Donnerstag, 4. November 2010

Die #Finanzkrise ist eine #Systemkrise #des #Kapitalismus - Elmar Altvater [Leviathan; 2009; Volume 36; Number 2]


Die Finanzkrise ist eine Systemkrise des Kapitalismus

Elmar Altvater

(Leviathan; 2009; Volume 36; Number 2)


 

Der Text geht auf einen Beitrag zu der von Susanne Lütz organisierten Podiumsdiskussion "Die Finanzkrise und ihre Folgen für den Kapitalismus" zurück, die am 17. November 2008 am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin stattfand.

 

In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die kapitalistische Weltwirtschaft mehr und mehr in einen "finanzgetriebenen Kapitalismus" verwandelt. Die "hardware" sind immer noch Industrie, Dienstleistungen und Landwirtschaft, also das, was heute als "reale Ökonomie" bezeichnet wird; die "software", die die "hardware" treibt, aber sind die Finanzmärkte.

 

Diese Neuordnung des Komplexes von "hardware" und "software" wird auch als "Finanzialisierung" bezeichnet (vgl. Wahl 2009), die in den 1970er Jahren ihren Ursprung hat. In jenem Jahrzehnt haben die nationalen Staaten und internationalen Organisationen die Bildung der entscheidenden Preise auf den Weltmärkten aus der Hand gegeben und dem Agieren privater Akteure, also dem "freien Spiel der Kräfte" auf Finanzmärkten überlassen.

 

Die Zinsen wurden nicht mehr von öffentlichen Einrichtungen, den Zentralbanken, festgelegt; das ist als "Verlust der Zinssouveränität" (Scharpf 1987) an private Akteure auf globalen Märkten bezeichnet worden.

 

Die Wechselkurse wurden ebenfalls der Konkurrenz von Banken und transnationalen Konzernen auf globalen Märkten ausgeliefert, als das Bretton Woods-System fixer Wechselkurse zu Gunsten eines Systems (Robert Triffin nannte es ein "non-system") flexibler Kurse aufgegeben wurde. Auch die Bildung der Preise für fossile Energie, insbesondere von Öl wurde immer mehr Angelegenheit der Zukunftsmärkte für Zertifikate über Öl (Futures-Märkte), deren Einfluss auf die Preisgestaltung bei der Ölpreisrallye im Sommer 2008 deutlich hervorgetreten ist.

 

Weil seit den 1970er Jahren die globalen Finanzmärkte die treibende Kraft der Globalisierung des Kapitalismus sind, brechen die Krisen heute mehr als in der Vergangenheit als Finanzkrisen aus. Erst in ihrem weiteren Verlauf werden sie zur Krise der "realen Ökonomie", obwohl das Kapital in seinem Kreislauf die "reale" Produktions- und Zirkulationssphäre ebenso wie die monetäre Sphäre von Geld und Finanzen durchmisst und der letzte Grund der Krise in der Überakkumulation des Kapitals gesucht werden muss (vgl. ausführlicher Altvater 2009). Die konkrete Krise ist daher immer finanzielle und reale Krise zugleich.


Die Sequenz von Finanzkrisen seit den 1970er Jahren

 

Finanzkrisen haben seit der Deregulierung der Finanz- und Währungsmärkte in den 1970er Jahren globale Reichweite. Dies heißt freilich nicht, dass alle Weltregionen gleichzeitig und gleichermaßen betroffen sind. Zunächst wurde die so genannte "Dritte Welt" von finanziellen Turbulenzen nach der Liberalisierung der Finanz- und Währungsmärkte in den 1970er Jahren erfasst, wenn man von vergleichsweise leichten Währungskrisen (in die europäische Währungen wie das britische Pfund oder die italienische Lira verwickelt waren) nach dem Zusammenbruch des Bretton Woods-Systems 1971/73 und vor der Etablierung des Europäischen Währungssystems 1979 absieht.

 

Das "Recycling" der "Petrodollars" nach dem Ölpreisschock von 1973 bestand in erster Linie darin, die gestiegenen Einnahmen der Ölexporteure mit Hilfe des US-amerikanischen Bankensystems an Kreditnehmer in der "dritten Welt" zu leiten. Das war erstens günstig für die US-Währung, denn der US-Dollar konnte als Ölwährung etabliert werden, obwohl er bis 1979 rapide an Wert verloren hatte (Clark 2005, S. 21–42). Das war zweitens von Vorteil für die US-Banken und die anderen international operierenden Banken in Zürich oder London und Frankfurt, die am Recycling prächtig verdienen konnten.

 

Das war drittens eine Chance für Entwicklungsländer, die zunächst billig und ohne politische Auflagen (ganz anders als wenn sie IWF- oder Weltbankkredite aufgenommen hätten) an Kredite herankommen konnten. Viertens wurde auf diese Weise die US-Hegemonie in der Welt gestärkt, die infolge der Niederlage in Vietnam und der Abwertung des US-Dollar Risse bekommen hatte.

 

Doch die Zinsen blieben nicht niedrig, sie stiegen infolge der vom damaligen Chef des Federal Reserve Systems der USA, Paul Volcker, noch unter der Carter-Administration eingeleiteten monetären Restriktionspolitik (infolge des so genannten "Volcker-Schocks") beginnend mit 1979 und dann in der Reagan-Ära in ungeahnte Höhen. Die Schuldnerländer konnten den Schuldendienst nicht mehr schultern, die Schuldenkrise der 1980er Jahre war unvermeidbar. Sie bescherte vielen Ländern Lateinamerikas, Afrikas und Asiens ein – hinsichtlich des Wachstums des BIP und der Bekämpfung der Armut – "verlorenes Jahrzehnt".

