Samstag, 10. April 2010

--->>> Nachterstedt "Strand unter" (FTD 09-04-2010 - Seite 29)


Nachterstedt

Strand unter

(FTD - 09-04-2010 - Seite 29)

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Beim Erdrutsch von Nachterstedt starben vor neun Monaten drei Menschen. Die Ursache für das Unglück ist noch immer unbekannt, der Concordiasee bleibt für Badegäste gesperrt. Trotzdem wurde jetzt die Saisoneröffnung gefeiert. Eine Nahaufnahme.
von Jarka Kubsova, Nachterstedt


Drei Tote liegen auf dem Grund des Concordiasees; Ilka, Peter und Thomas. Sie wohnten in einem Doppelhaus, Ilka und Peter in der roten Hälfte, Thomas in der weißen. Hinten im Garten Rosenbüsche und Weißginster, vor dem Haus ein weiter See. Sie schliefen, als im Morgengrauen der Boden unter dem Haus nachgab und in den See stürzte, mehr als eine Million Kubikmeter Erde.

Eine Weile war es still, nur aus dem Abgrund grollte es hohl, als fielen Steine in einen tiefen Brunnen. Dann erfüllte Sirenengeheul die Luft über dem Wasser. Rettungswagen rasten heran, Feuerwehr, Bundeswehr. Es dämmerte, es wurde hell und wieder dunkel; kein Lebenszeichen. Die Helfer zogen schließlich ab, dann kamen Sicherheitsleute. In Jeeps fuhren sie um den See, spannten rotweißes Absperrband, stellten Zäune auf, rammten Warnschilder in den Boden.

Nachterstedt Nachterstedt: Urlaub am Katastrophensee

Das war vor fast neun Monaten, in Nachterstedt, einem kleinen Ort in Sachsen-Anhalt. Dort und in den Nachbargemeinden ist es still geworden seitdem - nur der See gleicht noch immer einem Tatort. Bis heute weiß niemand, wer schuld ist an der Katastrophe. Aber das ist auch nicht die drängende Frage der Leute hier. Sie wollen wissen: Wann können wir endlich wieder baden gehen?

Entspannte Badegäste, die mit ihren Kindern im Wasser planschen und am Ufer in der Sonne faulenzen, Touristen, die Geld bringen für die Betriebe in der Region - nichts wünscht man sich am Concordiasee dringlicher als das. Die wirtschaftliche Existenz vieler Menschen hier hängt vom Tourismus ab. Vergangenen Samstag gab es jetzt die feierliche Saisoneröffnung, mit einem schönen Fest auf einem Abenteuerspielplatz, zwei Kilometer vom Seeufer. Die Touristen könnten kommen. Wenn nur nicht diese Unglücksstelle wäre, das Gutachten und das Absperrband.

Hans Strohmeyer, Geschäftsführer der Seeland GmbH, träumt von der Rückkehr der Badegäste

Hans Strohmeyer kann vor allem das Absperrband nicht mehr ertragen. Er ist Chef der Seeland GmbH, eines kommunalen Projekts, das den Tourismus rund um den See vorantreiben soll. Strohmeyer hat ein aufgeräumtes Büro mit Panoramafenstern unter dem Dach eines blauen Türmchens, es steht am Ufer des Sees in Schadeleben. Strohmeyer ist 55 Jahre alt, aber er hat das Gesicht eines freundlichen Jungen. "Der See ist so schön", sagt er und schaut raus.

Schadeleben und Nachterstedt liegen vis-à-vis, Luftlinie drei Kilometer. Durch Strohmeyers Fenster schaut man geradewegs auf die Abrisskante, mit einem halben Haus obendrauf. Die andere Hälfte liegt 100 Meter tiefer, zusammen mit den Trümmern eines Bergbaudenkmals, einer Aussichtsplattform, einer Anlegestelle und eines frisch betonierten Radwegs. Kleine Tourismusprojekte, Strohmeyer hat sie mit geplant.

Große Pfützen im lehmigen Acker

Das alles sollte der Anfang sein. Nachterstedt und Schadeleben sollten ein Tourismusmagnet werden, es gab so viele Pläne. Jetzt steht Strohmeyer am Fenster und zeigt hierhin und dorthin, er hat Campingplätze vor Augen, Surfer, Golfer und Segler. Draußen sind bloß wüste Ufer, aber Strohmeyer sagt: "Wir verfallen hier nicht in Schockstarre, es muss weitergehen."
Klarheit über die Situation sollte eigentlich ein Gutachten bringen. Im Sommer hieß es, das Gutachten kommt im Winter. Im Winter hieß es, das Gutachten kommt in zwei Jahren. So lange bleibt der See zu.

