser fragte: »Ist die Bundesrepublik nicht merklich anders geworden?« Ausdrücklich verteidigte Kerstin Kaiser die Äußerungen des Ministerpräsidenten gegen »ideologische Tugendwächter«.Es sei eine »unglaubliche Diffamierung«, Platzeck die Meinung zu unterstellen, die deutsche Einheit sei mit dem Anschluss Österreichs an das Hitlerreich 1938 gleichzusetzen gewesen, bemerkte die Linksfraktionschefin. »Viele benutzen heute auch das Wort von der friedlichen Revolution, obwohl es einmal eine Oktoberrevolution gegeben hat.«Der SPD-Fraktionsvorsitzende Dietmar Woidke wies darauf hin, dass sich nur 25 Prozent der Ostdeutschen als »richtige Deutsche fühlen«. »Wir müssen offen auch über Fehler reden können.«Die nach der Wende Ostdeutschland nicht mehr verlassende Massenarbeitslosigkeit war nach Ansicht von Grünen-Fraktionschef Axel Vogel keine Schuld Westdeutscher, sondern »in der DDR und ihrer Geschichte angelegt«. Die DDR-Wirtschaft sei marode gewesen in einem Ausmaß, »von dem wir uns heute keine Vorstellung mehr machen können«.Unter den LINKEN wurde danach angemerkt, dass Brandenburg für diese These ein schlechtes Beispiel sei. Denn was es heute an Industrie in Brandenburg gebe die Megawerke in Schwedt und Eisenhüttenstadt, die Stahlwerke in Brandenburg und Hennigsdorf, die Kohle- und Energiewirtschaft im Süden des Bundeslandes , fuße durch die Bank auf erfolgreichen DDR-Investitionen.»Mit dem Tag der Einheit verbinden viele von uns nicht nur gute Gefühle«, sagte Ministerpräsident Platzeck. Es habe viele Verwerfungen gegeben, auch unnötige. »Klar sind wir froh über die Einheit, aber viele Menschen haben seither auch eine Menge Sorgen gehabt.«
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen