Mittwoch, 16. Februar 2011

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Informationsdienst Wissenschaft - idw - Pressemitteilung
Hans-Böckler-Stiftung, Rainer Jung, 15.02.2011 10:11

Der Mitbestimmung entzogen: Zahl der Unternehmen mit ausländischer
Rechtsform wächst weiter

Juristen: Gesetzeslücke schließen

Der Mitbestimmung entzogen: Zahl der Unternehmen mit ausländischer
Rechtsform wächst weiter

Kleine Gruppe, starkes Wachstum: In den vergangenen fünf Jahren ist die
Zahl der in Deutschland ansässigen Unternehmen gestiegen, die hierzulande
mehr als 500 Beschäftigte und eine rein ausländische Rechtsform (etwa die
einer amerikanischen Incorporated) oder eine Kombination mit ausländischer
Rechtsform (z.B. Ltd. & Co. KG) haben. Das zeigt eine aktuelle
Untersuchung der Hans-Böckler-Stiftung. Durch eine Gesetzeslücke müssen
die Beschäftigten dieser Unternehmen bislang auf Mitbestimmungsrechte
verzichten.

Im Januar 2006 gab es erst 17 größere Unternehmen mit ausländischer
Rechtsform. Ende Oktober 2010 zählten die Unternehmensrechtler Dr.
Sebastian Sick und Lasse Pütz bereits 43. 16 davon sind Niederlassungen
ausländischer Unternehmen in Deutschland. Die übrigen 27 haben die Form
einer Kommanditgesellschaft mit einem ausländischen Komplementär. Diese
Variante war in letzter Zeit besonders beliebt, auch bei mancher
eingesessenen deutschen Firma: „Die Konstruktion mit ausländischer
Rechtsform wird von ausländischen Konzernen wie Rolls Royce oder UPS
genauso wie von großen deutschen Familienunternehmen wie der
Drogeriemarktkette Müller benutzt", schreiben Sick und Pütz in ihrer
Untersuchung , die in den WSI Mitteilungen erschienen ist.* In drei
Branchen registrieren die Böckler-Experten eine „auffällige Häufung" der
Exoten-Rechtsformen: im Einzelhandel, der Logistiksparte sowie im Kredit-
und Versicherungsgewerbe.

19 Unternehmen mit ausländischer Rechtsform haben mehr als 2000
Beschäftigte in Deutschland (Liste im Böckler Impuls 2/2011; Link unten).
Würden sie als deutsche AG oder GmbH firmieren, könnten die Arbeitnehmer
die Hälfte der Aufsichtsräte stellen. Durch die ausländische Rechtsform
werden sie aber nicht vom Mitbestimmungsgesetz erfasst. Auch das
Drittelbeteiligungsgesetz für Firmen mit 501 bis 2.000 Beschäftigten
greift nicht.

Allein zwischen November 2009 und Oktober 2010 ist die Zahl der
Unternehmen mit ausländischer Rechtsform um sechs gewachsen. Oracle
Deutschland ist einer der jüngsten Fälle. Ende Mai 2010 hat der IT-
Dienstleister seine Rechtsform von einer deutschen GmbH in eine
Konstruktion umgewandelt, in der eine niederländische B.V. als
Komplementär einer Co. KG fungiert. Auch die Catering-Sparte von Apetito
und der Dienstleister Sodexo nutzen neuerdings eine Variante mit
ausländischer Rechtsform und firmieren nun als Apetito Catering B.V. & Co.
KG bzw. Sodexo Beteiligungs B.V. & Co. KG. Zwei weitere Neuzugänge zu den
bislang vollständig dokumentierten 43 Fällen wurden kürzlich publik: Der
Entsorger ALBA hat danach die Unternehmen seiner Gruppe in der ALBA Group
plc & Co. KG gebündelt. Die deutsche Niederlassung des Modefilialisten
ZARA firmiert als B.V. & Co. KG.

Hintergrund der Zunahme bei den Exoten-Rechtsformen ist die Rechtsprechung
des Europäischen Gerichtshofs. Der EuGH eröffnet Unternehmen die
Möglichkeit, eine Rechtsform des europäischen Auslands zu führen. Für US-
Unternehmen regelt ein deutsch-amerikanischer Freundschaftsvertrag aus den
50er-Jahren Entsprechendes. Ein vergleichbarer Vertrag besteht mit der
Schweiz.

Firmen, die eine ausländische Rechtsform führen, nennen als Grund oft eine
einfachere Koordination ihrer internationalen Aktivitäten. Es häufen sich
nach Analyse von Sick und Pütz aber die Fälle, in denen Unternehmen durch
einen Wechsel auch Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat verhindern
wollen. Manche Anwälte propagierten „die Scheinauslandsgesellschaft" als
„eine Option im Strauß der Möglichkeiten zur Vermeidung der
Mitbestimmung", so die Juristen.