Überhaupt, der See. Vielleicht lernt man ihn auf den zweiten oder dritten Blick lieben. Auf den ersten, von weiter weg betrachtet, sieht er aus wie eine große Pfütze in einem lehmigen Acker. Der Wasserstand beträgt etwas mehr als 81 Meter. Bis 104 Meter sollte der See geflutet werden. Nach ein paar Jahren haben sie die Pumpen abgestellt, das Wasser stieg auf einmal von allein. Strohmeyer sagt: "Der See kam zurück."

Nach dem Erdrutsch im Juli 2009 ist der Concordiasee bei Nachterstedt bis heute gesperrt

Mehr als 400 Jahre war er fort, er interessierte die Menschen nicht, sie leiteten ihn ab und trockneten ihn aus. Interessant war der Boden darunter. "Hier gab es Salz, und wo Salz ist, ist auch Kohle", sagt Strohmeyer. Jahrzehnt um Jahrzehnt wurde der Boden ausgehöhlt, gesprengt, umgeschichtet, umgeschaufelt.

Strohmeyer hat Karten und Bilder aus diesen Jahrzehnten. In schlichten Glasrahmen, akkurat aufgehängt an den Wänden im Treppenhaus des blauen Türmchens. Gigantische Gruben sind darauf zu sehen, Krater, Gräben, dazwischen bullige Maschinen. Mit der Wende war Schluss, alle Bagger und Arbeit fort, zurück blieben ein riesiges, schmutziges Loch und zerfurchter Boden.

Dann kam Ende der 90er-Jahre die Idee mit dem See. Was für ein Trumpf: Weit und breit gibt es sonst kein Wasser. Und wie der Wind hier fegt! "Surfen im Angesicht des Brocken", sagt Strohmeyer, seine Augen glänzen. Sie holten den See zurück. Mit ihm kam Zuversicht und Zusammenhalt: Fünf Gemeinden am Rande eines Lochs benannten sich um in "Seeland". Sie bauten eine Seepromenade, die Seelandstraße, sie druckten den "Seelandboten" und aßen Pommes im "Seeblick".

Das Ufer prall und weich

Sie wollten nichts Protziges. Strohmeyer hat ein Poster vom "Masterplan", es ist an ein Flipchart neben seinem Schreibtisch gepinnt. "Im Gespräch waren ein Centerpark, Vergnügungsparks, die großen Sachen", sagt Strohmeyer. "Aber das verträgt der See nicht." Das sagt er oft: "Uns war wichtig: Was verträgt der See?"

Sie wollten schlichte Sachen, kleine Parks unter Sonnensegeln, Campingplätze, eine schwimmende Bühne für Konzerte und Theater, einen Golfplatz, eine Tauchschule, Radwege. Der See machte mit; er stieg. Strohmeyer fährt die Ufer mit dem Zeigefinger ab, auf dem Poster sind sie unversehrt.

In Wirklichkeit ist der Boden rings um das Wasser prall und weich. An manchen Uferseiten sieht er aus wie angebissener Baumkuchen; unzählige Schichten, helle und dunkle. Auf den Feldern in der Region ist die Erde tiefschwarz, das Gras ist dick und grün. Manchmal reißt der Boden auf und sackt weg. Vor Kurzem haben Kinder beim Spielen ein Loch entdeckt, groß genug, um ein ganzes Haus zu verschlucken.

Luftaufnahme der Unglücksstelle in Nachterstedt

Als in Nachterstedt in den frühen Morgenstunden des 18. Juli das Ufer abbrach, ist Strohmeyer kurz wach geworden. Von den Sirenen in der Ferne. Autounfall, dachte er und schlief wieder ein. Ein paar Stunden später rief jemand an: "Hans, da ist ein Haus weggerutscht. Es gibt Tote."
Strohmeyer war fassungslos, erst über den Erdrutsch, dann über die Absperrzäune. Ein paar Tage nach dem Erdrutsch wurde das Wetter schön und blieb es noch lange. "Das hätte eine schöne Saison werden können", sagt er. "Es ging gerade alles richtig nach vorn. Die Banken waren im Boot, alle waren überzeugt von dem Konzept."

Aber der See blieb zu, die Segler holten ihre Boote aus dem Wasser, der Kioskbesitzer meldete Hartz IV an, das Ausflugsschiff MS Seelandperle steht aufgebockt am Ufer. Ein privater Investor, der Ferienhäuser am Seeufer gebaut hatte, ging pleite. Die Arche Noah, ein Restaurant unten in Strohmeyers Türmchen, hält sich mit Subventionen am Leben. Bund und Land haben gerade einen Nothilfefonds mit 1 Mio. Euro bereitgestellt für Gewerbetreibende am See.

