Mittwoch, 11. Mai 2016

#SPD-Politiker wollten jedoch im Grunde nur diejenigen besser stellen, denen es ohnehin besser gehe

 
 
Die Partei ist dem neoliberalen Zeitgeist nachgerannt
 
[via nachdenkseiten.de]
 

Die SPD sollte zu ihren Wurzeln – Solidarität und soziale Gerechtigkeit – zurückkehren, findet der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge.
 
Das bedeute, „für die Unterprivilegierten etwas zu tun" und den gesellschaftlichen Reichtum gerecht zu verteilen. (…) Um ihr Glaubwürdigkeitsproblem zu überwinden, müsse die immerhin 150 Jahre alte Traditionspartei sich auf ihre alten Werte besinnen – soziale Gerechtigkeit und Teilhabe für alle –, statt zu verkünden, wie etwa Peer Steinbrück, nur dem werde geholfen, der selbst auch Leistungen für die Gesellschaft erbringe. Butterwegge kritisiert: „Und das heißt im Grunde der Bruch mit dem Sozialstaatsgebot unseres Grundgesetzes, denn natürlich haben die Väter und wenigen Mütter unserer Verfassung sich vorgestellt, dass sich der Staat vor allen Dingen um diejenigen kümmert, die aus dieser Sicht ökonomisch, neoliberal gefasst nicht Leistung erbringen, um Obdachlose, um total verelendete Drogenabhängige, um illegalisierte Migrantinnen und Migranten, also um Menschen, die auf der Schattenseite der Gesellschaft stehen." Steinbrück und andere SPD-Politiker wollten jedoch im Grunde nur diejenigen besser stellen, denen es ohnehin besser gehe.
 
 



Vortrag zu Privatisierung und Re-Kommunalisierung in den Kommunen - Von der Selbst- zur Fremdverwaltung

 
 
Vortrag zu Privatisierung und Re-Kommunalisierung in den Kommunen
Von der Selbst- zur Fremdverwaltung

Von Werner Rügemer
 
[via Neue Rheinische Zeitung]

Beim „Arbeitnehmerempfang" der Stadt Pforzheim (Motto: „Gewerkschaft trifft Politik") am 29.4.2016 hielt Werner Rügemer auf Einladung des Oberbürgermeisters Gert Hager und des Landrats des Enzkreises Karl Röckinger den folgenden Vortrag.
 
Das offizielle Thema lautete „Zwischen Privatisierung und Re-Kommunalisierung – die kommunale Leistungserbringung". Die Stadt Pforzheim ist „führend" bei der Privatisierung der kommunalen Infrastruktur.
 
Anfang 2016 beschloss der Gemeinderat die Übertragung des öffentlichen Nahverkehrs an eine Tochtergesellschaft der Deutsche Bahn AG, zunächst für 10 Jahre. Die städtische Verkehrsgesellschaft SVP wird aufgelöst, die 240 SVP-Beschäftigten werden gekündigt.
 



Ausverkauf (Foto: arbeiterfotografie)

Werte Kolleginnen und Kollegen,
sehr geehrte Damen und Herren,

ich hoffe, Sie sind nicht über die bürokratische Sprache im Titel meines Vortrages gestolpert. Es geht um eine zentrale Frage für Bürgerinnen und Bürger, für Alt und Jung, es geht um die Sicherheit des alltäglichen Lebens, um günstige Wohnungen, ordentliche Schulen, sauberes Trinkwasser und funktionierende Abwasserentsorgung, um anregende Kultur, günstigen Nahverkehr, bezahlbare Energieversorgung, sichere Straßen, offene Freizeit- und Sportanlagen, ja auch um eine freundliche und schnelle Verwaltung und noch einiges mehr, und nicht zuletzt um gewählte Stadt- und Gemeinderäte, die Bürgerinteressen vertreten und nicht vor sich hinmauscheln. Das ist schon eine Menge. Das ist ein Kernbestand jeder Demokratie.

Wie es den Kommunen geht, auch daran zeigt sich der demokratische Zustand einer Gesellschaft. Bekanntlich haben die Gemeinden in Deutschland nach dem Grundgesetz von 1949, Artikel 28 die Garantie für gemeindliche Selbstverwaltung. So ähnlich wurde es auch für die Landesverfassungen beschlossen. Da gilt das Universalitätsprinzip, das heißt Allzuständigkeit. Die Gemeinden haben sogar das Aufgabenfindungsrecht, das heißt sie können im Interesse der Bürger auch neue Aufgaben übernehmen.

Das klingt gut. Aber wie ist die Realität? Aus der Selbstverwaltung ist in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland weithin eine Fremdverwaltung geworden. Diese Entwicklung wurde nach der deutschen Wiedervereinigung wesentlich beschleunigt. Und diese Entwicklung ist noch immer nicht zu Ende.

In Pforzheim sind Sie gegenwärtig schon wieder in einem solchen Übergang von der Selbst- zur Fremdverwaltung. Wie wird es mit dem öffentlichen Nahverkehr in Pforzheim weitergehen? Was wird mit den bisherigen Angestellten des gemeindlichen Unternehmens Stadtverkehr Pforzheim, SVP? Und wie werden die Fahrpreise und Transportleistungen durch das neue private Unternehmen gestaltet werden, auch auf mittlere und längere Sicht?

Kommune: Kernbestand der Demokratie

Aber kommen wir erstmal zurück zu dem, was eine Kommune, eine Gemeinde ist oder sein soll. Sie soll ein Kernbestand der Demokratie sein. „In der Gemeinde fängt die Demokratie an", verkündete der erste Kanzler der neugegründeten Bundesrepublik Deutschland, Konrad Adenauer. Daran hat sich dieser autoritäre Knochen nicht unbedingt gehalten. Außerdem musste er den westlichen Siegermächten gehorchen. Aber sein Satz war gut.
 
Die Demokratie in den Gemeinden geht auf Kämpfe zurück, die in der Geschichte ausgefochten werden mussten, nicht im Himmel der Theorie und der Wünsche, sondern auf der Erde in Deutschland. Immer wieder wurde die kommunale Selbstverwaltung abgeschafft – im finsteren wie dann auch im etwas helleren Mittelalter, durch die Feudalherrschaft. Einzelne Städte konnten sich teilweise daraus befreien, aber nie nachhaltig. Durch demokratische Bewegungen und besonders gefördert durch die französische Revolution wurden die Gemeinden wieder freier, sogar zeitweise auch in den Monarchien von Preußen und Bayern. Ein kräftiger Schub  in Deutschland kam durch die bürgerliche Revolution von 1848/1849. Das schlug sich in der Verfassung der Paulskirche nieder, dann auch wieder in der Weimarer Verfassung. Davor musste aber erst das wilhelminische Kaiserreich abgeschafft werden. Dann erst war eine demokratische Ordnung möglich, mit selbstverwalteten Gemeinden.

Die Nazis gingen besonders antidemokratisch mit den Gemeinden um. Sofort im Februar 1933 ließ Innenminister Hermann Göring alle Gemeindevertretungen zwangsweise auflösen. Wer dem nicht folgte, wurde vertrieben oder verhaftet. Alle Parteien wurden aufgelöst beziehungsweise verboten. Es blieb nur noch die NSDAP übrig. Das Gesetz zur Gemeindeverfassung von 1933 schaffte alle kommunalen Wahlen ab. Die Bürgermeister spielten nach dem Führerprinzip den Gemeindeleiter, er wurde nicht von den Bürgern gewählt, sondern von der NSDAP beziehungsweise von den Gauleitern und den Regierungspräsidenten ernannt, und zwar auf 12 Jahre, wie im wilhelminischen Kaiserreich. In wichtigen Fälle wie in Köln griff Göring aus Berlin ein: Da durfte nicht der örtliche Gauleiter Oberbürgermeister werden, sondern ein katholischer Bankier, damit das gehobene Bürgertum mitzog.

Der Gemeindeleiter fällte seine Entscheidungen ohne Gemeinderat und in vollkommener Intransparenz. Auch die „Ratsherren" wurden nicht gewählt, sie wurden ebenso ohne Wahl ernannt, nannten sich aber weiter Ratsherren. Und natürlich waren es fast ausnahmslos Herren. Sie besetzten auch die lukrativen Posten in den Vorständen und Aufsichtsräten der Stadtwerke und der Wohnungsgenossenschaften. Die Gemeinden wurden vom Zentralstaat gelenkt.

Die Nazis legten übrigens im Jahressteuergesetz 1933 fest, dass Schmiergelder von Unternehmen als steuerbegünstigte Betriebsausgaben anerkannt wurden. So kamen zum Beispiel Bau- und andere Unternehmer ganz „unbürokratisch" auch an ihre kommunalen Aufträge. Und die Gemeindeleiter und hohen Beamten hatten ihren heimlichen Nebenverdienst. Wissen Sie übrigens, wann die Steuerbegünstigung für Schmiergelder aufgehoben wurde? Das war nicht nach dem Ende der Nazizeit. Die Adenauer-Regierungen behielten das bei, auch die Nachfolgeregierungen bis 1999 betrachteten die sogenannten „nützlichen Ausgaben" als steuerfreie Wirtschaftsförderung nicht nur im als korrupt verschrienen Ausland, sondern auch in der Bundesrepublik selbst. Erst durch öffentlichen und internationalen Druck beendete die rot-grüne Bundesregierung 1999 diesen skandalösen Zustand. Bekanntlich wurden in vielen deutschen Städten, in Nordrhein-Westfalen wie in Baden-Württemberg, während der 1990er Jahre private Müllverbrennungsöfen durch die Bestechung von Kommunalpolitikern angeschoben, zum Beispiel.

Kommunale Selbstverwaltung schrittweise ausgehöhlt

Die im Grundgesetz verankerte Garantie der kommunalen Selbstverwaltung wurde seit der deutschen Vereinigung schrittweise ausgehöhlt. Das geschah und geschieht in den unterschiedlichsten Formen. In den 1990er Jahren begann es mit der Privatisierung öffentlichen Eigentums. Diese Entwicklung wurde durch die Regierungsparteien CDU, CSU und FDP eingeleitet und nicht nur auf der Bundesebene praktiziert, etwa bei der Post, sondern auch auf der Landesebene und in den Gemeinden. Die private Müllentsorgung habe ich schon genannt. Sie wird ja bis heute praktiziert. In der Regel liegt sie in der Hand der großen Strom- und Energiekonzerne.

Diese Konzerne stiegen aber auch auf andere Weise in die Gemeinden ein und kauften zum Beispiel Anteile an den Stadtwerken. Als Miteigentümer der städtischen Unternehmen für Strom, Fernwärme und Gas konnten die Konzerne gleichzeitig über die Preise der von ihnen gelieferten Energie mitbestimmen. Und gleichzeitig geben die Gemeinden einen Teil ihrer Stadtwerksgewinne an diese Konzerne ab, und zwar dauerhaft. Auch deshalb wachsen die kommunalen Schulden und auch deshalb wird die kommunale Selbstverwaltung unterhöhlt.

Wahrscheinlich erinnern sich einige von Ihnen an das sogenannte Cross Border Leasing. Da haben in allen Bundesländern Städte ihre Kanalisationen, Kraftwerke, Trinkwasseranlagen, Messehallen und andere Einrichtungen der kommunalen Infrastruktur an Investoren in den Vereinigten Staaten von Amerika verkauft, und zwar teilweise für 100 Jahre und wieder zurückgemietet. Das ließen sich die Gemeinden von sogenannten renommierten Banken wie der Deutschen Bank, der United Bank of Switzerland und auch Landesbanken aufschwatzen. Die Investoren hatten schon damals ihren juristischen Sitz zwar nicht in Panama, aber in der größten Finanzoase der Welt, im US-Bundesstaat Delaware – keine Bundesregierung, keine nordrhein-westfälische Landesregierung und kein schwäbischer Bürgermeister haben sich daran gestört. In Baden-Württemberg etwa war Daimler Financial Services besonders aktiv, die Finanztochter des Autokonzerns Daimler. Da fielen so manche Bürgermeister und Gemeinderäte auf die versprochenen „Barwertvorteile" von ein paar Millionen DM herein, die am Anfang ausgezahlt wurden. Die Handlungsfähigkeit der Kommunen und Landeswasserverbände war eingeschränkt, etwa bei der Bewilligung von Bauland. Die Auflösung dieser dubiosen Verträge hat in manchen Städten zur zusätzlichen Verschuldung beigetragen – statt Schulden abzubauen, wie versprochen worden war.