 

Die Schuldenkrise bot die Gelegenheit zur Veränderung der Funktionsbestimmung der Institutionen des Bretton Woods-Systems, des Internationalen Währungs Fonds (IWF) und der Weltbank. Der IWF hatte mit der Flexibilisierung der Wechselkurse seine im Jahre 1944 vereinbarte Funktion als Institution der Währungsstabilisierung verloren, wurde aber nun mit der Aufgabe betraut, die Fähigkeit zum Schuldendienst der verschuldeten Länder gegenüber den privaten, international operierenden Banken zu sichern.

 

Zu diesem Zweck wurde das Regelwerk des "Konsenses von Washington" erarbeitet (Williamson 1990, 2003; Enquete-Kommission 2002, S. 74). Es verlangte von allen verschuldeten Ländern eine restriktive Geldpolitik, die Reduzierung von Budgetdefiziten, eine Beschränkung von Sozialtransfers, eine rigide Lohnpolitik und eine Währungsabwertung zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit und zur Erzielung von Deviseneinnahmen aus Exportüberschüssen.

 

So wurde der Versuch gemacht, das im Zusammenhang mit den deutschen Reparationen in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts diskutierte Aufbringungs- und Transferproblem zu lösen: Im Lande müssen Überschusse aufgebracht werden, die exportiert werden, um aus den Deviseneinnahmen den Schuldendienst bezahlen zu können. Keynes hat sich ausführlich zu diesem Problem geäußert und dabei auch gezeigt, dass der Schuldendienst nicht nur das verschuldete Land schädigt, sondern auch das Empfängerland, das ja ein Handelsbilanzdefizit zulassen muss, damit das verschuldete Land mit Exportüberschüssen jene Devisen einnehmen kann, die es als Schuldendienst zu transferieren verpflichtet ist (Keynes 1929; anders Ohlin 1929). Zum Programm des Washington-Konsenses gehört auch die Privatisierung öffentlicher Unternehmen und Güter und damit die Beschränkung öffentlicher Räume.

 

Dies hatte gesellschaftsverändernde Folgen in allen betroffenen Ländern.

 

Auch die "zweite Welt" des real existierenden Sozialismus war von der Schuldenkrise betroffen. Hohe Außenschulden (gegenüber westlichen Banken) erforderten hohe Devisentransfers.

 

Doch die Wettbewerbsfähigkeit der real-sozialistischen Wirtschaft war nicht ausreichend. In Polen verhinderten überdies die Streiks der Solidarnosc-Bewegung die Aufbringung der Überschüsse und führten schon 1981 zur Einstellung des Schuldendienstes (mit der Folge des Jaruzelsky-Putsches zur Disziplinierung der aufständischen Arbeiter auf den Danziger Werften und anderswo).

 

Die Kreditkrisen in einer Reihe anderer osteuropäischer Länder (einschließlich der DDR) erzwangen die wirtschaftliche Öffnung und daher auch das Ende des Außenhandelsmonopols. Schulden gegenüber westlichen Finanzinstituten waren also der entscheidende Grund für die Kapitulation der staatlichen Plansysteme vor dem Weltmarkt. Das Ende des real existierenden Sozialismus war dann nur noch eine Frage der Zeit, der Fall der Mauer schloss 1989 das "kurze 20. Jahrhundert" (Hobsbawm 1995) ab.

 

In den 1990er Jahren wurden die Schwellenländer Opfer der Finanzspekulation auf den inzwischen weitgehend liberalisierten Kapitalmärkten. Mexiko geriet 1994 in eine schwere Finanzkrise, die das Land etwa 20 Prozent des Sozialprodukts kostete (vgl. Luna-Martinez 2002).

 

Die so genannten dynamischen asiatischen Wirtschaften (die "asiatischen Tiger") folgten 1997 und im Anschluss daran gerieten 1998 Russland und die Türkei, Brasilien 1999 und Argentinien 2001 und andere lateinamerikanische Länder in schwere Finanzkrisen, die ihnen hohe Verluste zwischen 20 und 60 Prozent des Sozialprodukts bescherten (vgl. Wyplosz 1999, S. 152–189). Der damalige geschäftsführende Direktor des IWF, Michel Camdessus, bezeichnete die Finanzkrise Mexikos schon 1994 weitsichtig als "erste Finanzkrise des 21. Jahrhunderts".

 

Denn anders als in der Schuldenkrise der 1980er Jahre waren die Kredite an einzelne Schuldnerländer inzwischen verbrieft und konnten daher an der Börse – oder außerbörslich – von Banken und Bankkonsortien gehandelt werden. Auch damals wurden Finanzinnovationen entwickelt, um bessere Geschäfte machen zu können. Höchst risikoreiche und folglich "toxische" Papiere wurden wie der schwarze Peter auf Derivatenmärkten herumgereicht. Sie wurden zu immer neuen Paketen "strukturierter Papiere" verschnürt; für die mit höchstem Risiko behafteten Papiere interessierten sich sogenannte "Geierfonds", die das hohe Risiko wegen hoher Renditeaussichten einzugehen bereit waren (vgl. Partnoy 1998, der, selbst Devisenspekulant, die "Finanzinnovationen", die zur Mexiko-Krise geführt haben, als literarische Vorlage verwendet).

 

Die Finanzkrise der 1990er Jahre brachte also ebenso wie die Schuldenkrise im Jahrzehnt zuvor finanzielle Innovationen, die die Fortsetzung der finanziellen Spekulation im finanzgetriebenen Kapitalismus erlaubten.

