Auf der Bühne des Welttheaters ist der Teufel los. Während sich hinter den Kulissen die Finanzmächtigen und ihre politischen Handlanger eine regelrechte Schlacht um Macht und Vorherrschaft liefern, gaukelt man dem Publikum heilbringende Visionen zur Ruhigstellung vor: Mit Rettungsschirmen, Finanzhilfen, Schuldenabbau. Nur die Verkünder dieser Volksverdummung glauben wohl an echte Lösungen.
Wer blickt da noch durch? Schlimmer: Wen interessiert das? Gemeint ist also die Finanz- und Wirtschaftskrise. Wen ficht es an, wenn er oder sie nicht selbst betroffen ist?
Ein neues Buch versucht sich in Antworten. "No way out?" vom Verlag "konkret Texte 56". Also auf Deutsch "Gibt es keinen Ausweg?" Vierzehn Autoren bemühen sich, die Krise besser zu verstehen, sie für den Leser näher zu durchleuchten, nach Lösungen zu forschen. Und sie räumen ein, dass das makabre und gefährliche Weltschauspiel nicht einfach zu durchschauen ist. Immerhin: "Die Brötchen sind nicht teurer als ohne Krise, die Auslagen der Läden sind voll wie zuvor, und auch die Arbeitslosigkeit..." halte sich trotz hohem Niveau in Grenzen. Kurz: "Die Krise hinterläßt im Alltag kaum Spuren." (S. 63)
Nichtdestotrotz stellt Sahra Wagenknecht, eine der Autoren, fest, nach einer Allensbach-Umfrage sei die Hälfte der Bevölkerung der Ansicht, dass sich der Kapitalismus überholt habe. Nur 18 Prozent würden dieser Meinung widersprechen (S. 99). In ihrem Buch "Freiheit statt Kapitalismus" hat sie den heutigen Zustand sogar zugespitzt: "Europa ist zu einem Schlachtfeld geworden. Es ist ein Krieg, in dem keine Soldaten marschieren, keine Bomben fallen, keine nächtlichen Explosionen die Städte erschüttern. Es ist ein Krieg, der still zerstört und leise tötet, ein Krieg, dessen Verheerungen erst allmählich sichtbar werden, der aber deshalb nicht weniger brutal und gewaltsam ist."
In das gleiche Horn bläst u.a. Rainer Rupp (siehe "junge welt" vom 26.05.2012): "Für den weiteren Verlauf der Euro-Krise zeichnen sich laut Deutschlandausgabe der International Business Times (IBT) vom Donnerstag »nur noch zwei mögliche Szenarien« ab - und beide seien »für die Menschen in der Euro-Zone katastrophal«. (...) Im ersten Szenario wird darauf verwiesen, daß nach Angaben der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich Kreditinstitute aus Deutschland, Frankreich und Großbritannien Ende 2011 insgesamt mehr als eine Billion Euro in Griechenland, Spanien, Portugal und Italien angelegt hatten. Daher würden die Auswirkungen eines Zusammenbruchs der Euro-Zone weit über den Finanzsektor hinaus gehen. Ähnlich wie im Krisenjahr 2008 wären starke Einbrüche in der realen Wirtschaft und rapide steigende Arbeitslosigkeit vorprogrammiert.
Warnend meint einer der Autoren auf Seite 30: "Wenn alles so weitergeht wie bisher, wird es in zehn Jahren in Deutschland eine nie gekannte Altersarmut geben."
Na und? Geht ein Aufschrei des Protestes durch die Reihen der Zuschauer in diesem Welttheater? Es ist wie es ist: Kritisches Nachdenken, zahlreiche Zweifel bleiben hängen im Gestrüpp der bürgerlichen Meinungsbildung. "No way out?", fragen also die vierzehn Autoren mit Recht. Um es vorweg zu sagen: Da begegnen einem zahlreiche politökonomische Fachwörter. Es ist angebracht, entweder aus dem einst angeeigneten Wissen zu schöpfen oder ein Wörterbuch der Politökonomie zur Hand zu nehmen. Nicht zumutbar sei für den Normalverbraucher, so die Autoren, nochmals das marxsche "Kapital" zu durchstöbern.
Gleichsam eine Ouvertüre dieser Lektüre bildet der erste Beitrag. Da streiten fünf Publizisten, Politikwissenschaftler, Journalisten und Autoren darum, wie die Krise zu begreifen ist und welche Auswege es gibt. Da gibt es keine vorgekaute Lehrmeinung, keine auf absoluter Wahrheit bestehende Äußerung. Im Für und Wider stehen u.a. der Markt, die Kapitalakkumulation, die Verwertungsbedingungen, der Sinn des Euro, der Fiskalpakt, die Ausnutzung der Naturressourcen, die Wertschöpfung, Leistungsbilanzdefizite, Staatsanleihen, die Vergesellschaftung, die Bedürfnisbefriedigung.