Public Private Partnership - Finanzieller Irrsinn

Ein noch wesentlich schädlicheres Finanzinstrument hat die Bundesregierung aus SPD und Grünen Anfang der 2000er Jahre nach Deutschland gebracht. Es wurde aus der Finanzoase London in Großbritannien abgekupfert. Es heißt Public Private Partnership, PPP, Öffentlich-private Partnerschaft. Aber das ist keine Partnerschaft auf Augenhöhe. Die meist 30 Jahre lang laufenden Mietverträge für Schulen, Rathäuser und andere öffentliche Gebäude sollen die klammen städtischen Haushalte entlasten. Der juristischen Form nach nehmen die Gemeinden keinen Kredit auf, sie sollen ja die schwarze Null einhalten oder erreichen. Aber die Erfahrungen zeigen, dass diese Verträge in der Mehrheit zulasten der Gemeinden gehen. Pleiten der beauftragten Subunternehmen führen zu Mehrkosten ebenso wie häufige Nachforderungen der Generalunternehmer. Das ist eigentlich ein finanzieller Irrsinn, gerade heute, wo die öffentliche Hand so günstig wie nie Kredite bekommt, während auch der cleverste Investor wesentlich mehr Zinsen für seine PPP-Kredite bezahlen muss. Diese jahrzehntelang überhöhten Zinsen gehen ebenfalls in die Mieten ein, die die Gemeinden zwei bis drei Jahrzehnte zahlen müssen. Wie soll kommunale Selbstverwaltung unter solchen jahrzehntelang bindenden Verträgen möglich sein? (1)

Auch in dieser Stadt, so habe ich gehört, haben sich Bürgermeister und Bürgermeisterinnen an Zinswetten etwa der Deutschen Bank und der Bank J.P. Morgan beteiligt. Die Risiken waren nicht überschaubar. Da werden seitdem jahrelange Gerichtsverfahren geführt, die Zeit und Geld kosten und ebenfalls in so mancher Stadt zu zusätzlicher Verschuldung führen. Aber von diesen vergleichsweise kleinen Sünden am Rande will ich gar nicht reden.

Da bahnte sich jedenfalls ein Ende der kommunalen Selbstverwaltung an, und das Ende ist noch gar nicht in Sicht, wenn es so weitergeht. Bei den genannten Privatisierungen, den Stadtwerksverkäufen, dem Cross Border Leasing, den PPP-Verträgen und den diversen Spekulationsgeschäften spielen private Beratungsfirmen überall eine entscheidende Rolle. Die Gemeinden und auch ihre überregionalen und bundesweiten Zusammenschlüsse wie der Deutsche Städtetag haben es bis heute nicht geschafft, sich die notwendigen Kompetenzen im Umgang mit neuen Finanzprodukten und gewieften Investoren zu verschaffen.

Ich habe gehört, dass auch bei den beiden Entscheidungen, den Stadtverkehr Pforzheim damals vor einigen Jahren an den Energiekonzern Veolia und jetzt an eine Tochtergesellschaft der Deutsche Bahn AG zu vergeben, nicht nur eine Beratungsfirma bezahlt wurde, sondern mindestens drei.

Die Abhängigkeit von gut honorierten privaten Beratern ist zum Dauerzustand geworden, von der Bundesregierung angefangen über die Landesregierungen und in großem Umfang in den Gemeinden. Die Berater sind selbst gewinnorientierte Unternehmen, und sie nutzen die geringen Kenntnisse in den öffentlichen Verwaltungen und bei den ehrenamtlichen Bürgervertretern aus. Der Vorteil für die Gemeinden ist, so meine Erfahrung, für die öffentliche Hand auf die Dauer und im Durchschnitt sehr zweifelhaft. Die Berater verdienen gut an der Verschuldung der Gemeinden, und die Verschuldung ist nach einigen Jahren noch höher als zuvor.

Steuerschlupflöcher für Vermögende

Eigentlich wird, wie schon erwähnt, die kommunale Selbstverwaltung durch das Grundgesetz garantiert. Aber diese Garantie wird gerade durch den immer stärker ausgebauten Zentralstaat nicht mehr praktiziert, im Gegenteil. Die Bundesregierungen und ihre parlamentarischen Mehrheiten in Berlin lassen großflächige Steuerflucht für inländische ebenso wie für ausländische Konzerne zu. Steuerschlupflöcher für Vermögende, wie sie etwa der hier sowieso sehr nahe Nachbarstaat Schweiz dauerhaft bietet, werden auch von der gegenwärtigen Bundesregierung und ihrem schwäbischen Finanzminister nicht geschlossen. Im Gegenteil, er schützt sie verbissen, genauso wie bei Luxemburg und jetzt Panama, zum Nachteil auch der Gemeinden. Wenn sich die Bundeskanzlerin wie die „schwäbische Hausfrau" verhalten würde, wie sie behauptet, dann hätte sie ihren Finanzminister längst nachhause schicken müssen.

Überall müssen die Bürger Mehrwertsteuer bezahlen, und diese Steuer wurde immer weiter erhöht, schneller als alle anderen Steuern. Aber warum erhebt der Staat zum Beispiel auf Aktien- und Wertpapierkäufe und –Verkäufe überhaupt keine Mehrwertsteuer? Auf Autobenzin ja, aber nicht auf Flugbenzin? Das ist eine systemwidrige Ungleichbehandlung. Und es gibt überhaupt keinen Sinn, die heute rein spekulativen Börsengeschäfte, an denen sowieso nur eine kleine Minderheit der Bevölkerung sich beteiligt, solcherart zu bevorzugen. Was meinen Sie, wieviele Milliarden Euro der Staat da jährlich an die Falschen verschenkt? Und die Gemeinden schauen in die leere Röhre.

Leider ist die Liste der Maßnahmen noch nicht zu Ende, mit denen die Selbstverwaltung der Gemeinden weiter ausgehöhlt wird. Das neue Personen-Beförderungsgesetz von 2013 haben Sie bei der damit erzwungenen Vergabe des Stadtverkehrs Pforzheim schon zu spüren bekommen.

CETA: Rückfall hinter Europäische Wasser-Richtlinie

Aber nun sollen noch mehr internationale private Investoren, Berater und Dienstleister zum Zuge kommen, noch mehr als bisher schon möglich. Sie werden die gegenwärtig hinter verschlossenen Türen verhandelten Freihandelsverträge mitverfolgt haben. Ständig werden in den Medien und Regierungserklärungen Abkürzungen wie CETA und TTIP genannt. TISA gehört auch zu dieser Art. TISA steht für Trade in Services Agreement, also Handel mit Dienstleistungen. Da geht es ganz gezielt um die bisher noch öffentlichen Dienstleistungen, die für transatlantische Investoren geöffnet werden sollen.

Bekanntlich ist der Freihandelsvertrag CETA zwischen der Europäischen Union und Kanada zu Ende verhandelt. Im Internet können Sie die 1.650 Seiten nachlesen. Eine deutschsprachige Fassung hält die Bundesregierung zur Unterrichtung der Abgeordneten und der Bürger übrigens nicht für nötig. So können Sie sich, wenn Sie das trickreiche Handelsenglisch gut beherrschen und sich mal zwei Wochen Urlaub nehmen und sich mit einigen Fachbüchern und Lexika zum Studium zurückziehen, genauer kundig machen.

Aber wir haben Glück. Die Allianz der öffentlichen Wasserwirtschaft AöW hat sich aus eigenem Interesse mal die CETA-Kapitel zu Trinkwasser und Abwasser genauer vorgenommen. Die Experten der deutschen Wasserwerke haben herausgefunden: CETA fällt hinter die Europäische Wasser-Richtlinie zurück. Privatisierung in den Kommunen soll möglich sein, jedenfalls in bestimmten Teilbereichen. Und eine Re-Kommunalisierung wäre nicht möglich. Die Sonderrechte insbesondere für ausländische Investoren können in die kommunalen Rechte des Anschluss- und Benutzungszwangs, der Gebührenfestsetzung, der Festlegung von Wasserschutzgebieten, der Wegenutzung, der Wasserentnahme und Wassereinleitung eingreifen. Investoren könnten der interkommunalen Zusammenarbeit Grenzen setzen. (2)

Meine Aufzählung ist, wie Sie schon vermuten, keineswegs vollständig. Zum Beispiel von den Kosten für die Unterbringung und Integration von Flüchtlingen habe ich hier gar nicht erst gesprochen.

Kommunale Selbstverwaltung zu schädlicher Fremdverwaltung geworden

Jedenfalls, die kommunale Selbstverwaltung ist über weite Strecken zu einer für die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger schädlichen Fremdverwaltung geworden. Können Bürgerinnen und Bürger dagegen etwas tun?

Ich hoffe, mit vielen anderen, dass das möglich ist. Es war ja schon in der Vergangenheit möglich. Bürgerinitiativen haben zumindest einige Privatisierungen und einige Cross Border Leasing und Public Private Partnership-Verträge verhindert. Vielleicht waren Sie aus Pforzheim ja schon bei einer der vielen kleinen und auch der großen Aktionen gegen das Freihandelsabkommen TTIP dabei?

Und vielleicht kennen Sie Initiativen aus dem bürgerschaftlichen und politischen Raum, die die große Steuerflucht verhindern wollen, die die Vermögensteuer wieder einführen wollen, die den Handel mit Aktien und anderen Wertpapieren endlich mit der Mehrwertsteuer belegen wollen und dergleichen? Überall auf diesen Gebieten regt es sich, auch wenn Sie das in Ihren beiden Lokalzeitungen und in der Tagesschau und im heute-journal noch nicht lesen und sehen können.

Wie es mit der Demokratie überhaupt und auch mit der kommunalen Selbstverwaltung ist: Sie musste immer erkämpft und dann gesichert werden. Wir sind wieder an einem solchen Punkt in der Geschichte angekommen, eigentlich schon länger. Aber jetzt bemerken das mehr Menschen als bisher.

Vor einer Woche haben sich Bürgermeisterinnen und Bürgermeister und gewählte Vertreter und Initiativen aus 40 Städten und Landkreisen Europas in Barcelona getroffen. Aus Spanien, Frankreich, Österreich, Großbritannien, den Niederlanden und Belgien und auch aus Deutschland war man dabei. Vertreten waren auch die Großstädte Barcelona, Madrid, Birmingham, Wien, Grenoble und Köln. Es gibt übrigens schon 1.600 Gemeinden in der Europäischen Union, die sich per Gemeinde- und Stadtratsbeschluss für TTIP-frei erklärt haben.

Bei dem Treffen in Barcelona wurde erklärt: „Die Kommunen sind nicht nur von den intransparenten Verhandlungen völlig ausgeschlossen, die Abkommen schränken auch ihr demokratisches Selbstbestimmungsrecht massiv ein. Durch den verstärkten Privatisierungsdruck gefährden die Abkommen die öffentliche Daseinsvorsorge wie Wohnen, Gesundheit, Umwelt, soziale Dienste, Bildung, die lokale wirtschaftliche Entwicklung und Ernährungssicherheit." Die in Barcelona anwesenden Vertreter aus Brüssel und Grenoble haben sich bereit erklärt, die nächste Versammlung der europäischen Gemeinden auszurichten. (3)

Hoffentlich können Sie Ihren Kindern und Enkeln sagen: Ja, ich habe mich gewehrt. Ja, ich bin aktiv geworden. Oder: ich hatte zwar keine Zeit, ich musste arbeiten und noch meinen Zweitjob machen und eine neue Stelle als Busfahrer suchen und den Haushalt und die Kinder versorgen – aber ich habe diejenigen unterstützt, die aktiv sein konnten.