 

Die nächste Runde im "globalen Kasinokapitalismus" (so Susan Strange 1986) wurde nach der Finanzkrise Asiens und Lateinamerikas eröffnet, als die "dot.com"-Blase mit aus Asien in die USA "repatriiertem" Kapital aufgepumpt wurde.

 

Die wilden Versprechungen der "new economy" erwiesen sich als illusionär, und als die Blase kurz nach der Jahrhundertwende platzte, war dies ein untrügliches Anzeichen dafür, dass auch die "erste Welt" der westlichen Industrieländer nicht vor den von "ihrer Finanzindustrie" erzeugten Krisen gefeit war. Doch damals ging es noch gut, dank des September 9/11 und der nachfolgenden Politik des superleichten Geldes der US-Zentralbank unter dem "billigen Jakob des Geldes", unter Alan Greenspan.

 

Alle Welt war damals des Lobes voll und bewunderte die geniale Art und Weise, wie Greenspan die finanziellen Herausforderungen von 9/11 meisterte. Heute wird Greenspan für das verantwortlich gemacht, was nun folgte: für einen ungezügelten Immobilienboom, in dessen Verlauf auch wertlose Immobilien beliehen (subprime) und US-Haushalte mit Geld ausgestattet wurden, das sie vor allem zum Kauf von chinesischen Waren zu Konsumzwecken verwendeten. Niedrige und gar negative Sparquoten und ein explodierendes Zwillings-Defizit in Staatshaushalt und Leistungsbilanz waren die Folge.

 

In den USA wurde so ein Boom auf Pump angekurbelt, der den Exportnationen, in erster Linie China, aber auch Japan und Deutschland, hohe Exportüberschüsse und davon angeregtes Wirtschaftswachstum brachte. Nicht nur konnten es sich die erfolgreichen Exportnationen erlauben, die Binnenkaufkraft zu vernachlässigen und daher mit niedrigen Arbeitskosten Konkurrenzvorteile zu sichern. Es konnte sich so auch eine neue geopolitische Konstellation herausbilden, in der die USA wie ein Staubsauger die Exportüberschüsse anderer Länder abgriffen. Die Supermacht USA verschuldete sich gegenüber dem Ausland immer mehr, während die Dollarguthaben sich vor allem in Asien, aber auch in einigen erfolgreichen Exportnationen Westeuropas (vor allem in Deutschland) und Lateinamerikas (vor allem Brasilien) sammelten. Auf Dauer sind "Ungleichgewichte" dieser Art nicht durchzuhalten. Sie wurden daher zum Thema der G8-Gipfel im neuen Jahrhundert.

 

Dabei stellte sich heraus, dass die "Ungleichgewichte" auch mit jenen Nationen verhandelt werden müssen, die mit ihren rasch steigenden Dollarguthaben zu Gläubigern der Supermacht USA geworden sind. Es dauerte seine Zeit, bis die Notwendigkeit eingesehen wurde, die elitäre Gruppe der acht Industriestaaten zur Gruppe der 20 zu erweitern. Inzwischen ist dies geschehen. Denn allein China hält Devisenreserven in der Größenordnung von 1756,7 Mrd. US $ (Juni 2008); Russland verfügt über 554,1, Indien über 302,3 und Brasilien über 199,8 Mrd. US $, um nur einige der devisenstarken Schwellenländer zu nennen (vgl. EZB, Monatsbericht Januar 2009, S. 83, 87 ff.; vgl. auch die Daten der BIZ 2008, S. 98).

 

Vor allem Öl exportierende Länder sammeln die Deviseneinnahmen in Staatsfonds, deren Gesamtvermögen sich auf 2000 bis 3000 Mrd. US $ beläuft (EZB, Monatsbericht Januar 2009; S. 83, 87 ff.) und die dabei sind, in den "alten" Industrieländern mit dieser geballten finanziellen Macht Industriepolitik zu betreiben.

 

Die den US-Immobilienboom tragenden Papiere wurden mit Hilfe von abenteuerlichen "Finanzinnovationen" in alle Welt exportiert. Die Papiere waren mit hoher Hebelwirkung (leverage) kreditfinanziert, in Zweckgesellschaften (special purpose vehicles oder conduits) ausgegliedert, daher bilanzunwirksam und der Aufsicht entzogen, viele Einzelkredite unterschiedlicher Qualität wurden komplex gebündelt (strukturiert) und positiv von Rating-Agenturen bewertet, so dass ihre Attraktivität gewährleistet war, obwohl kaum jemand die Ingredienzien der in finanziellen Giftküchen "designten" Papiere kannte.

 

Die Ratingagenturen hatten einen Gütestempel aufgedrückt und außerdem konnte man das Engagement in diesen aus faulen Krediten gemischten Papieren mit Credit Default Swaps (CDS) versichern, die ihrerseits gehandelt wurden. Die USA haben in bezug auf Auto und Elektronik, Chemie oder Maschinenbau ihre Wettbewerbsfähigkeit schon lange eingebüßt.

 

Was jedoch Rüstungsgüter und Software betrifft, so sind sie in diesen Bereichen ebenso konkurrenzlos wie in bezug auf innovative Finanzprodukte, die US-Finanzakteure in aller Welt verkaufen konnten. Nachfrager fanden sie auf allen Kontinenten, da selbst seriöse Banker die hohe Renditen versprechenden Papiere ins Portefeuille nahmen und mit ihnen zeitweise gute Geschäfte machten. Wenn heute Manager gescholten werden, sollte nicht vergessen werden, dass sie von Anteilseignern zum Teufel gejagt worden wären, wenn sie sich nicht an der Bonanza beteiligt hätten.