Auf der anderen Uferseite in Nachterstedt sagen die Menschen, dass vielleicht alles zu schnell ging mit dem See und dem Tourismus. Jeder weiß hier: Das abgerutschte Gebiet stand auf einer Halde. "Das war alles aufgeschüttetes Land", sagt ein Anwohner. Unbrauchbare Erde, aufgetürmt an den Rändern des Tagebaulochs. In solchen Böden kommt es häufig zu sogenanntem Setzungsfließen: Dabei saugt sich die lockere Erde mit Grundwasser voll. Kleine Auslöser reichen, und der Boden beginnt zu fließen.

Dass die Böschung in Nachterstedt auf einer solchen Kippe stand, ist kein Geheimnis. Als Erklärung für das Unglück reicht das aber nicht. "Die Gründe, warum die Böschung in Bewegung kam, sind sehr komplex", sagt ein Sprecher der Lausitzer und Mitteldeutsche Bergbau Verwaltungsgesellschaft (LMBV), die für viele Restlöcher in der Gegend zuständig ist. "Es gibt unzählige geologische Faktoren, die das ausgelöst haben könnten. Deswegen wird die Untersuchung auch noch lange dauern."

Hans Strohmeyer lässt sich von solchen Prognosen nicht beirren. "Wir sind davon überzeugt, dass es hier weitergehen kann", sagt er. "Alle hier glauben daran." Und tatsächlich sind sich alle einig.

Die Bürgermeisterin von Seeland, Heidrun Meyer, sagt: "Unser Seelandprojekt stirbt nicht."

Die Betreiberin des Restaurants Arche Noah sagt: "Wir würden alles tun für den See."

Der Betreiber des Ferienparks Königsaue sagt: "Den Gewerbetreibenden muss geholfen werden, bis der See wieder freigegeben ist."

Hans Strohmeyer sagt: "Jetzt konzentrieren wir uns erst mal auf den Abenteuerspielplatz."

Der wiederum heißt "Abenteuerland" und ist der größte Kinderspielplatz Sachsen-Anhalts: eine wunderschöne Anlage auf einer weiten, saftigen Wiese voller junger Birken. Die Spielgeräte sind aus Holz geschnitzt: Krokodile, Schnecken, Fische. Hier hat die Saisoneröffnung am vergangenen Wochenende stattgefunden, es roch nach Lagerfeuer, Bratwurst und Waffeln. Schaukelnde, wippende, lachende Kinder; um die 600 Menschen kamen. Strohmeyer war selig.

Der Platz steht auf einer Halde. Am gleichen Tag titelte die "Mitteldeutsche Zeitung": "Angst vor dem nächsten Loch." Zuletzt ist kaum eine Woche ohne neue Krater irgendwo in der Region vergangen. Der jüngste ist 40 Meter tief.

Strohmeyer seufzt. "Das ist hier normal", sagt er. "Die Menschen hier sind mit dem Tagebau groß geworden. Einen Erdrutsch ab und zu muss man verkraften können."

"Normal", sagt auch die Betreiberin der Arche Noah. "Ich hab hier als Kind schon Trecker im Boden verschwinden sehen."

"Man darf nicht immer nur an das Schlimmste denken", sagt Bürgermeisterin Meyer. "Sonst darf man ja gar nicht vor die Tür gehen. Es kann doch überall etwas passieren."

Strohmeyer zählt auf, was auch ohne See alles möglich ist: Familienfeste, Feuerwehrwettkämpfe, eine Schäferhundschau, ein Opel-Treffen, das Seelandfest. Das könne man auch alles auf den Hängen machen, oberhalb des Sees.

In Nachterstedt, gegenüber der Abbruchkante, hat ein Mann pralle Kissen auf eine Holzbank vor seinem Haus gelegt, die Sonne scheint. Von der Bank aus schaut man auf ein halbes Haus, auf eine Straße, die im Himmel endet, und auf eine Gedenktafel für Ilka, Peter und Thomas.

Der Mann sagt, um alles sei es sehr schade. "Heute zum Beispiel könnte man bei dem Wetter schön mit dem Fahrrad um den See fahren." Aber so? "Gibt ja hier nichts." Angst habe er nicht. "Hier ist es sicher."

Die Straße, in der sein Haus steht, heißt Haldenstraße.

Drei Tote liegen auf dem Grund des Concordiasees. Wer hat Schuld daran? Der Boden schweigt. Der See steigt. Die Menschen wollen baden

Posted via email from Beiträge von Andreas Rudolf

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