Mitbestimmungsvermeidung war bei der Fluggesellschaft Air Berlin nach
Aussage von Unternehmenschef Joachim Hunold ein zentrales Motiv dafür, die
Fluglinie als plc & Co. KG firmieren zu lassen. Die deutsche Tochter des
schwedischen Textilhändlers H&M wechselte von der GmbH in eine B.V. & Co.
KG – gerade zu dem Zeitpunkt, als die Betriebsräte einen mitbestimmten
Aufsichtsrat durchsetzen wollten. Ähnlich lief es auch bei der Modekette
Esprit und bei der Großspedition Kühne + Nagel. Air Berlin und H&M haben
mittlerweile sogar Tochtergesellschaften mit ausländischer Rechtsform in
mitbestimmungsrelevanter Größe gegründet.

Egal, welche Motive hinter der Wahl der Unternehmensform stehen: Für die
Beschäftigten bedeutet der rechtliche Sonderstatus weniger
Partizipationsrechte. „Diese Benachteiligung der Arbeitnehmer ist nicht
nachzuvollziehen", sagt Sick. „Nicht zuletzt durch die Rechtsprechung des
EuGH hat sich offenbar eine Lücke in den Gesetzen aufgetan, die zu
Inkonsistenzen im deutschen Mitbestimmungssystem führt."
Die wissenschaftlichen Mitglieder der Regierungskommission zur
Modernisierung der deutschen Unternehmensmitbestimmung teilten diese
Analyse im Grundsatz. In ihrem Abschlussbericht von 2006 sahen die
Professoren um Kurt Biedenkopf wegen der damals geringen Fallzahl zwar
keine akute Notwendigkeit zu handeln. Sie empfahlen jedoch dem
Gesetzgeber, die Entwicklung zu beobachten und – falls nötig – „Maßnahmen
zur Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit der Mitbestimmung zu
treffen".

Nach fünf Jahren, in denen sich Konstruktionen mit ausländischen
Rechtsformen kontinuierlich ausgebreitet haben, sei die Zeit dafür nun
reif, so Sick und Pütz. Mehr als 680 Unternehmen werden nach dem Gesetz
aus dem Jahre 1976 mitbestimmt, weitere rund 1.500 Firmen haben
Drittelbeteiligung. Im Vergleich dazu ist die Gruppe der Exoten zwar nach
wie vor überschaubar. Eine Erstreckung der Mitbestimmungsgesetze auf
Auslandsgesellschaften sei aber geboten, um „Rechtssicherheit
herzustellen, die rechtliche Lücke zu schließen und so das
Mitbestimmungssystem an die europäischen Entwicklungen anzupassen."

Ein „Erstreckungsgesetz" würde Beschäftigten bei der
Unternehmensmitbestimmung gleiche Mitsprache sichern, unabhängig davon, ob
ihr Unternehmen eine deutsche oder eine ausländische Rechtsform wählt. Das
sei in Übereinstimmung mit dem europäischen Recht durchaus möglich,
betonen die beiden Juristen. Dieser Ansicht waren auch die
wissenschaftlichen Mitglieder der Biedenkopf-Kommission. Zudem haben die
Juraprofessoren Manfred Weiss und Achim Seifert in einem Rechtsgutachten
für die Hans-Böckler-Stiftung die Europarechtskonformität eines solchen
Gesetzes bestätigt.

*Sebastian Sick, Lasse Pütz: Der deutschen Unternehmensmitbestimmung
entzogen: Die Zahl der Unternehmen mit ausländischer Rechtsform wächst.
In: WSI Mitteilungen 1/2011

Infografiken zum Download im Böckler Impuls 2/2011:
<
http://www.boeckler.de/32014_112480.html#link>

Ansprechpartner in der Hans-Böckler-Stiftung

Dr. Sebastian Sick
Abteilung Mitbestimmungsförderung
Tel.: 0211-7778-257
E-Mail:
Sebastian-Sick@boeckler.de

Lasse Pütz
Abteilung Mitbestimmungsförderung
Tel.: 0211-7778-311
E-Mail:
Lasse-Puetz@boeckler.de

Rainer Jung
Leiter Pressestelle
Tel.: 0211-7778-150
E-Mail:
Rainer-Jung@boeckler.de

Arten der Pressemitteilung:
Forschungs- / Wissenstransfer

Sachgebiete:
Recht
Wirtschaft





Die gesamte Pressemitteilung erhalten Sie unter:
http://idw-online.de/pages/de/news409012

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung stehen unter:
http://idw-online.de/pages/de/institution621
















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