 

Immer mehr Banken verstanden sich vor allem als Investmentbanken und vernachlässigten das verächtliche Kleingeschäft der Vermittlung zwischen Sparern und Investoren vor Ort. Denn damit waren keine Traumrenditen zu erzielen.
Vom finanzgetriebenen zum staatsgetriebenen Kapitalismus

 

Der Internationale Währungsfonds beziffert die Außenstände von US-Anleihen im April 2008 mit insgesamt 23.210 Mrd. US $, davon mussten bis zum April 2008 945 Mrd. US $ und bis Oktober 1405 Mrd. US $ als Verluste abgeschrieben werden, also mehr als 5% (IMF 2008, S. 15). Allein die Abschreibungen von US-Anleihen wurden Anfang Oktober 2008 vom IWF mit rund 1400 Mrd. US $ beziffert. Nur einen Monat später erhöhte die Bank of England auf das Doppelte, auf 2800 Mrd. US $. Das ist nahezu drei Mal soviel wie die Verluste, die die Bank of England noch im April des Jahres angegeben hatte (1150 Mrd. US $). Von den 2800 Mrd. US $ Verlusten entfallen 1577 Mrd. US $ auf die USA. Im Euro-Gebiet kommen noch einmal 785 Mrd. US $ und in England 127 Mrd. US $ hinzu. (vgl. Baba et al. 2008; Bank of England 2008; Europäische Zentralbank, Monatsbericht November 2008 (http://www.bundesbank.de/download/ezb/monatsberichte/2008/200811.mb_ezb.pdf).

 

Die Krise ist nicht leicht unter Kontrolle zu bringen, in einigen Industrieländern, darunter auch im Mutterland des modernen Neoliberalismus, in Großbritannien, droht der Staatsbankrott. Die staatlichen Subventionen und Bürgschaften in der noch vor wenigen Monaten absurd erscheinenden Höhe von mehreren tausend Milliarden US $ beiderseits des Atlantik und inzwischen auch in Japan, China, Russland oder Lateinamerika scheinen das Abrutschen in den Abgrund nicht stoppen zu können. Fast täglich kommen neue finanzielle Hilfen für angeschlagene Banken und an große Industriefirmen hinzu. Hohe Verluste der Kreditkarten-Betreiber sind noch zu erwarten. Die "staatlichen Eventualverbindlichkeiten" im Eurogebiet, so die EZB in ihrem Monatsbericht vom November 2008, erreichen mehr als 2000 Mrd. Euro.

 

Das wären 21% des BIP, wenn sie in Anspruch genommen werden, was angesichts der heraufziehenden Rezession nicht unwahrscheinlich ist.

 

Der finanzgetriebene Kapitalismus verwandelt sich unter den Sachzwängen der Krise in einen staatsgetriebenen Kapitalismus. Die "software" wird ausgetauscht. Der Staat operiert dabei nicht als demokratischer Bürgerstaat, sondern im Interesse der Verwertung von Kapital, der Renditen von Finanztiteln, der Stabilität von Finanzinstituten und mehr und mehr auch der "realen Wirtschaft". Denn die Krise hat längst das Finanzgehege verlassen und den Limes in Richtung realer Ökonomie überschritten; sie wächst sich – die Befürchtungen der Pessimisten bestätigend – zur schweren Wirtschaftskrise aus. Die wirtschaftlichen Wachstumsraten gehen zurück, in vielen Weltregionen ist mit einem Minuswachstum zu rechnen. In den USA steigt die Arbeitslosigkeit sprunghaft an, in Europa nehmen Kurzarbeit und prekäre Beschäftigung zu, mit Migrationsströmen ist zu rechnen, die neue und neuartige Konflikte auslösen.

 

Allein in China werden einige zehn Millionen Wanderarbeiter zurück in ihre Dörfer geschickt, weil Arbeitsplätze in der Exportindustrie wegfallen.

 

Auf den ersten Blick könnte das als ein chinesisches Binnenproblem gelten, doch wegen der Bedeutung Chinas strahlt es weit über seine Grenzen hinaus. Betroffen sind auch die vielen legalen und vor allem illegalen Migranten in den Ölstaaten des Vorderen Orients, in den USA oder in der EU. Die Grenzen werden für die Arbeit, ganz anders als für Waren, Direktinvestitionen und Finanzströme noch undurchlässiger, Arbeitskräfte werden in ihre Heimatländer zurückgeschickt werden, nicht zuletzt weil es in einer Reihe von Ländern – von Italien bis Großbritannien und Deutschland – zu fremdenfeindlichen oder rassistischen Übergriffen gegenüber Migranten gekommen ist.

 

Die Kehrseite der Globalisierung des Kapitals sind hässliche ethnische Konflikte. So verwandelt sich die finanzielle Krise auch in eine soziale Krise, auch deshalb, weil viele Länder dann auf die Rücküberweisungen ihrer Arbeitsmigranten (remittances) verzichten müssen, mit denen sie einen Großteil ihrer Importe finanzieren konnten.

 

Da die Masseneinkommen in den Industrieländern unter Druck geraten, stagniert die Importnachfrage. Auch daraus ergeben sich negative Folgen für Exportländer, vor allem für Exporteure landwirtschaftlicher und mineralischer sowie energetischer Rohstoffe. Nach hohen Preisen in den vergangenen Jahren sind die Rohstoffpreise seit Krisenbeginn auf breiter Front gefallen, so dass die beschriebene Anhäufung von Devisenbeständen und von Staatsfonds durch die Wirkungen der Finanzkrise verlangsamt wird.