Ich hoffe, dass ich Sie auf diesem Wege ermutigen kann. Sie werden feststellen, dass Sie nicht alleine sind. Schauen Sie sich um.


Fussnoten:

1 Werner Rügemer: „Heuschrecken" im öffentlichen Raum. Public Private Partnership – Anatomie eines globalen Finanzinstruments, Bielefeld 2012. Siehe auch
www.gemeingut.org

2 AöW: Wasserwirtschaft im Sog des Freihandels – CETA, Positionspapier, Berlin April 2016, S. 5

3 Attac Deutschland: TTIP-freie Kommunen in der EU formieren sich – Konferenz in Barcelona als Startschuss, Pressemitteilung 24.4.2016


Siehe auch:
Bundesamt für Bauwesen (BBR) muss Urbanität am Kulturforum öffentlich realisieren!
PPP-Museum der Moderne Berlin?
Von Ulrike von Wiesenau
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22789
 


Neoliberalismus macht den Armen und Schwachen weis, sie wären an ihrem Elend selbst schuld [lesenswert!!!]

 
 

Die neoliberale Indoktrination

 
[via nachdenkseiten.de]
 

Der Neoliberalismus ist als Gesellschaftsideologie ein Phänomen. Nicht nur macht er den Armen und Schwachen weis, sie wären an ihrem Elend selbst schuld. Er schafft es auch, dafür zu sorgen, dass das wahre Ausmaß der gesellschaftlichen Armut kaum je an die Öffentlichkeit dringt; dass das Gesundheitssystem trotz immer höherer Ausgaben immer inhumaner wird; dass die Soziale Arbeit erodiert und kaum jemand etwas hiergegen unternimmt; dass mittels Stiftungen ein regelrechter „Refeudalisierungsboom" im Lande tobt und Investoren inzwischen auf die Privatisierung des öffentlichen Bildungssystems abzielen.

Zur Frage, wie den Menschen mittels geeigneter Psychotechniken der Geist vernebelt wird, um Widerstand gegen diese unmenschliche Ideologie weitestgehend unmöglich zu machen, sprach Jens Wernicke mit dem Wahrnehmungs- und Kognitionsforscher Rainer Mausfeld.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

http://www.nachdenkseiten.de/upload/podcast/160122_Die_neoliberale_Indoktrination_NDS.mp3

Herr Mausfeld, Sie haben als Wahrnehmungs- und Kognitionsforscher vor Kurzem unerwartet so etwas wie ein wenig Berühmtheit erlangt, als ein Vortrag von Ihnen zur Frage „Warum schweigen die Lämmer?" auf YouTube plötzlich auf immense Nachfrage stieß. Fast 200.000 Menschen haben ihn inzwischen gesehen und es werden nach wie vor mehr. Wie erklären Sie sich die immense Nachfrage nach ihm?

Die Resonanz hat mich überrascht. Denn in der Form ist der Vortrag recht trocken und bisweilen auch akademisch. Inhaltlich versuche ich lediglich, einige Fakten aus einer bestimmten Perspektive in eine innere geistige Ordnung zu bringen. Vielleicht wird dies ja als hilfreich empfunden, da in der Flut fragmentierter Informationen, mit der wir gerade im gesellschaftlich-politischen Bereich konfrontiert sind, die Sinnzusammenhänge mehr und mehr verlorengehen und uns dadurch die Möglichkeit zu einer eigenständigen Meinungsbildung erschwert oder gar genommen wird.

Wie kam es denn zu diesem Vortrag?

Der Vortrag, der einige Themen aufgreift, die ich auch in Veranstaltungen des Psychologiestudiums anspreche, war nur für einen kleinen Kreis von Studenten und Freunden gedacht. Thematisch gehört der Vortrag ja nicht zu meinem Arbeitsbereich, der Wahrnehmungs- und Kognitionsforschung. Die Gemeinsamkeiten meines Arbeitsbereichs und des gesellschaftspolitischen Themas des Vortrags liegen denn auch weniger auf einer inhaltlichen als auf einer denkmethodologischen Ebene. Denn in der Grundlagenforschung wie im Bereich des Gesellschaftlich-Politischen können wir uns nur dann ein Stück Autonomie gegenüber dem jeweiligen Zeitgeist bewahren, wenn wir bei jedem Thema zunächst fragen, aus welchem ideengeschichtlichen und historisch-gesellschaftlichen Hintergrund es sich entwickelt hat und welche stillschweigenden Prämissen und welche verborgenen Vorurteile bereits in der Formulierung eines Themas oder einer Frage enthalten sind.

Zu einem solchen "Hinterfragen" sind wir alle von Natur aus befähigt, man muss sich nur entschließen, von dieser Befähigung auch Gebrauch zu machen – das war ja gerade die Leitidee der Aufklärung. Das ist oft mühsam und bedarf der Übung, doch empfinden wir häufig ein Gefühl der Befriedigung, wenn wir den Sinnzusammenhang der Dinge besser verstehen.

Und Übung braucht übrigens auch wieder Zeit, wodurch verständlich wird, warum es bezüglich der Fähigkeiten, Lügen und Manipulationen zu durchschauen, große gesellschaftliche Disparitäten gibt…

Genau. Gerade in dieser Hinsicht haben Wissenschaftler eine besondere gesellschaftliche Verpflichtung. Sie sind geübt in der Beschaffung von Informationen und im Umgang mit Informationen. Sie verstehen zumeist, ihr Wissen in Rede und Schrift zu vermitteln. Und sie sind, oder sollten eigentlich, schon aus beruflichem Ethos der Wahrheit verpflichtet sein. Daraus ergibt sich eine gesellschaftliche Verantwortung, sich nicht zu scheuen, sich nötigenfalls auch mit der Macht und den ihr dienenden Ideologien anzulegen.

Die Realität sieht leider anders aus. Das liegt natürlich auch, nicht nur an den Universitäten, an den Karrieremechanismen. Verständlicherweise stoßen gerade im gesellschaftspolitischen Bereich ein Aussprechen der Wahrheit und die Konsequenzen unserer natürlichen Neugierde und Freude an Autonomie nicht bei allen auf Begeisterung. Wenn wir nämlich die Dinge besser verstehen, könnte es ja passieren, dass wir beginnen, Fragen zu stellen, die den Status des jeweiligen Establishments gefährden könnten.

Daher hat in jeder Gesellschaft und in jedem Bereich einer Gesellschaft das Establishment ein Interesse daran, dass Ausbildungsinstitutionen und Medien die Möglichkeiten eines Erkennens von Sinnzusammenhängen in geeigneten Grenzen halten. Fragmentierung – ob durch bildungsbürgerliches Wissen, durch eine PISA-orientierte Schulausbildung, durch ein "kompetenzorientiertes" Studium oder durch Medien – ist also in diesem Sinne keineswegs Zufall, sondern ein beabsichtigter Prozess, eine Art Herrschaftsinstrument.

 

Rainer Mausfeld: „Warum schweigen die Lämmer? – Techniken des Meinungs- und Empörungsmanagements"


Hat die Bologna-Reform an den Hochschulen dieses Problem womöglich noch weiter verschärft? Ich hatte vor einigen Jahren einmal auf den NachDenkSeiten argumentiert, die aktuellen Reformen seien wohl selbst als Herrschaftsinstrument beziehungsweise Etablierung neuer Herrschaftsmechanismen im Bildungsbereich zu verstehen…

Ja, das hat sie, und zwar in einem Umfang und mit einer Systematik, wie wohl kein anderes Ereignis in der Geschichte der Bildung und Ausbildung. Im Gefolge der neoliberalen "Revolution von oben" wurde auch das gesamte Bildungssystem ökonomischen Kategorien unterworfen. Die Aufgabe der Universität besteht nun in der marktkonformen Produktion von "Humankapital".

Dazu korrespondierend besteht die Aufgabe der Studierenden darin, ihre "Fremdverwertbarkeitskompetenz" zu optimieren, um so flexibel auf dem Arbeitsmarkt verwertbar zu sein. Die Verinnerlichung einer solchen Haltung und die Unterwerfung unter sie werden dann als "Selbstverwirklichung" bezeichnet. Eine solche Pervertierung der Idee einer Entfaltung eigener Neigungen und Fähigkeiten führt zwangsläufig zu geistiger und psychischer Fragmentierung der Studierenden und auch zu großen Zukunftsängsten. Beides beeinträchtigt aus naheliegenden Gründen die Möglichkeit und die Bereitschaft, Dinge zu hinterfragen und führt zu Entpolitisierung, ja, politischer Lethargie…

Das Gefühl von politischer Ohnmacht, oft verbunden mit latenter Verzweiflung oder gar Wut, scheint allerdings nicht nur unter Studierenden weit verbreitet zu sein, sondern aktuell geradezu zu grassieren; in fast jedem Milieu…

Ja, und das ist auch kein Wunder. Denn das Ausbildungssystem ist nur ein Aspekt der sehr viel weitreichenderen und tiefergehenden aktuellen Indoktrinationssysteme. Da diese im Wortsinne inhuman sind, also Zielen dienen, die der Natur unseres Geistes und somit der Natur des Menschen zuwiderlaufen, gehen sie fast zwangsläufig mit gewaltigen psychischen Folgekosten einher.

Diese Indoktrinationssysteme könnte man als neoliberale Indoktrinationssysteme bezeichnen. Der Neoliberalismus zielt ja gerade darauf, Konsumenten zu produzieren, die in einer sozial atomisierten Gesellschaft nur noch als Konsumenten eine soziale Identität finden. Im pervertierten Freiheitsbegriff des Neoliberalismus bezieht sich die "Freiheit" einer Person darauf, dass sie sich den Kräften des "freien Marktes" zu unterwerfen hat, also von allen gesellschaftlichen und sozialen Banden "befreit" und somit sozial und gesellschaftlich entwurzelt ist. Scheitert sie auf dem "Markt", so darf sie dafür nicht gesellschaftliche Verhältnisse verantwortlich machen, sondern muss dies ihrem individuellen Versagen zuschreiben. Eine solche Haltung kann sie jedoch nur um den Preis psychischer Deformationen, insbesondere sozialer Ängste und Depressionen, einnehmen.

Durch entsprechende Indoktrinationssysteme kann man Menschen auch ohne Knebel zum Schweigen und zum Verstummen bringen, sie ihrer "gesunden" Gegenwehr gegen krankmachende Verhältnisse weitestgehend berauben.

Wie es der gute Bert Brecht einmal sagte: „Es gibt viele Arten zu töten. Man kann einem ein Messer in den Bauch stechen, einem das Brot entziehen, einen von einer Krankheit nicht heilen, einen in eine schlechte Wohnung stecken, einen durch Arbeit zu Tode schinden, einen zum Suizid treiben, einen in den Krieg führen usw. Nur weniges davon ist in unserem Staat verboten"…

Nicht nur das. Man kann einen Menschen auch auf verschiedene Arten beeinflussen, ängstigen, manipulieren, verschrecken und dazu bringen, sich Einflüssen zu unterwerfen, die seinen vitalen Interessen diametral entgegenstehen. Nur, dass das eben nicht folgenlos bleibt.

Es wurde ja schon früher aufgezeigt, dass der Kapitalismus ein besonders hohes Maß psychischer Störungen mit sich bringt. Für die Gegenwart haben Richard Wilkinson und Kate Pickett dies in ihrem Buch „Gleichheit ist Glück" noch einmal akribisch anhand einer Fülle quantitativer Daten aufgezeigt.

Gesellschaftlich verursachte Störungen wendet der Neoliberalismus nun aber perverserweise gegen das Individuum selbst, das nun dem Zwang unterworfen wird, sich durch geeignete Maßnahmen selbst besser fremdverwertbar zu "gestalten". Das gilt für jede Art von Verhalten, das unverträglich mit der gewünschten Rolle eines Konsumenten ist.