Im Kern geht es in allen Beiträgen dieses anspruchsvollen Buches um die Frage, ob das Gesundbeten am Krankenbett des Kapitalismus überhaupt Sinn macht oder diese Gesellschaft uns alle zerstört? Um an dieser Stelle nur einige Stichworte zu nennen: Es sei, so die Autoren, ein aufgeblähtes Finanzsystem entstanden, das in seinen Ausmaßen nicht mehr zur sogenannten realen Ökonomie paßt (S. 12). Die Mehrwertschöpfung sei verpfändet worden. Die Konkurrenz zwinge die Akteure der Konzerne und der Politik, die vorausgesetzte Verwertung zu exekutieren (S. 16). Durch den Euro sei in Europa ein Defizitkreislauf in Gang gekommen. Die deutsche Exportmaschine hätte die Industrien der Anrainerstaaten sukzessive "plattgemacht". Die Folge: Die Akkumulation von Verschuldung (S. 17). Das Motiv jeglichen Handelns: Man setze Menschen und Dinge nur ein, um "aus einem Euro zwei zu machen". Wenn nicht, würde stillgelegt. Geht es um eine bessere Regulierung des Kapitalismus oder um die Abschaffung desselben? (S. 37) Die Autoren kommen zu dem Schluß, daß die Krise, die inneren Widersprüche, nicht zu einem Ende dieses Systems führen. Kapitalismuskritik sei zuzuspitzen auf die Formulierung: Die auf dem Wert beruhende Produktionsweise sei zu verändern. (...) Das sei nur möglich, "wenn man auch die Überwindung von Ware und Geld auf die Fahnen schreibt." (S. 39) Also eine andere ökonomische Form als Markt. Der Kapitalismus bleibe insgesamt ein "Zumutungsverhältnis" (S. 47).
Prognosen, Rezepte? Damit halten sich alle Autoren zurück. Sie plädieren für kleine Schritte, für neue Bewegungen und neue Parteien, für eine Vermögensabgabe der Reichen, für Enteignungen plus Lösungen auf anderen Feldern. So für eine neue Steuerpolitik, für die Entprivatisierung der Systeme der sozialen Sicherung u.a.m. (S. 57). Europa könne in einen Teufelskreis geraten, so schreibt Sahra Wagenknecht, in dem "Ausgabekürzungen zu einer Schrumpfung der Wirtschaft führen..." Das erhöhe die Arbeitslosigkeit und die Schuldenquote, "was dann wiederum noch schärfere Kürzungen erforderlich macht usw." Deshalb gehöre es zur Aufgabe linker Kräfte, " die aktuelle Krisensituation für die Kritik am Kapitalismus zu nutzen und die Menschen von der prinzipiellen Möglichkeit (...) einer Systemalternative zu überzeugen." Es gehe aber nicht um eine abstrakte Systemkritik allein, sondern auch um mittelfristig durchsetzbare Alternativen (S. 107).
Bedenklich für meine Begriffe ist die Feststellung auf Seite 37, dass es seit dem Wegbruch der Zielvorstellung Sozialismus/Kommunismus keine Antwort mehr gäbe. Ergeben sich Lehren und Alternativen nicht auch aus der jüngsten Geschichte? Weshalb muß nach Fehlversuchen gleich die ganze Idee sterben?
Vielleicht ist diese politökonomische Lektüre nicht leicht zu verdauen - aber für die noch Nachdenklichen, ganz gewiß aber für solche Leute, die mutig für eine bessere Welt streiten, ist sie unbabdingbar. Für die Linke, für die Partei der Piraten, für die Occupy-Bewegung und für viele andere mehr. Zweifel am Unumstößlichen ist angebracht. "Nothing is more" - "Nichts geht mehr" gilt nicht.
Allerdings müßte das Publikum im Welttheater nicht nur stöhnen und alles hinnehmen, sondern singen - im Chor und mit einer Stimme!!!
Thomas Kuczynski kleidet seinen Optimismus in den folgenden sehr schönen Satz: "Nichts ist ausweglos und alles spannend." (S. 162) (PK)
("No way out?" 14 Versuche, die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise zu verstehen, Herausgeber Herrmann L. Gremliza, KVV Konkret GmbH & Co. KG, 190 Seiten, ISBN 978-3-930786-63-3, 19.80 Euro, Autorinnen: Dietmar Dath, Thomas Ebermann, Georg Fülberth, Sam Gindin, Werner Heine, Michael Heinrich, Thomas Kuczynski, Robert Kurz, Justin Monday, Leo Panitch, Moishe Postone, Rainer Trampert, Joseph Vogl, Sahra Wagenknecht)
(Erstveröffentlichung des Buchtipps am 06.06.2012 in "Neue Rheinische Zeitung")
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