 

Die Steuereinnahmen der öffentlichen Hand sinken, so dass die Finanzierung von Sozialleistungen schwieriger wird, zumal viel öffentliches Geld vom Bankensektor zum Ausgleich der Verluste in den Bankbilanzen und für den Ersatz von verspekuliertem Eigenkapital absorbiert wird.

 

Die "fiskalischen Kosten der gegenwärtigen Finanzmarktturbulenzen" beziffert die Europäische Zentralbank im Eurogebiet Ende 2008 auf rund 3% des BIP; man wird freilich mit einer Korrektur nach oben rechnen müssen. Wenn dann gleichzeitig, wie in Deutschland, "Schuldenbremsen" in die Verfassung eingebaut werden sollen, ist es absehbar, dass die dann unweigerlich notwendigen Kürzungen nicht Haushaltsposten mit langfristigen Ausgabebindungen (wie den Verteidigungshaushalt) treffen werden, sondern am ehesten die Sozialleistungen, was zu sozialen und politischen Konflikten führen wird. Es ist ja schwer zu vermitteln, warum Banken mit bisher ungeahnten Milliardenbeträgen aus der selbst verschuldeten Krise herausgeholfen wird, während die Transferleistungen für die sprichwörtlichen kleinen Leute gekürzt werden.

 

Die gigantischen Beträge bei der Bankenrettung könnten noch in den Schatten gestellt werden, wenn infolge der Wirtschaftskrise Unternehmenskredite ausfallen, weil sie nicht mehr ordentlich bedient werden können, und weil dann der Versicherungsfall eintritt.

 

Dann könnten bis zu etwa 12.000 Mrd. US $ Credit Default Swaps (CDS) fällig werden und den Finanzsektor trotz öffentlicher Hilfen überfordern. Besonders fatal wirkt der Umstand, dass einige Staaten bereits 2008 nahezu bankrott waren (in Europa Island, die Ukraine, Ungarn, die baltischen Staaten) und das Kreditausfallrisiko für Staatsanleihen generell gestiegen ist. Auch einige "alte" EU-Länder wie Großbritannien, Spanien oder Italien befinden sich am Rand von Zahlungsschwierigkeiten, die möglicherweise nur durch Transfers der EZB verhindert werden können. Die Maastricht-Kriterien wären dann eines der ersten Opfer der globalen Finanzkrise. Sie erweisen sich als Schönwetterkriterien, die keinem Härtetest standhalten, wie Kritiker der Europäischen Währungsunion schon immer hervorgehoben haben.
Wege aus dem Labyrinth der Krise

 

Die Finanzkrise ist nur ein, wenn auch besonders wichtiges Moment einer kapitalistischen Systemkrise, die nicht nur als schwere Finanzkrise das Geldverhältnis, sondern auch das gesellschaftliche Naturverhältnis (Energie- und Klimakrise), die Arbeit (Arbeitslosigkeit und prekäre Arbeitsformen) und die Politik (ein sich ankündigendes Ende der US-amerikanischen Hegemonie) umfasst.

 

Diesem Sachverhalt gilt es Rechnung zu tragen, wenn nach Auswegen aus dem Labyrinth der Krise gefahndet wird. Manche Lösungsangebote für die Finanzkrise sind nämlich geeignet, die Energie-, Klima- und Ernährungskrise zu verschärfen, denn die Finanzkrise wirkt sich auch auf das gesellschaftliche Naturverhältnis aus. Produktion, Zirkulation und Konsumtion verändern notwendigerweise die Natur. Umgekehrt haben die Transformationen von Stoffen und Energien und der lebendigen Natur Konsequenzen auch für die ökonomischen und finanziellen Prozesse und mithin auch für die Regulation in der Krise.

 

Dies lässt sich zeigen, wenn wir in aller Kürze die drei derzeit meist diskutierten Lösungsansätze der Finanz- und Wirtschaftskrise diskutieren: (1) die Übernahme der Bankverluste durch die öffentliche Hand, also die Sozialisierung der Verluste; (2) die massiven Investitionsgelegenheiten, die, vom Staat mit hohem Einsatz gefördert, einen neuen Aufschwung einleiten sollen und (3) die Externalisierung der Kosten der Krisenüberwindung. Jede dieser Lösungsstrategien hat Auswirkungen auf das geopolitische Koordinatensystem, auf das Verhältnis zwischen dem "globalen Norden" und dem "globalen Süden".
Erstens: Gefangen in der Liquiditätsfalle

 

Es ist eine Illusion zu glauben, die Krise ließe sich bewältigen, indem Geld in die klammen Kassen der Finanzinstitutionen gespült wird. Denn damit wird nicht die reale Produktion jenes Überschusses angeregt, aus dem die finanziellen Forderungen allein befriedigt werden können. Bislang sind es vor allem drei Methoden, die Banken in der Krise zu stützen. (1) Wenn die staatlichen Mittel das geschwundene Eigenkapital ersetzen oder gar der Staat Geschäftsbanken in der einen oder anderen rechtlichen Form übernimmt (Kapitalisierung der Banken), wird der drohende Konkurs abgewendet und der Bankenkollaps verhindert. Der Staat kann sich am Kapital der Banken beteiligen und so selbst Eigentümerfunktionen übernehmen.

 

Dienen jedoch die staatlichen Mittel dazu, (2) faule Forderungen aufzukaufen, dann werden die "giftigen" Papiere in den Banktresoren durch gutes Zentralbankgeld oder sichere Staatspapiere ersetzt. Eine "bad bank" übernimmt die verbrieften faulen Kredite, um die privaten Banken mit gutem Geld wieder in "good banks" zu verwandeln (dafür gibt es die Formel "cash for trash").