Daher finden wir mit wachsendem Einfluss neoliberalen Denkens auch eine zunehmende Tendenz zu Disziplinierungsinstrumenten, etwa eine Tendenz zum "therapeutischen Staat" und auch ein Anwachsen einer privaten Gefängnisindustrie. Unter allen Nationen weltweit sitzt in den USA der höchste prozentuale Anteil der Bevölkerung im Gefängnis. Die US-Bevölkerung macht 4,4 Prozent der Weltbevölkerung aus, stellt jedoch 22 Prozent aller Gefangenen weltweit.

Da der Neoliberalismus nur in dem Maße wirkmächtig sein kann, wie es ihm gelingt, Menschen ihren eigenen Interessen und ihren sozialen Zugehörigkeiten zu entfremden, benötigt er geeignete Disziplinierungsinstrumente, um die psychischen und sozialen Folgen dieser Entfremdung unter Kontrolle zu halten.

Lassen Sie uns kurz zu den Kategorien Ihrer und unserer Kritik sprechen. Was genau verstehen Sie denn eigentlich unter „Neoliberalismus"? Was meint, was beschreibt das für Sie?

Neoliberales Denken entstammt vielen und sehr heterogenen Quellen. Als eine einheitliche ökonomisch-gesellschaftliche Konzeption gibt es "den" Neoliberalismus nicht. Es gibt jedoch den politisch organisierten und wirkmächtigen Neoliberalismus, also den real existierenden Neoliberalismus.

Dessen ideologische Konzeption lässt sich relativ leicht als das charakterisieren, was von den Eliten in den Medien – unterstützt durch propagandistische Think Tanks wie die Bertelsmann-Stiftung, die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, das Institut der deutschen Wirtschaft und andere – und durch die wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten verbreitet wird. Die Codewörter hierfür sind hinreichend bekannt; typische Beispiele für den neoliberalen "Neusprech" sind: „Liberalisierung", „Reformen weiter treiben", „Bürokratie abbauen" oder „Austerität".

Dieser Ideologie sucht man einen wissenschaftlichen Anstrich zu geben durch geeignete „ökonomische Theorien", wie sie in den Seminarräumen wirtschaftswissenschaftlicher Fakultäten dargeboten werden. Diese Theorien beruhen aber auf theoretischen Absurditäten, auf Gebilden einer letztlich durch Umverteilungsbedürfnisse getriebenen intellektuellen Phantasie. Nämlich der Phantasie eines sich rational selbstregulierenden, "freien Marktes", auf dem das Fiktionswesen Homo oeconomicus agiert – also der rationale und nutzenmaximierende Mensch, der über Kenntnisse aller denkbaren Entscheidungsoptionen verfügt und zugleich alle Konsequenzen seines Handelns überschauen kann.

Da die fundamentale Unangemessenheit einer solchen Konzeption des menschlichen Geistes für jeden, dessen Blick nicht ideologisch getrübt ist, sofort erkennbar ist, deklariert man diese Konzeption als ein idealisiertes mathematisches Modell, das dann den Vorteil hat, alle offenkundigen Diskrepanzen zur Realität mit der Geschmeidigkeit scholastischer Denkgebäude durch geeignete Zusatzannahmen in sich aufnehmen zu können.

Als ökonomische Theorie weist der Neoliberalismus so viele interne Widersprüche und Inkonsistenzen auf, dass er längst daran hätte zugrunde gehen müssen – er ist eine Art intellektueller Pathologie. Das wurde von ökonomischen Experten wieder und wieder aufgezeigt. Jüngst haben Philip Mirowski – in seinem Buch „Untote leben länger: Warum der Neoliberalismus nach der Krise noch stärker ist" – und Wendy Brown – in „Die schleichende Revolution: Wie der Neoliberalismus die Demokratie zerstört" dies noch einmal rekapituliert und aus unterschiedlichen Perspektiven aufbereitet. Aber auch hier wird wohl der Effekt wieder nahe bei Null liegen, denn der Neoliberalismus ist völlig immun gegen Argumente, ihm genügt es, dass er politisch wirkmächtig ist.

Da hat die Wissenschaft, zumindest in diesem Bereich, ja offenbar die Rolle übernommen, die früher von der Kirche ausgeübt wurde: Wissenschaft als Religionsersatz. Im Dienste der jeweils materiell herrschenden Macht und deren ideologischer Legitimation… Können Sie für die genannten Widersprüche denn bitte ein konkretes Beispiel ausführen? Was meinen Sie genau?

Nun, der fundamentale Widerspruch, zumindest im real existierenden Neoliberalismus, ist der zwischen dem in der neoliberalen Rhetorik so vielbesungenen "freien Markt" und der Tatsache, dass der Neoliberalismus vor nichts eine größere Angst hat als vor einem wirklich freien Markt. Der "freie Markt" ist nur für die ökonomisch Schwachen, ob Personen oder Staaten, gedacht, während die ökonomisch Starken, insbesondere Großkonzerne, durch staatliche Interventionen vor ebendiesen Kräften zu schützen sind. Der Neoliberalismus benötigt also für seine eigentlichen Ziele, nämlich die einer Umverteilung und beständigen Akkumulation, ganz wesentlich den starken Staat, der die "Marktfreiheit" in seinem Sinne reguliert.

Ein Beispiel mit gravierenden Folgen sind die Agrarsubventionen. Die USA und die EU subventionieren ihre Landwirtschaft mit etwa 1 Milliarde Dollar pro Tag. Würden die reichen Länder diese Eingriffe in den „freien Markt" abbauen, könnten die Entwicklungsländer ihre Agrarexporte um mehr als 20 Prozent und das Einkommen der ländlichen Bevölkerung um etwa 60 Milliarden Dollar pro Jahr erhöhen – ein Betrag, der größer ist als die gesamte Entwicklungshilfe der EU. Hinzu kommen Einfuhrbeschränkungen und andere Hürden, durch die die EU und die USA ihre Märkte gegen Importe aus Entwicklungsländern abschotten. Zugleich wird armen Nationen das Recht genommen, ihre Wirtschaft selbst zu gestalten. Die armen Länder müssen sich der „Marktdisziplin" unterwerfen und ihre Märkte für transnationale Konzerne öffnen, für die sie dann ein Reservoir billiger Arbeitskräfte und Rohmaterialien werden, die reichen Länder betreiben Protektionismus. So sieht die Realität des „freien Marktes" aus.

In der Tradition neoliberalen Denkens gibt es jedoch auch Varianten, die die Idee des freien Marktes wirklich ernst nehmen und jede Art staatlicher Intervention ablehnen, etwa Murray Rothbard oder in dessen Gefolge Walter Block und Hans-Hermann Hoppe. Diesen neoliberalen Denkern zufolge stellen auch Kinder nur eine Form von Eigentum dar und dürften somit auf dem freien Markt verkauft werden; zudem dürfe der Staat Eltern beispielsweise keine rechtliche Verpflichtung auferlegen, ihr Kind mit Nahrung zu versorgen.

Diese Denksysteme mögen – sieht man einmal von der Beliebigkeit und Absurdität ihrer Prämissen ab – als intellektuelle Übungsaufgabe eine gewisse innere Konsistenz aufweisen. Sie sind insofern lehrreich, als sie die Idee eines durch keine moralischen "Hemmnisse" begrenzten, radikal freien Marktes zu ihrer logischen, zutiefst inhumanen Konsequenz führen. Nicht einmal die Reichen würden in einer solchen Dystopie einer Gesellschaft leben wollen.

Kurz: Der real existierende Neoliberalismus ist eigentlich seit je intellektuell bankrott. Dennoch ist er – als eine Art "Hausphilosophie" der Reichen und Großkonzerne – politisch äußerst wirkungsmächtig.

Es gibt Neoliberalismus-Kritiker, wie Jamie Peck, die der Auffassung sind, dass der Neoliberalismus sein Gehirn schon lange verloren hat und sich nur seine Glieder noch reflexartig und zunehmend erratisch über den Globus bewegen. Zwangsläufig müsse er dabei immer autokratischere Züge annehmen.

Es gibt ja mittlerweile in dem globalen neoliberalen Feldexperiment reiche Erfahrungsdaten, die zeigen, dass der Neoliberalismus nicht nur die von ihm deklarierten Ziele – wie etwa Wachstum zu erzeugen oder den allgemeinen Wohlstand zu erhöhen – verfehlt. Besonders in der sogenannten Dritten Welt, und zunehmend auch in Europa, sind seine Folgen offenkundig. Jean Ziegler, der ehemalige UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, stellt dazu fest: „Der deutsche Faschismus brauchte sechs Kriegsjahre, um 56 Millionen Menschen umzubringen – die neoliberale Wirtschaftsordnung schafft das locker in gut einem Jahr."

Der Neoliberalismus erzeugt weltweit ein Desaster nach dem anderen. Aus jedem Desaster kommt er jedoch – in scheinbar paradoxer Weise – gestärkt hervor und wird sogleich wieder als "Therapie" empfohlen. Offensichtlich nährt der Neoliberalismus nicht nur Krisen, sondern er nährt sich geradezu von Krisen und schlägt dabei noch aus seinen inneren Widersprüchen und Inkonsistenzen Kapital. Das wirft interessante Fragen nach seinen eigentlichen Zielen auf.

Da muss ich an David Harvey denken, dessen wunderbare „Kleine Geschichte des Neoliberalismus" folgender Klappentext ziert: „Längst kritisieren auch bekannte Wirtschaftswissenschaftler wie Joseph Stiglitz, ehemaliger Chefökonom der Weltbank, die ‚Auswüchse' des Neoliberalismus und beklagen die wachsende soziale Ungleichheit als dessen unerwünschtes Nebenprodukt. Falsch, sagt David Harvey: Weshalb kommt diesen Leuten denn ‚nie der Gedanke, dass die soziale Ungleichheit womöglich von Anfang an der Zweck der ganzen Übung war'? Die neoliberale Wende, so Harvey, wurde in den 70er-Jahren zu dem alleinigen Zweck eingeleitet, die Klassenmacht einer gesellschaftlichen Elite wiederherzustellen, die befürchtete, dass ihre Privilegien nachhaltig beschnitten werden könnten"…

Das ist genau der entscheidende Punkt. Nur wenn wir uns das klarmachen, können wir die politische Wirksamkeit dieser intellektuell bankrotten Ideologie verstehen. Tatsächlich zielt der Neoliberalismus gar nicht auf "freie Märkte". Er zielt vielmehr auf eine radikale Umverteilung, und zwar von unten nach oben, von der öffentlichen in die private Hand und von Süd nach Nord.

Um das zu erreichen, muss er die ökonomisch Schwachen, seien es Individuen oder Staaten, ohne jeden Schutz den Kräften des "Marktes" überlassen und zugleich dafür sorgen, dass den ökonomisch Starken durch einen starken Staat geeignete Rahmenbedingungen für eine Kapitalvermehrung bereitgestellt werden. Der Neoliberalismus, der immer bereit ist, staatliche Interventionen in die Wirtschaft, als sozialistisch geißeln, ist in Wahrheit eine Art Neoliberalsozialismus, ein Sozialismus für die Reichen nämlich, die er durch staatliche Regelungen vor den Marktkräften zu schützen sucht.

Er ist eine Revolution der Reichen gegen die Armen. Da die Armen aber die Mehrheit bilden, ist natürlich besonders in Demokratien eine solche Revolution mit Risiken behaftet. Es hilft daher außerordentlich, wenn man die Bevölkerung atomisiert, alle sozialen Bewegungen fragmentiert und partikularisiert und zugleich als Nutznießer der Umverteilung ein neues Klassenbewusstsein entwickelt.

Genau dies ist in den vergangenen Jahren sehr erfolgreich geschehen. Warren Buffets diesbezügliche Bemerkung von 2006 – „Es herrscht Klassenkrieg, richtig, aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt, und wir gewinnen" – ist dabei nur in der Offenheit, nicht jedoch in der Sache als Ausrutscher zu verstehen. Das Kampflied in diesem Klassenkampf ist die Mär von den Segnungen eines "freien Marktes", zu dessen Entfaltung alle staatlichen Interventionen abzubauen seien. Der Neoliberalismus würde natürlich bestreiten, dass er ein Krieg der Reichen gegen die Armen ist; und mit Recht könnte er dabei darauf verweisen, dass er ja schließlich ganz unparteiisch Reichtum und Armut gleichermaßen fördert.

Global kontrollieren die 500 größten Konzerne mittlerweile mehr als 50 Prozent des Weltbruttosozialprodukts. Die 85 reichsten Personen der Welt besitzen, wie Oxfam jüngst mitteilte, mehr als die ärmsten 50 Prozent der Weltpopulation zusammen, also als die ärmsten 3,6 Milliarden Menschen auf dieser Welt. Und bald werden die reichsten ein Prozent mehr als die Hälfte des Gesamtreichtums der Welt besitzen. Auch dies ist, so die neoliberale Mär, ein von niemandem absichtlich herbeigeführter, also auch von niemandem zu verantwortender Effekt der rationalen Naturgesetzlichkeiten des "freien Marktes".

Wer dies kritisiert, bezeugt damit nur sein völliges Unverständnis dessen, was Naturgesetzlichkeiten sind. Denn auch zu denen gibt es ja keine Alternative.
Der Neoliberalismus ist – nach dem europäischen Kolonialismus – das größte globale Umverteilungsprojekt der Geschichte. Da ist kaum überraschend, dass es beträchtlicher Indoktrinations- und Disziplinierungsanstrengungen bedarf, um die Bevölkerung gegen ihre tatsächlichen Erfahrungen und gegen ihre eigenen Interessen dazu zu bringen, dieses Kampflied hinzunehmen und sogar darin einzustimmen.

Bitte führen Sie das doch ein wenig aus. Von welchen „Indoktrinationsmechanismen" reden wir hier? Was meinen Sie damit?

Nun, in einer Demokratie ist es wichtig, dass das eigentliche Ziel einer Umverteilung von unten nach oben für die Bevölkerung durch eine geeignete Indoktrination verdeckt und unsichtbar gemacht wird. Das ist hier nicht anders als etwa bei hegemonialen und imperialen Interessen, die für die Bevölkerung durch eine Rhetorik von "humanitärer Intervention" oder "Demokratieförderung" verdeckt werden.

In Demokratien wäre der Neoliberalismus politisch nicht überlebensfähig, wenn es ihm nicht gelänge, die Köpfe zu erobern und die öffentliche Meinung in seinem Sinne zu formen und zu kontrollieren. Dies kann nur auf der Basis von Indoktrinationssystemen geschehen, die psychologisch äußerst ausgefeilt sind und alle Bereiche unseres Lebens durchziehen.

Die Grundlagen für solche Indoktrinationssysteme werden seit je durch bereitwillige Intellektuelle bereitgestellt, die eher den Interessen der Mächtigen verpflichtet sind als der Wahrheit und die dafür in geeigneter Weise gefördert und belohnt werden. Stiftungen, "Denkfarmen" oder "Think Tanks" und NGO's kommt dabei eine kaum zu überschätzende Bedeutung zu. Stiftungen und durch sie geförderte NGO's haben im Neoliberalismus eine ganz zentrale Bedeutung, weil wirtschaftliche Eliten steuerbegünstigt privaten Reichtum in politische Macht umwandeln können, die sie dann mit dem Anstrich der Gemeinnützigkeit und Philanthropie veredeln.

Wie läuft das ab, welche konkreten „Mechanismen" gibt es da? Wie manipuliert man uns genau?

Es ist tatsächlich sehr schwer, sich von der Breite und von der Tiefe dieser Indoktrinationssysteme überhaupt eine Vorstellung zu bilden. Die Indoktrinationssysteme, die der Neoliberalismus entwickelt hat, sind die ausgefeiltesten und wirkungsmächtigsten, mit denen je eine politische Ideologie verbreitet wurde. Sie sind inzwischen so tief in allen Bereichen des gesellschaftlichen und auch privaten Lebens verankert, dass sie uns kaum noch auffallen. Sie stellen ganze Lebensformen und Weltsichten dar, wie sie im Wesentlichen durch US-amerikanische Eliten geprägt wurden und nicht zuletzt durch die Kultur- und Unterhaltungsindustrie als Selbstverständlichkeiten vermittelt werden. Die klassische Propaganda der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die bereits sehr wirkmächtig war, wirkt gegen diese neoliberalen Indoktrinationssysteme schlicht und geradezu naiv.

Dabei nutzt der Neoliberalismus das ganze Arsenal von Methoden und Strategien, die im Bereich gesellschaftlicher Manipulationstechniken bereits im klassischen Kapitalismus entwickelt worden sind. Also etwa die Möglichkeit, Fehlidentifikationen zu erzeugen, Konsumismus, Meinungsmanipulation durch Medien etc. Doch sind all diese Techniken enorm verfeinert worden und sind zumeist kaum noch als Indoktrinationstechniken erkennbar. Sie sind tief in allen Mechanismen der Herstellung von öffentlicher Meinung verankert – nicht nur in Politik, Medien oder politischen Stiftungen, sondern bis in den Erziehungs- und Kulturbereich. Gute Indoktrination, das war schon den Pionieren der Propaganda klar, darf nicht als solche erkennbar sein und muss geradezu als Selbstverständlichkeit oder Ausdruck des gesunden Menschenverstandes erscheinen.


„Was weiß ich schon von mir, wenn ich nicht weiß, dass das Bild, das ich von mir selbst habe, zum größten Teil ein künstliches Produkt ist und dass die meisten Menschen – ich schließe mich nicht aus – lügen, ohne es zu wissen? Was weiß ich, solange ich nicht weiß, dass ‚Verteidigung' Krieg bedeutet, ‚Pflicht' Unterwerfung, ‚Tugend' Gehorsam und ‚Sünde' Ungehorsam? Was weiß ich, solange ich nicht weiß, dass die Vorstellung, dass Eltern ihre Kinder instinktiv lieben, ein Mythos ist? Dass Ruhm nur selten auf bewundernswerte menschliche Qualitäten und häufig nicht auf echte Leistungen gründet? Dass die Geschichtsschreibung verzerrt ist, weil sie von den Siegern geschrieben wird? Dass betonte Bescheidenheit nicht unbedingt ein Beweis für fehlende Eitelkeit ist? Dass Liebe das Gegenteil von heftiger Sehnsucht und Gier ist? Was weiß ich schon von mir, wenn ich nicht weiß, dass jeder versucht, schlechte Absichten und Handlungen zu rationalisieren, um sie edel und wohltätig erscheinen zu lassen? Dass das Streben nach Macht bedeutet, Wahrheit, Gerechtigkeit und Liebe mit Füßen zu treten? Dass die heutige Industrie-Gesellschaft vom Prinzip der Selbstsucht, des Habens und des Konsumierens bestimmt ist und nicht von den Prinzipien der Liebe und Achtung vor dem Leben, die sie predigt? Wenn ich nicht fähig bin, die unbewussten Aspekte der Gesellschaft, in der ich lebe, zu analysieren, kann ich nicht wissen, wer ich bin, weil ich nicht weiß, in welcher Hinsicht ich nicht ich bin."
Erich Fromm

„Es ist hohe Zeit, nicht nur von den großen Kriegen zu sprechen, sondern auch von dem kleinen Krieg, der den Alltag verwüstet und der keinen Waffenstillstand kennt: von dem Krieg im Frieden, seinen Waffen, Folterinstrumenten und Verbrechen, der uns langsam dazu bringt, Gewalt und Grausamkeit als Normalzustand zu akzeptieren. Krankenhäuser, Gefängnisse, Irrenhäuser, Fabriken und Schulen sind die bevorzugten Orte, an denen dieser Krieg geführt wird, wo seine lautlosen Massaker stattfinden, seine Strategien sich fortpflanzen – im Namen der Ordnung. Das große Schlachtfeld ist der gesellschaftliche Alltag. Was heißt das? Krankenhäuser und Pharmazeutika-Betriebe sind Quellen der Zerstörung."
Franco Basaglia

„Die wissenschaftliche Funktion des Soziologen besteht (…) darin, die Gesellschaft in Frage zu stellen und sie dadurch zu zwingen, sich selbst zu verraten. Diejenigen aber, die im Namen des Ideals der ethischen Neutralität (…) darauf verzichten, der Gesellschaft jene Fragen zu stellen, die sie in Frage stellen könnten, verraten die Wissenschaft: (…) Die Behauptung, der Soziologe könne seine Einstellung zur Gesellschaft frei wählen, verschweigt, dass die Sozialwissenschaften nur solange in der Illusion der Neutralität leben können, wie sie nicht wahrhaben wollen, dass ihre Enthüllungen oder ihr Verschweigen immer jemandem dienen: entweder den Nutznießern oder den Opfern der Sozialordnung."
Pierre Bourdieu

„Die Intellektuellen dienen der herrschenden Klasse als ‚Angestellte'. Sie sind für die Vielzahl subalterner Aufgaben der gesellschaftlichen Hegemonie und der politischen Regierung zuständig, das heißt 1. für die ‚spontane' Zustimmung der großen Masse der Bevölkerung zum gesellschaftlichen Leben der herrschenden Hauptgruppe, eine Zustimmung, die sich ‚historisch' aus dem Prestige (…) ableitet, das der herrschenden Gruppe aufgrund ihrer Position und Funktion im Produktionsbereich zufällt; und 2. für den staatlichen Zwangsapparat, der ‚gesetzlich' die Disziplinierung der Gruppen sicherstellt, die aktiv oder passiv ‚die Zustimmung verweigern' – dieser Apparat ist aber für die gesamte Gesellschaft geschaffen, in Voraussicht von Herrschafts- und Führungskrisen, in denen die ‚spontane' Zustimmung nachlässt."
Antonio Gramsci

„Nur wenn wir uns entschließen, uns unseres Verstandes zu bedienen und unsere induzierte moralische Apathie überwinden, und nicht mehr bereit sind, die Illusion der Informiertheit, die Illusion der Demokratie, die Illusion der Freiheit, uns mit diesen Illusionen zufrieden zu geben, haben wir eine Chance, diesen Manipulationstechniken zu entgehen."
Rainer Mausfeld


Können Sie konkrete Beispiele für Verfeinerungen nennen?

Das würde in recht technische Bereiche der Psychologie führen. Unabhängig von solchen konkreten Befunden ist es jedoch grundsätzlich wichtig, sich klarzumachen, dass sich in der Operationsweise unseres Geistes eine Vielzahl von kognitiven, affektiven und sozialen Dispositionen findet, die sich für eine Meinungs-, Gefühls- und Verhaltenssteuerung nutzen lassen.

In einem Manipulationskontext kann man sie also als Schwachstellen ansehen, die gleichsam als "Hintertüren" zu den Mechanismen unseres Geistes wirken, durch die man, ohne dass wir es bemerken, unsere Aufmerksamkeit lenken sowie unser Denken und Fühlen beeinflussen, unsere Empörung auslösen oder auch verstummen lassen kann.

Manipulationstechniken sitzen also gleichsam parasitär auf Schwachstellen unseres Geistes auf. Sie sind dabei stets so beschaffen, dass sie das Scheinwerferlicht unseres Bewusstseins unterlaufen, also von uns praktisch nicht bemerkt werden, so dass es uns auch schwer fällt, uns gegen sie zu schützen.

All das ist in der Wissenschaft – und damit im Effekt auch den herrschenden Eliten – bekannt, kaum jedoch in der Öffentlichkeit. Diese folgenschwere Asymmetrie des Wissens um Manipulationsschwachstellen unseres Geistes muss dringend beseitigt werden. Wir haben nur dann eine Chance, uns gegen derartige Manipulationen zur Wehr zu setzen, wenn wir uns bewusst werden, auf welche unserer Schwachstellen solche Manipulationen zielen.

Auch wenn das in Summe sicher zu sehr in Details führen würde… Aber können Sie vielleicht ein konkretes Beispiel für eine solche Schwachstelle für Manipulationen, für den Ablauf und die Wirkung derselben, skizzieren?