 

Sie ersetzen das von Managern in "irrationalem Überschwang" (Greenspan) verspielte Eigenkapital der Finanzinstitutionen. Der Staat sozialisiert die privat generierten Verluste und belastet damit die Steuerzahler. Wenn dies erfolgreich geschehen ist, soll der Staat sich wieder durch die Reprivatisierung der verstaatlichten Banken aus dem Markt zurückziehen.

 

Die Hoffnung ist, dass die Privatisierungserlöse die Kosten der Bankensanierung einspielen. Der Staat kann aber auch (3) Bürgschaften übernehmen, und dabei waren sowohl die USA als auch die europäischen Staaten mit jeweils hunderten von Milliarden Euro oder US $ sehr großzügig.

 

Doch eine bequeme Fortsetzung des finanzgetriebenen Modells dürfte den mit milliardenschweren monetären Infusionen geretteten Finanzinstitutionen und ihren Managern nicht möglich sein. Denn die Traumrenditen der vergangenen "goldenen Jahre" können, wenn die vom Staat bereit gestellten Mittel denn investiert werden, nicht mehr erzielt werden.

 

Das blendende Geschäft mit Subprime-Hypotheken ist vorbei, verbriefte Papiere werden mit dem Geigerzähler geprüft, bevor sie ins Portefeuille genommen werden, und die so profitablen langen Hebel des "leverage"-Systems werden (im Prozess des "de-leveraging") gekürzt, um der Risikofalle zu entgehen. Man besinnt sich in Bankenkreisen wieder auf die Grenzen der "Kernkapitalquote", also auf das Minimum an Eigenkapitel, das die Ausleihungen von Finanzinstituten sichert und dafür haftet. Also wird die neoliberale Marktreligion wie eine aus der Mode geratene Kutte zusammen mit den kontaminierten Finanzprodukten abgelegt und mit dem dernier cri eines Neokeynesianismus modisch aufgemöbelt: "Wir müssen umdenken – ja sogar durchaus keynesianisch", meinte der neoliberale Hardliner Wolfgang Schäuble in einem Interview (Handelsblatt vom 28.11.08). Angebotspolitik, das A & O neoliberaler Politikkonzepte, ist wirkungslos, weil der private Sektor sich auf einmal risikoscheu zurückhält.

 

Daher muss der Staat Liquidität bereitstellen, die auf dem Interbankenmarkt nicht zu bekommen ist, und obendrein mit massiver Nachfrage die Unternehmen stützen und evtl. gar entgegen dem neoliberalen Dogma übernehmen. Sonst schnappt die Liquiditätsfalle zu.

 

Der Staat ist aufgrund des Steuermonopols in der Lage, Einkommensflüsse in den Finanzsektor umzuleiten. Darin besteht sein einzigartiges Privileg, das nun von den privaten Finanzinstitutionen und anderen Unternehmen genutzt wird. Aus welchen Steuern und von wem werden die Mittel erhoben, die den privaten Unternehmen zugeleitet werden?

 

Wie kann die Umverteilung zu Gunsten des Finanzsektors durch "die da oben" legitimiert und die Akzeptanz des Umverteilungsmanövers durch "die da unten" erreicht werden?

 

Unweigerlich kommt die so genannte Frage der "governementalité" bzw. der "governance" von globaler Umverteilung auf (vgl. dazu Opitz 2004).
Zweitens: Ökologische Fallstricke keynesianischer Nachfragepolitik

 

Eine ordentliche Bedienung und Rückzahlung von Krediten ist nur möglich, wenn es einer Bank gelingt, das Geld "arbeiten" zu lassen. Sie muss also solvente neue Schuldner finden, die bereit sind, in neue Anlagefelder zu investieren. Es reicht keinesfalls aus, die monetären Titel mit Hilfe staatlicher Garantien zu "retten"; die reale Wirtschaft muss wieder in Gang gebracht werden und einen Überschuss produzieren, damit das Finanzsystem funktionieren kann. Das ist der Grund, warum der Staat nicht nur die Finanzinstitutionen retten muss, sondern auch in der "Realwirtschaft" dafür zu sorgen hat, dass Überschüsse zustande kommen, aus denen die Kredite des Finanzsektors zurückbezahlt werden können.

 

Gleichzeitig müssen die Banken dazu gebracht werden, wieder Kredite für Investitionsprojekte auszugeben. Da das höchst profitable Investmentbankgeschäft zunächst vorbei ist, müssen die Banken wieder mehr die Mittlerrolle zwischen "Sparern" und "Investoren", zwischen Haushalten und Unternehmen übernehmen.

 

Diese Funktion ist in einer kapitalistischen Geldgesellschaft notwendig, aber in der Regel nicht so lukrativ, wie das Geschäft der Investmentbanken in den schönen Zeiten saftiger Renditen, Boni und Prämien. Über die Sparkassen, bisher als Tante-Emma-Läden in der Welt der global finance belächelt, spottet heute niemand mehr. Denn neue Investitionsgelegenheiten in der realen Wirtschaft, die zu Renditen finanziert werden können, die sich an der Leistungsfähigkeit der realen Wirtschaft orientieren, gibt es.

 

Die einen hoffen auf einen neuen "Kondratieff", auf eine neue Technologie, die wie schon in der Vergangenheit des Kapitalismus Investitionsgelegenheiten und daher gute Chance für Kapitalanlagen geboten hat und eine neue "lange Welle der Konjunktur" auslöst (z.B. Bornschier 1990). Auch die ökologischen Krisen, so heißt es (z.B. im Klimabericht des IPCC 2007 oder im Stern-Report 2007), würden nicht nur das Potential eines Kollapses in sich bergen, sondern auch neue Chancen für Investoren auf Finanzmärkten bieten, auch wenn diese Abstriche bei den bislang so großzügigen Renditen machen müssten.