In den vergangenen Jahrzehnten haben sich die politischen Eliten verstärkt darum bemüht, entsprechende Einsichten und Befunde psychologischer Forschung für ihre Zwecke politisch nutzbar zu machen, indem man „sanfte" Herrschaftstechniken zu entwickeln sucht, mit denen man Menschen gleichsam einen „Schubs" in die gewünschte Richtung geben kann.

Ich will versuchen, ein Beispiel zu nennen, das sich im Kern relativ einfach beschreiben lässt, nämlich unsere natürliche Disposition zu Verzerrungen unserer Urteile über die jeweils gegebene gesellschaftliche Situation. Diese Verzerrungen werden in der wissenschaftlichen Literatur als „status quo bias" bezeichnet. Sie sind in der Psychologie gut untersucht, sind von hoher gesellschaftlicher Relevanz und lassen sich über eine Reihe von Variablen modifizieren und steuern, also manipulieren. Sie beziehen sich auf unsere natürliche Neigung, den jeweiligen Zustand der Gesellschaft, in der wir leben, als gut, gerecht, moralisch legitim, erstrebenswert usw. anzusehen.

Wir neigen dazu, den gesellschaftlichen Status quo allen Alternativen vorzuziehen, und zwar auch dann, wenn diese objektiv besser sind. Wir sind unserer Natur nach Anhänger des Status quo. Das gilt natürlich nicht für jede einzelne Person, doch ist es in der Tendenz ein stabiles Phänomen, das sich in allen Gesellschaften nachweisen lässt. Eine solche psychische Disposition ist in der Regel – und solange sie nicht von außen manipuliert wird – eine durchaus wünschenswerte Eigenschaft für die Organisation unseres Zusammenlebens. Sie geht, wie viele psychologische Studien gezeigt haben, mit weiteren psychologischen Tendenzen einher, die ebenfalls hohe gesellschaftliche Relevanz haben. Beispielsweise sind wir immer bereit, die Nachteile des Status quo kleinzureden und Geschichten zu erfinden, die seine Nachteile in einem günstigeren Licht erscheinen lassen. Damit einhergehend haben wir eine Neigung, den gesellschaftlichen Opfern des Status quo selbst die Schuld für ihre Situation zu geben. Zugleich neigen wir dazu, diejenigen eher negativ einzuschätzen, die den Status quo verändern wollen.

Wie stark diese Neigung zur Verteidigung des Status quo ausgeprägt ist, hängt von einer Vielzahl von kognitiven, affektiven und sozialen Variablen ab. Beispielsweise wird sie erhöht durch Ängste und das Gefühl von Unsicherheit und Bedrohung. Ebenso wird sie erhöht, wenn man von einem bewussten Nachdenken systematisch abgelenkt wird – sei es durch Zeitdruck oder Darbietung irrelevanter Themen – oder wenn stereotype und schlichte Begrifflichkeit für eine kognitive Einordnung der gesellschaftlichen Verhältnisse vorgegeben wird. Ebenso erhöht sich tendenziell diese Neigung, wenn eine Situation als unausweichlich empfunden wird. All diese Variablen lassen sich relativ einfach von außen manipulieren, ohne dass uns diese Manipulationen überhaupt bewusst werden. Dadurch bieten derartige Variablen ein sehr wirkungsvolles Einfallstor, um die Status quo-Neigung der Bevölkerung im gewünschten Sinne zu manipulieren.

In dieser Hinsicht bietet der Neoliberalismus eine für seine Ziele sehr vorteilhafte Kombination derartiger Einflussvariablen: Kognitiv basiert er auf einer sehr schlichten Begrifflichkeit – „Märkte öffnen", „Strukturreformen durchführen, „Bürokratie abbauen" etc. – und nutzt zugleich eine geradezu überwältigende Fülle von Möglichkeiten, durch die sich Personen von einem tieferen Nachdenken über gesellschaftliche Verhältnisse ablenken lassen. Die meisten Themen in den Massenmedien dienen genau hierzu. Und affektiv geht er einher mit einem durch die Lebensverhältnisse bedingten hohen Maß an Zeitdruck, Stress und sozialen Ängsten sowie mit einem Gefühl der Unausweichlichkeit; denn in seiner Naturgewalten-Metaphorik kann es natürlich zu den „Naturgesetzlichkeiten" des Marktes keine Alternativen geben. Diese Determinanten lassen sich, wenn man in die Details einzelner Variablen geht, noch sehr viel feiner gestalten und ihre Effekte optimieren. Über all dies lassen sich die nachteiligen gesellschaftlichen Folgen des Status quo kognitiv „unsichtbar machen", sodass der Status quo stabilisiert wird und das Bedürfnis nach Alternativen verkümmert.

Und welche Rolle spielen denn die Medien im Kontext dieser Indoktrination?

Naheliegenderweise eine ganz zentrale. Sie sind im Wortsinne das Medium der Indoktrination. Das ist wieder und wieder in aller Breite und Tiefe untersucht werden. Noam Chomsky hat ja bei der Beschreibung und Analyse von Indoktrinationssystemen und der Rolle der Medien Pionierarbeit geleistet. Die Leitmedien sind wiederum personell wie ideologisch eng mit Think Tanks, Stiftungen und "relevanten" politischen und ökonomischen Kreisen verbunden, so dass sich das neoliberale Indoktrinationssystem gleichsam durch sich selbst stabilisiert.

Die neoliberale Indoktrination wird ja dadurch erleichtert, dass der real existierende Neoliberalismus eine besonders radikale Möglichkeit einer Komplexitätsreduktion anbietet. Man kann sich sein Mantra ideologisch rasch aneignen. Wenn man erst den neoliberalen Jargon beherrscht – "Bürokratie abbauen", „Reformen weitertreiben" etc. -, benötigt man für eine hohe Meinungskonfidenz keinen besonderen ökonomischen Sachverstand mehr. Das macht den real existierenden Neoliberalismus für Journalisten und andere aus dem meinungsbildenden Gewerbe so attraktiv. Mit ihm kann man sich in gleichsam vorauseilendem Opportunismus den Herrschenden andienen und so zumindest symbolisch ein Stückchen an der Macht partizipieren.

Dieser Opportunismus ist vorauseilend, weil er nicht nur konkret geäußerte Erwartungen der herrschenden Eliten erfüllt, sondern sich zudem vorstellt, welche Erwartungen die Eliten darüber hinaus noch haben könnten. Er sucht also zu erfühlen und auszuformulieren, was die herrschenden Eliten eher instinktiv fühlen als denken.

Wenn diese Indoktrinationsmechanismen so wirkungsvoll sind und so gut in allen meinungsbildenden Institutionen verankert sind, müssten doch eigentlich offen autoritäre Strukturen überflüssig sein. Warum wird dann immer wieder davor gewarnt, dass der Neoliberalismus zu einer offen autoritären Herrschaftsform zu werden droht?

Die Warnung ist berechtigt, denn eine solche Gefahr ergibt sich zwangsläufig aus dem Wesen und den Zielen des Neoliberalismus. Solange er jedoch seine Ziele innerhalb von Strukturen erreichen kann, die formal als demokratisch angesehen werden können, also innerhalb einer „marktkonformen Demokratie", ist dies günstiger. Und innerhalb dieses Rahmens gibt es noch viel Spielraum bei der Entwicklung verdeckt autoritärer Strukturen.

Besonders wirksam ist dabei eine über undemokratische Mechanismen erfolgte Verrechtlichung von Umverteilungsmechanismen. Das Recht ist ja seit je ein sehr wirkungsvolles Instrument, um gesellschaftliches Unrecht gegen eine Kritik durch die Bevölkerung zu immunisieren. Schon der europäische Kolonialismus hat mit einem Kolonialrecht seine genozidalen Formen der Umverteilung verrechtlicht.
Der Neoliberalismus ist, will er auf den demokratischen Anschein nicht verzichten, also geradezu darauf angewiesen, dass die Umverteilungsmechanismen von unten nach oben und von der öffentlichen in die private Hand auf allen Ebenen – von der EU bis zu den Kommunen – zunehmend verrechtlicht werden. Besonders die Schaffung eines geeigneten internationalen Rechts ist dabei erfolgversprechend. Daher bemüht sich eine transatlantische Nomenklatura um die Entwicklung geeigneter internationaler Rechtsnormen wie eben TTIP, TISA, CETA etc. und um deren Umsetzung durch machtvolle neoliberale Institutionen wie den IWF.

Eine Verrechtlichung von gesellschaftlichem Unrecht muss, aus naheliegenden Gründen, unter Ausschluss der Öffentlichkeit, auch der parlamentarischen, erfolgen und jeder Art von demokratischer Kontrolle entzogen sein. Zusätzlich zu einer Verrechtlichung schafft der Neoliberalismus Mechanismen, durch die sich die von ihm geschützten Marktteilnehmer, also vor allem die Großkonzerne, bestehenden Rechtsnormen entziehen können. Die Maxime "too big to fail" hat ja einen tieferen Kern. Nämlich, dass es Verbrechen gibt, deren Wurzeln zu tief mit Grundlagen unserer herrschenden Ordnung verwoben sind und die zu monströs sind, als dass sie innerhalb der jeweiligen Rechtsordnung überhaupt justitiabel sein könnten. Daher gilt die sogenannte Finanzkrise eben als "Krise" und nicht als das, was sie tatsächlich ist, nämlich im Wortsinne ein „Kapitalverbrechen".

Es ist also möglich, den Anschein autokratischer Strukturen dadurch zu vermeiden, dass die Ergebnisse der schleichenden Erosion demokratischer Strukturen in geeigneter Weise so verrechtlicht werden, dass die formale Hülse einer Demokratie für die Bevölkerung intakt erscheint. Diese Art von "sanfter" und vordergründig demokratisch legitimierter Autokratie des Kapitals schwebt neoliberalen Denkern vermutlich als ideale Form einer gesellschaftlichen "Konfliktlösung" vor. Die Verrechtlichung neoliberaler Strukturen stellt also eine Art Samthandschuh unter den Herrschaftstechniken dar, durch den sich offen autokratische Formen erst einmal vermeiden lassen.

 

Angela Merkel und die marktkonforme Demokratie


Das beantwortet aber noch nicht die Frage, warum viele die Sorge haben, dass der Neoliberalismus eine offen autoritäre Form annehmen, also zur eisernen Faust werden könnte.

Das ist richtig. Zunächst zeigt uns ja die Geschichte, von Chile bis Griechenland, dass der Neoliberalismus, wenn alle "sanften" Indoktrinations- und Disziplinierungsmechanismen nicht greifen, auch vor autoritären Maßnahmen nicht zurückschreckt. Sein erstes Feldexperiment war schließlich Chile unter Pinochet.
Angesichts der brutalen gesellschaftlichen Folgen des Umverteilungsprozesses muss der Neoliberalismus Reaktionen der Bevölkerung erwarten, die zur Sicherung seiner Stabilität offen autoritäre Maßnahmen erforderlich machen könnten. Er ist also darauf angewiesen, die Verfolgung seiner Ziele durch die Entwicklung geeigneter Disziplinierungsinstrumente bis hin zum Aufbau eines autoritären Sicherheitsstaates zu flankieren. Dazu bedient er sich gerne jeder Art von Bedrohungsszenarien, um in der Bevölkerung die Bereitschaft zu erhöhen, demokratische Substanz abzuschaffen.

Die Fundamente für einen autoritären Sicherheitsstaat werden ja bereits geschaffen, rechtlich wie auch technisch durch den Überwachungsapparat, durch die Vorbereitung eines Bundeswehreinsatzes im Innern, durch das Schleifen der strikten Trennung der Aufgaben von Polizei, Militär und Geheimdiensten, durch die hartnäckigen Vorbereitungsarbeiten namhafter Verfassungs- und Strafrechtler an einem "Feindstrafrecht" etc. pp..