 

Die Internationale Energieagentur (IEA) beziffert den Investitionsbedarf der Ölindustrie in den kommenden 20 Jahren mit bis zu 20.000 Mrd. US-Dollar, die für die Erneuerung und den Ausbau der Förderanlagen, für den Bau neuer Pipelines, Investitionen in Raffinerien, für Tanker und andere Transportvehikel benötigt würden (IEA 2008).

 

Die neuen Geschäftsfelder für Finanzanleger hätten allerdings fatale Kollateralfolgen. Das fossile Energiesystems könnte nochmals einige Jahrzehnte überdauern. Individuelle Mobilität würde weiterhin durch das Automobil gewährleistet. Das ist eine gute Nachricht für die Automobilindustrie, die durch Finanzkrise und drohenden Klimakollaps und die Auflagen, den klimaschädlichen Schadstoffausstoß zu reduzieren, in Schwierigkeiten zu geraten drohte, von denen sie in Deutschland mit Hilfe der Abwrack-Prämie befreit worden ist – zu hohen nicht nur finanziellen, sondern ökologischen Kosten.

 

Die von der IEA und anderen erwarteten Investitionsgelegenheiten sind aber auch aus anderen Gründen unsicher. Denn zum einen hat die Ölförderung ihren Höhepunkt erreicht; "Peakoil" ist eine ökonomisch inzwischen relevante Realität. Deshalb tendiert der Ölpreis nach oben, auch wenn er infolge des krisenbedingten Nachfragerückgangs und der Spekulation mit "paper oil" an den Rohstoffbörsen zeitweise sinken kann. Zum zweiten ist die politische Stabilität in den Ölregionen wegen des "Staatszerfalls" und der Unregierbarkeit mancher Länder gefährdet, und schließlich sind auch die globalen Logistik-Netzwerke verletzlich, wie die neuen Formen der Piraterie deutlich zeigen.

 

Angesichts der abnehmenden Welterdölressourcen hält es die IEA energiepolitisch für notwendig, dass in den nächsten zwei Jahrzehnten weltweit jährlich 20–30 Atommeiler ans Netz gehen, so dass bis 2030 weltweit an die 1300 Kernkraftwerke angeschlossen würden (vgl. auch die Dokumentation in: Süddeutsche Zeitung, 10.2.2009, S. 20).

 

Für die großen Energieversorgungsunternehmen lockt hier ein Geschäft in der Größenordnung von hunderten von Milliarden US-Dollar. Angesichts der politischen Konflikte, die ein einziger Atommeiler im Iran heute provoziert, wäre die Verwendung der von den Staaten zur Ankurbelung der Wirtschaft bereit gestellten Mittel in der Größenordnung von hunderten, ja in der Summe mehr als tausend Milliarden US $ ein geradezu absurdes, ja selbstmörderisches Szenario. Es unterstreicht, dass es sich bei den Krisen unserer Tage um verschiedene Ausdrucksformen einer Systemkrise der kapitalistischen Produktionsweise handelt.

 

Auf den ersten Blick bieten sich auch im Klimaschutz günstige Investitionsgelegenheiten. Was in den Klimaberichten zunächst als eine Bedrohung präsentiert wird, erscheint auf den zweiten Blick als Chance. Im Stern-Report über die Kosten des Klimawandels werden mögliche Verluste von bis zu einem Fünftel des globalen Sozialprodukts kalkuliert. Allerdings gebe es die Chance, das Unglück für die Menschheit abzuwenden, wenn 1 Prozent des globalen BIP in den Klimaschutz investiert würde (vgl. Stern 2006).

 

Die Investitionen in den Klimaschutz werden zum großen Geschäft, wenn man den Emissionshandel im Zuge des derzeit vorbereiteten und in Kopenhagen 2009 zu verabschiedenden Kyoto II-Abkommens globalisiert. Das Volumen des europäischen Emissionshandels beträgt derzeit weniger als 100 Mrd. US $, weltweit rechnen Optimisten mit einem Potential von mehreren tausend Mrd. US $, zumal wenn der Klimaschutz auch die Verhinderung der Abholzung und Degradierung der Wälder (REDD – Reduction of Emissions from Deforestation and Degradation) einbezieht.

 

Das sind wahrscheinlich übertriebene Erwartungen, da der Emissionshandel wohl nur dann in diesen Größenordnungen in Gang kommen kann, wenn alle Länder zustimmen und viele Branchen einbezogen werden – und wenn die Finanzmärkte sich nach der Krise "normalisieren" (vgl. zur Kritik des Emissionshandels Altvater u. Brunnengräber 2008).

 

Auch Investitionen zur Extraktion mineralischer Rohstoffe, zur Inwertsetzung der Meeresböden und zum Anbau von Agro-Kraftstoffen wären ein ergiebiges Anlagefeld. Ganze Landstriche können in Monokulturen für Agrosprit verwandelt werden, was jedoch größere Konflikte nach sich ziehen würde. Nicht nur soziale Bewegungen, wie etwa die weltweit aktive Bauernorganisation "via campesina", wehren sich mit sozialen und ökologischen Argumenten gegen die Monokulturen großer Agro-Konzerne. Auch politische und wissenschaftliche Institutionen in den Industrieländern raten wegen der negativen Konsequenzen für die Biodiversität und den Wald- und Klimaschutz zur Vorsicht (vgl. WBGU 2008).