Renommierte Verfassungs- und Strafrechtler arbeiten bereits seit Langem an den Grundlagen eines Sicherheitsstaates und der Entwicklung eines Feindstrafrechtes. Mit einem solchen Feindstrafrecht können dann Bürger, die als „unsichere Kantonisten" und als „aktuelle Unpersonen" anzusehen sind, „kaltgestellt" werden. Zudem soll in besonderen Situationen zur Gefahrenabwehr auch eine „Rettungsfolter" erlaubt sein.

Prominenter Befürworter der Entwicklung eines Feindstrafrechtes ist der Verfassungsrechtler Otto Depenheuer, der auch Ideenlieferant für Wolfgang Schäuble ist. Es ist aufschlussreich und nicht zufällig, dass wir sowohl in der Geschichte des Neoliberalismus wie auch in der des autoritären Sicherheitsstaates immer wieder auf die Einflüsse von Carl Schmitt, des „Kronjuristen des Dritten Reiches", stoßen, so auch hier, bei Depenheuer.

In der Person von Wolfgang Schäuble laufen die beiden Stränge "Neoliberalismus" und "Sicherheitsstaat" dann in klar erkennbarer Weise zusammen.
Die rechtlichen Hülsen sind also vorbereitet; sie lassen sich leicht nutzen, wenn die herrschenden Eliten einmal der Auffassung sein sollten, dass bestehende demokratische Strukturen den "Notwendigkeiten" des Marktes und den zu seiner Sicherung nötigen internationalen "Vereinheitlichungen" im Wege stehen.

Und wie können wir dem etwas entgegensetzen? Was ist gegen eine solche Entwicklung zu tun?

Abgesehen von einigen Selbstverständlichkeiten kann es, denke ich, darauf keine einfachen Antworten geben. Die Selbstverständlichkeiten beziehen sich vor allem darauf, dass wir alle Blockaden entfernen müssen, die uns darin hindern, einfache, grundlegende Fakten zu erkennen und anzuerkennen. Sodann müssen wir bereit sein, unseren Willen und unsere Entschlossenheit zu artikulieren, inhumane gesellschaftliche Zustände und Strukturen zu ändern.

Das sind, wie gesagt, eigentlich Selbstverständlichkeiten, doch wäre schon viel erreicht, wenn sie beachtet würden. Eine darüber hinausgehende, allgemeine Antwort zu Methoden und Zielen kann es nach meiner Überzeugung nicht geben. Das ist ein Prozess, in dem im Kontext der jeweiligen gesellschaftlichen Situation Antworten gleichsam von unten gefunden werden müssen. Wie immer diese Antworten aussehen mögen: Sie haben keine Chance, politisch wirkmächtig zu werden, wenn es nicht gelingt, die tiefgehende Fragmentierung sozialer Beziehungen zu überwinden und eine gemeinsame Basis für einen politisch kraftvollen Zusammenschluss sozialer Bewegungen zu finden.

Für diese Aufgabe bleibt uns wohl nicht mehr viel Zeit. Die alte Strategie, die gewaltigen sozialen und ökologischen Folgekosten des Kapitalismus, besonders seiner neoliberalen Extremform, späteren Generationen aufzubürden, kommt an ihre natürlichen Grenzen. Es bleiben uns wohl nur zwei Möglichkeiten: Wir befreien uns, so mühsam es sein wird, aus den Fesseln neoliberaler Indoktrinationssysteme, stellen uns den Fakten und suchen gemeinsam nach Möglichkeiten von Änderungen – die freilich angesichts des ökologischen Zeitdrucks nur radikal sein können. Oder wir machen weiter wie bisher, schweigen und überlassen es nachfolgenden Generationen über die Gründe unseres Nicht-Handels und unseres Schweigens nachzudenken.

Noch ein letztes Wort?

Ja, eine Gefahr für diesen Prozess, Empörung und Unbehagen über gesellschaftliche Verhältnisse in politisch wirksamer Weise Ausdruck zu verleihen, möchte ich noch ansprechen. Nämlich die Gefahr, sie dadurch politisch weitgehend wirkungslos zu machen, dass sie sich nicht auf strukturelle Aspekte, sondern allein auf "die da oben", also auf personelle Aspekte richten.

Bei gesellschaftlichen und politischen Themen ist ja die Perspektive weit verbreitet, den Blick auf "die da oben" zu beschränken und sich darüber zu empören, wie man von diesen betrogen, hintergangen und ausgebeutet wird: "Die da oben" sind moralisch verkommen, verlogen und schamlos auf ihren Vorteil bedacht, sie sind die Täter; wir hingegen sind nur ihre Opfer.

Das ist eine psychologisch nachvollziehbare und politisch durchaus berechtigte Perspektive. Da sie von der überwiegenden Mehrzahl der Bevölkerung in der einen oder anderen Weise geteilt wird, ohne dass sich dies in entsprechender Weise in den Ergebnissen von Wahlen niederschlägt, sollten wir aber darüber nachdenken, ob nicht die politische Wirkungskraft einer solchen Perspektive sehr begrenzt ist.
In jedem Fall geht eine Beschränkung des Blicks auf "die da oben" vorbei an der Natur des tatsächlichen Problems, um das es geht, nämlich an den strukturellen und institutionellen Ursachen einer zerstörerischen und inhumanen Wirtschafts- und Gesellschaftsform.

Daher ist es aus Sicht der herrschenden Eliten sogar gewollt und erwünscht, dass sich die Bevölkerung über die Gier von Bankern, die Verlogenheit von Politikern, die intellektuelle Korruptheit von Journalisten oder die Grausamkeit oder den Sadismus von Folterexperten ereifert – also über Eigenschaften von Personen, die gerade das Produkt tieferliegender, struktureller Bedingungen sind und in deren Kontext geradezu Qualifikationsmerkmale darstellen – und dabei die strukturellen und institutionellen Ursachen und somit die eigentlichen Zentren der Macht aus dem Blick verliert!
Unsere vordringliche Aufgabe ist es daher, Einsichten in diese strukturellen Bedingungen zu gewinnen.

Dazu gehört auch, das Wesen und die eigentlichen Ziele des Neoliberalismus zu verstehen. Dann aber müssen wir den Blick auch auf uns richten und uns fragen, warum wir auf ein totalitäres Denksystem mit so zerstörerischen Folgen nicht mit einer angemessenen moralischen Empörung und entsprechenden Handlungskonsequenzen reagieren. Solange die herrschenden Eliten sehr viel mehr Wissen über uns, über unsere natürlichen Bedürfnisse, Neigungen und unsere Schwachstellen für eine Manipulierbarkeit verfügen als wir selbst, solange werden sie über uns eine Form der unsichtbaren Herrschaft ausüben können, gegen die wir uns kaum wehren können. Den Blick auf uns zu richten, bedeutet zugleich zu erkennen – und das ist ganz im Sinne der Aufklärung –, dass wir es sind, die für unser Handeln und Nicht-Handeln und für die Gesellschaft, in der wir leben, verantwortlich sind.

Ich bedanke mich für das Gespräch.


Rainer Mausfeld, geboren 1949, studierte Psychologie, Mathematik und Philosophie in Bonn. Er ist Professor für Allgemeine Psychologie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und arbeitet im Bereich der Wahrnehmungs- und Kognitionsforschung.


Weiterlesen:




schlimmeren Rechtsruck als das rücksichtslose Durchboxen von TTIP, Agenda 2010 und Kriegseinsätze gibt es nicht

 

Einen schlimmeren Rechtsruck als das rücksichtslose Durchboxen von TTIP,

die Agenda 2010 und Kriegseinsätze gibt es nicht

 
[via nachdenkseiten.de]
 
 

Die AfD treibt nur auf die Spitze, was die etablierten Parteien vorgemacht und vorbereitet haben. Beim Umgang mit TTIP wird sichtbar, dass CDU/CSU, SPD und Grüne auf die Demokratie pfeifen; die Agenda 2010 war der Abschied vom Konzept der Sozialstaatlichkeit; die Kriegseinsätze und die Beteiligung der Bundeswehr bei Kriegseinsätzen außerhalb des NATO-Bereichs beginnend 1999 mit dem Jugoslawien Krieg und die Forcierung des West-Ost-Konfliktes sowie die Abkehr vom Konzept der Entspannungspolitik sind massive Bewegungen nach rechts.

Der Boden für die wirklich schlimme AfD ist bestens vorbereitet worden. Die Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin ist nur das Tüpfelchen auf dem i. – Korrekturen sind in allen Bereichen nötig.

Albrecht Müller.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

http://www.nachdenkseiten.de/upload/podcast/160505_Schlimmer_Rechtsruck_NDS.mp3

 

Jens Berger hat auf den NachDenkSeiten am 27. April einen Beitrag zum Disput über den Rechtsruck geleistet. („Europas Rechtsruck, die Flüchtlingskrise und die politische Linke … Zeit für eine unaufgeregte Debatte") Das war verdienstvoll, bedarf aber einiger Ergänzungen:

TTIP und der Umgang damit ruiniert das Ansehen der Demokratie. Demokratie gehört zur Kernsubstanz fortschrittlichen Denkens

  1. Das Freihandelsabkommen, das jetzt auf Druck der USA mit aller Macht durchgeboxt werden soll, ist ein Vertragswerk zugunsten der Wirtschaft und dabei insbesondere jener der USA. Es wird unter Umständen betrieben, die mit demokratischer Willensbildung nichts aber auch gar nichts zu tun haben: unsere Abgeordneten, die darüber letztlich entscheiden sollen, werden nicht informiert, sie müssen sich unter unwürdigen Verhältnissen in ausgelagerten und speziell eingerichteten Räumen informieren. Das alleine ist schon ein solcher Skandal, dass all den etablierten Politikern von Merkel bis Gabriel, die dieses Verfahren abgesegnet haben, die Schamröte ins Gesicht steigen müsste. Ist das parlamentarische Demokratie? Ist das Demokratie? Die Gegner der Demokratie brauchen doch nur auf dieses Verfahren hinzuweisen, um dieses System der Lächerlichkeit preiszugeben.

    Dieser Umgang mit einem wichtigen Gesetzesvorhaben liegt auf der Linie dessen, was wir vorher schon von unseren politischen Oberen gehört haben: Merkels Spruch von der marktkonformen Demokratie hat verhöhnenden Charakter; die berühmte Klage des früheren SPD-Vorsitzenden und Ministers Müntefering über die Wähler, die nach einer Wahl auch noch verlangen, dass das Versprochene umgesetzt wird, war ähnlich verhöhnend.

    Und jetzt also soll ein Vertragswerk durchgesetzt werden, das nicht nur den Wählerinnen und Wählern nicht zur Abstimmung vorlag, als sie 2013 ihre Abgeordneten wählten; es soll jetzt auch an den gewählten Abgeordneten vorbeigeschleust werden. Daraus spricht Verachtung für die Demokratie. Und das ist ausgesprochen rechtsradikal.

Der Rechtsruck und spiegelbildlich der Niedergang fortschrittlicher Parteien findet schon seit längerem statt – und er fand und findet im Inneren der Parteien statt

  1. Zunächst: es ist in diesem Zusammenhang nicht möglich, jedenfalls nicht erhellend, wenn man von der „Linken" spricht. Wer ist gemeint? Die SPD? Die Linkspartei? Die Grünen? Alle fortschrittlichen Menschen und Verbände?
  2. Wenn man zum Beispiel die SPD damit meint, dann muss man ja wohl feststellen, dass der Rechtsruck gleich in mehrerer Hinsicht schon früher stattgefunden hat: zum einen hat die SPD schon im Jahre 2009 mit 23 % bei der Bundestagswahl ein miserables Ergebnis erreicht; diese Linke war damals schon halbiert, gemessen am besten Ergebnis mit 45,8 %.
  3. Wenn man auf die SPD und auf die Grünen schaut, dann sieht man ohne Schwierigkeiten, dass diese den Rechtsruck im Innern schon lange vor dem Flüchtlingsproblem vollzogen haben. Und mit großer Wirkung für die Gesellschaft: 1999 haben sie zugelassen und dabei mitgewirkt, die Bundeswehr außerhalb des NATO-Bereichs zu Militäreinsätzen einzusetzen. Einen gravierenderen Rechtsruck gibt es eigentlich nicht.