 

Ob daher in diesen Geschäftsfeldern ein guter Teil des brachliegenden und nicht entwerteten bzw. durch staatliche Infusionen ersetzten Kapitals investiv absorbiert werden könnte, ist fraglich. Nur wenn der Widerstand und die Bedenken nicht existierten oder wenn sie überwunden werden könnten, kann die Verwandlung der ökologischen Bedrohung in ökonomische Chancen für Investoren gelingen. Bis dahin bleiben die erwarteten massiven Investitionen aus. Die Folgen für den Finanzsektor sind fatal. Denn die finanziellen Verpflichtungen der Banken können nur erfüllt werden, wenn sie in Forderungen gegenüber Investoren verwandelt werden. Diese müssen bedient werden und zwar real aus produzierten Überschüssen. Der Finanzsektor kann nur die eigene Krise bewältigen, wenn wieder reales ökonomisches Wachstum zustande kommt. An den Grenzen des Umweltraums führt dies unvermeidlich zu ökologischen Schäden und sozialen Konflikten.
Drittens: Geopolitische Auseinandersetzungen oder: Den letzten beißen die Hunde

 

Wenn die Transfers an den Finanzsektor nicht investiv in der realen Wirtschaft verwendet und die für die Bedienung finanzieller Forderungen notwendigen Überschüsse nicht produziert werden (können), wird ein hoher Preis fällig.

 

Dann müssen entweder die Steuerzahler die zu realisierenden Verluste übernehmen oder sie werden in einem inflationären Prozess umverteilt und unter den Marktteilnehmern "gestreut"; die Verluste der Finanzinstitutionen würden als Kaufkraftverlust der Währung in der globalisierten Welt alle, wenn auch sehr unterschiedlich, treffen. Im Falle der Währungsabwertung könnte es, wie in den 1930er Jahren, zu einem Abwertungswettlauf kommen, in dessen Verlauf einzelne Länder versuchen, Marktanteile auf umkämpften Weltmärkten zu halten oder auszuweiten.

 

Eine Abwertung mit dem Ziel der Externalisierung von Finanzverlusten hingegen hätte einen anderen Charakter, weil die Möglichkeit, die Verluste des Finanzsektors mithilfe einer Abwertung der Währung zu externalisieren, nur Ländern zur Verfügung steht, deren Währung als Reservewährung gehalten wird.

 

Weil die Zentralbanken der exportstarken Länder zum Teil sehr hohe Dollarreserven akkumuliert haben (die BIZ gibt die Devisenreserven insgesamt für Dezember 2007 mit 6393 Mrd. US $ an, wegen mangelnder Informationen seitens der Zentralbanken können sie nach einzelnen Währungen nur unzureichend aufgeschlüsselt werden. Vgl. BIZ 2008, S. 98; Cofer 2009, http://www.imf.org/external/np/sta/cofer/eng/cofer.pdf), könnten die USA mit einer Entwertung des US-Dollars erreichen, dass nicht die amerikanischen Steuerzahler sondern die externen Besitzer von Dollarguthaben mit den Billionen-Verlusten ihres Finanzsystems belastet werden.

 

So könnten interne politische Konflikte zwar vermieden werden, doch der Preis ist hoch, selbst für die USA, denn in der Folge drohen geopolitische Auseinandersetzungen zwischen den USA und den Ländern mit großen Dollar-Reserven, also zwischen den USA und der EU, China, Russland, Brasilien und anderen Schwellenländern, die an Einfluss gewinnen, nicht zuletzt im Rahmen der G20.

 

Sie haben inzwischen mitzureden bei der Regulation der globalen Finanzkrise und bei der Beseitigung der euphemistisch so genannten "globalen Ungleichgewichte". China ist dabei, sich vom US $ abzukoppeln und plädiert für eine neue Weltwährungsordnung.

 

Für die USA wäre es besonders problematisch, wenn ein abgewerteter US-Dollar seine Stellung als Ölwährung verlieren würde. Die Ölexporteure würden trotz aller politischen Bindungen und Abhängigkeiten dazu übergehen, die Ölexporte auch in anderer Währung als dem US-Dollar zu fakturieren. Die USA, die zwei Drittel ihres Ölverbrauchs importieren, müssten erstmals in ihrer Geschichte die Importe mit Devisen bezahlen, die sie durch Exporte "verdienen" müssten.

 

Das aber könnte in den USA nur mit der Wandlung von einer geringen oder gar negativen zu einer positiven Sparquote gelingen. Die externen Wirkungen sind ebenfalls gewaltig. Die in den vergangenen Jahrzehnten "eingefahrenen" Handelsströme müssten umgeleitet werden, wenn die USA nicht mehr wie ein kreditfinanzierter Staubsauger den Weltmarkt leer fegen, sondern selbst einen Exportüberschuss erzielen müssen. Die heutigen Überschussländer müssten sich auf deren Reduzierung oder gar auf Defizite der Handelsbilanz einstellen.

 

Die Finanzkrise wird daher nicht schnell vorübergehen. Sie hat strukturelle Verwerfungen in der Weltwirtschaft hervortreten lassen oder hervorgerufen und reale Strukturen sind schwerer zu ändern als finanzielle Bilanzposten, zumal wenn berücksichtigt wird, dass die Krise auch die Energieversorgung, das globale Klima und die Ernährung der Menschen erfasst hat.

 

Literatur Altvater, Elmar. 2009. Das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen. 6. Aufl. Münster: Westfälisches Dampfboot.

 Altvater, Elmar, und Achim Brunnengräber. 2008. Ablasshandel gegen Klimawandel. Marktbasierte Instrumente in der globalen Klimapolitik und ihre Alternativen. Reader des Wissenschaftlichen Beirats von attac

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