    Der entscheidende Rechtsruck fand so in den neunziger Jahren statt: das Ende der Bereitschaft, wirklichen Frieden in Europa zu schließen, der Beginn der Fortführung der Konfrontation mit dem Osten, in diesem Fall Russlands, durch die Regierung Clinton, durch Albright und ihre Ableger in Deutschland, vor allem Joschka Fischer. Seitdem wird der Krieg wieder als Mittel der Politik betrachtet. Gibt es einen eklatanteren Ausdruck für Rechtsruck als dieses? Und dann die praktischen Kriege unserer Verbündeten und unsere offene oder versteckte Beteiligung – im Irak, der Drohnenkrieg, im Jemen, in Afghanistan, in Libyen. Daran wird auch sichtbar, dass die Bereitschaft zum Einsatz von Gewalt und zum Einsatz von Mord und Totschlag Teil der Politik dieses Westens ist und Teil der etablierten Parteien. Ist das, was die AFD vertritt, noch schlimmer? Schlimm ist es. Aber schlimmer?

Die Agenda 2010 – ein massiver Rechtsruck

  1. Die etablierten Parteien haben dann wenige Jahre später, im März 2003, die Agenda 2010 verabschiedet, ein massiver Rechtsruck. Sie haben schon 2002 unsere Altersvorsorge teilprivatisiert. Und Schröder hat sich des Aufbaus des besten Niedriglohnsektors gerühmt. Das haben Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen oder ohne Arbeit wahrgenommen. Auf diesen Rechtsruck in der aktuellen Politik haben manche mit ihrem persönlichen Rechtsruck geantwortet, sie sind in die innere Emigration gegangen, haben sich nicht mehr an Politik beteiligt. Sie haben das übrigens auch deshalb getan, weil ihnen die SPD zum Beispiel keine Alternative bot.
  2. Übrigens ist die Gesellschaft durch die rechten Ideologen um Herrn Otto Graf Lambsdorff und dann um die Regierung Kohl schon 1982 nach rechts verschoben worden. Das wurde nur überlagert durch die Propaganda der Union und ihrer Helfer, die behaupteten, die Union sei „sozialdemokratisiert" worden. Tatsächlich wurde Sozialstaatlichkeit abgebaut, zum Beispiel wurde das gleiche Kindergeld für alle Kinder wieder abgeschafft und durch Kindersteuerfreibeträge, die den besser Verdienenden mehr Entlastung pro Kind bringen, ersetzt. Das hat übrigens der sogenannte linke Dr. Geißler als Familienminister zu verantworten. Und dann wurden öffentliche Einrichtungen und Unternehmen privatisiert. Am laufenden Band. Das war keine linke Programmatik.

Die konservativen Parteien und die Liberalen in Europa sind wie mit kommunizierenden Röhren mit den eigentlichen Rechtsparteien verbunden.

  1. Sie frönen dem Neoliberalismus. Sie attackieren die Sozialstaatlichkeit. Der verstorbene Westerwelle hat als FDP-Vorsitzender über die Hartz IV Empfänger gespottet, wie man sich das bei Frau Petry kaum gekonnter vorstellen kann. Sie glauben, jeder sei seines Glückes Schmied. Und sie haben sich in der Asyldebatte der Neunzigerjahre des letzten Jahrhunderts so gegeben und verhalten wie die AfD heute. So hat sich zum Beispiel die Anti-Asylantenpropaganda der CSU, ihres Ministerpräsidenten Max Streibl und des Bayerischen Rundfunks zu Anfang der Neunzigerjahre nicht von dem unterschieden, was wir heute von der FPÖ oder von manchen in der AfD hören.
  2. Den Rechtsruck in Europa gibt es schon lange: Blair hat Labour in den neunziger Jahren nach rechts verschoben, bis zur Nicht-mehr-Wiedererkennung: New Labour nannte man das. Das war der Vorlauf zu Schröder sozusagen. Und dann hat er erst die Macht in Großbritannien gewonnen und dann verloren. Und ähnlich ging es in vielen anderen Ländern Europas: in Dänemark, in Schweden, in Norwegen, in Frankreich, in Italien und Portugal. Berlusconi ist das herausragende Symbol für den Rechtsruck in Europa. Wo haben eigentlich Sozialdemokraten noch regiert? Rechtsruck ohne Flüchtlingsströme.
  3. Und dann haben sich sogenannte linke Parteien, die Sozialdemokraten und andere linke Parteien Europas so sehr selbst nach rechts geschoben, dass ihre Politik kaum mehr zu unterscheiden war von den Konservativen. Das gilt für den erwähnten Gerhard Schröder wie auch für Frankreich unter Hollande.
  4. Übrigens begann in Deutschland diese Verschiebung zugunsten rechter Positionen schon bei der Ablösung von Brandt durch Schmidt. Damals fing es zumindest an und gegen Ende der Regierung Schmidt wechselte dieser Bundeskanzler Ausgangs der siebziger Jahre ständig von progressiven Positionen zu Positionen, die er selbst gelegentlich vertrat oder unter dem Druck von Graf Lambsdorff, seinem Wirtschaftsminister und dessen Staatssekretär Hans Tietmeyer, übernommen hat. Es sei an dieser Stelle an die Operation 82 erinnert, eine Sparaktion zulasten des Sozialstaats, gegen die sich die IG Metall unter dem Vorsitz von Franz Steinkühler mit großen Demonstrationen aufgelehnt hat.
  5. So muss man als entscheidende Beobachtung für die Bilanz des Rechtsrucks festhalten, dass die linken Parteien, früher die SPD allein, und heute die SPD und die Grünen und einige Elemente der Linkspartei schon gar nicht mehr versuchen, eine politische Alternative zum Neoliberalismus zu formulieren und schon gar nicht versuchen, diese Alternative geistig und weltanschaulich und mit einer Wertorientierung zu unterfüttern. Egoismus und „jeder ist seines Glückes Schmied" ist auch ihre Ideologie, mit kleinen Variationen. Sie haben schon in den neunziger Jahren und nachdrücklich im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts ihren Willen zur fortschrittlichen Gestaltung unseres Landes aufgegeben – mit wenigen Ausnahmen, das betraf meist die Homo-Ehe oder etwas ähnliches und die Rechte der Frau. Lauter wichtige Sachen, aber sie sind nicht entscheidend für die Prägung einer linken Alternative. Sie haben den Willen zur Gestaltung unserer Gesellschaft im fortschrittlichen Sinne aufgegeben.

Der Kampf gegen die Beteiligung linker Kräfte an der Macht ist weltweit angelegt und wird weltweit geführt

  1. Man kann heute einen Text über das Verschwinden und die Strategie der Linken nicht schreiben, ohne wahrzunehmen, was weltweit abgeht: alles, was wirklich fortschrittlich ist, wird Gegenstand von Intervention zum Regime Change: in Brasilien, in Venezuela, in Kuba, wenn auch getarnt als Freundlichkeit. Alles Linke wird bekämpft, so in den USA und in Großbritannien und in Frankreich, und in Spanien. Und Griechenland. Dort hat man die linke Regierung am ausgestreckten Arm verhungern lassen, damit sie keinen Erfolg hat.

Die entscheidende Beobachtung und Erklärung zum Niedergang der Linken und zum Rechtsruck: früher oder später werden alle linken Bewegungen fremdbestimmt

  1. Die Mächtigen in der Welt versuchen, jede linke Bewegung im Keim zu ersticken oder sie so zu beeinflussen, zu verändern und zu prägen, dass von links nichts mehr übrigbleibt. Deshalb gilt: Man kann heute nicht über das Versagen der Linken bzw. der Parteien, die man als links betrachten könnte, schreiben und sprechen, ohne wenigstens wahrzunehmen, dass dieser Versuch der Fremdbestimmung und der Unterwanderung von außen immer wieder gemacht wird. In der SPD gibt es fast keine Führungspersonen mehr, von denen man annehmen kann, sie seien nicht fremdbestimmt und die Linkspartei wird immer in der Gefahr stehen, dass man es bei ihr auch versucht. (Siehe auch: Die fremdbestimmte Linke – Albrecht Müller, Blätter für deutsche und internationale Politik, 10/2003, S. 1162-1165)
  2. Die gängig gewordene politische Korruption ist der Katalysator, das Öl sozusagen im Feuer des Rechtsrucks. Wenn man einen politisch korrupten Politiker aus Luxemburg zum Präsidenten der europäischen Union macht, dann braucht man sich darüber nicht mehr zu wundern. Und wenn man die Altersvorsorge so privatisieren lässt wie bei uns, dann braucht man sich auch nicht darüber zu wundern, dass das Vertrauen in die Demokratie verloren geht.

Das Imperium sorgt für die Fremdbestimmung und sorgt für den Rechtsruck.

  1. Das US-Imperium kümmert sich um die Innereien anderer Völker.

    Die Fremdbestimmung läuft über die Medien. Sie sind das Hilfspersonal des Rechtsrucks.

    Und sie läuft für die Parteien. Sie haben sich schon in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts einer wenigstens ein bisschen anspruchsvolleren programmatischen Debatte entledigt.

  2. Kritische Medien wurden ihres Bisses beraubt. Beste Beispiele sind der Spiegel und der Stern und auch die meisten Magazine in den öffentlich-rechtlichen Sendern.

    In einer großen Gemengelage von Politik, Wirtschaft und Medien haben sich die sogenannten Atlantiker ausgebreitet. Sie bestimmen heute weitgehend die Meinungsbildung bei CDU/CSU, FDP, SPD und Grünen. Und bei den wichtigsten Medien: von den öffentlich-rechtlichen über die privaten Sender bis zu den großen regionalen Zeitungen und den Presseagenturen.

Die Ohnmacht der Bürgerinnen und Bürger

  1. Angesichts der gewaltigen Macht der bestimmenden Kräfte bleibt den meisten Bürgerinnen und Bürgern eigentlich gar nichts anderes übrig, als sich ohnmächtig zu fühlen. Die Zerstörung der sozialen Sicherheit war ein wichtiger Katalysator des Rechtsrucks, genauso wie auch der Aufbau des Niedriglohnsektors, Leiharbeit, prekäre Arbeitsverhältnisse.

    Die Konsequenz aus der Ohnmacht: Verschwinden des politischen Interesses, Entpolitisierung, Wahlenthaltung. Sie brechen aus, wenn es eine Alternative gibt und manche sehen in der AfD eine Alternative. Deshalb ist die Wahlbeteiligung bei den letzten Wahlen gestiegen. Das ist sozusagen ein Notschrei.

    Das Kernproblem: die linken haben in den letzten Jahrzehnten keine Alternative mehr geboten. Im Gegenteil, bei ihrem ständigen irren Versuch, Mehrheiten dadurch zu gewinnen, dass sie in die Mitte rückten (was das auch immer für Blödsinn bedeutet), sind sie immer weiter nach rechts gerückt.

  2. CDU/CSU, SPD und Grüne haben den Boden für die AfD bereitet.

    Der Name der AfD ist übrigens sehr geschickt gewählt. In der Tat geht es nämlich darum, dass wir eine Alternative zur herrschenden Ideologie und zur herrschenden praktischen Politik gebrauchen. Aber wir brauchen nicht die AfD.

Wir brauchen eine wirkliche fortschrittliche Alternative.

Deren Inhalt und Profil ist leicht zu formulieren: Sozialstaatlichkeit, aktive Beschäftigungspolitik, eine Wirtschafts-, Währungs- und Finanzpolitik, die die Länder Europas wieder zusammenführt Friedenspolitik und keine militärischen Interventionen, gemeinsame Sicherheit in Europa, auch mit Russland. Kampf gegen die Ursachen der Flüchtlingsbewegung: die Kriege und die Zerstörung der Länder im Nahen und mittleren Osten. Verabschiedung der USA aus Europa und Stärkung der UNO.