Heiliger Martin von Tours
Ein Heiliger der spontanen Güte
Hl. Martin von Tours (11. November)
[Gottes Wort im Kirchenjahr: 2003]
Ein Heiliger der spontanen Güte
Es gibt im Leben Situationen, die sehr kurz sind und trotzdem sehr viel über die betreffenden Menschen sagen. Es sind sozusagen kondensierte Situationen, in denen die Charakterzüge eines Menschen mit außergewöhnlicher Deutlichkeit aufscheinen. Manchmal ist es nur ein Augenblick, der die Eigenschaften und Ansichten des Menschen erkennbar offenbart. Ein solcher Augenblick kann viel mehr über den Menschen sagen als Tage und Wochen, die »normal«, routinemäßig vergehen und in denen nichts Besonderes geschieht.
In diesen kondensierten Situationen wird der Mensch meistens mit Problemen und Herausforderungen konfrontiert, auf die er reagieren kann/muss. Nicht nur die Art und Weise, sondern häufig auch das Tempo der Reaktion sowie der Grad der Entschlossenheit sind die ausschlaggebenden Faktoren, die die starke Aussagekraft der kondensierten Situationen ausmachen. Neben dem Inhalt der vollzogenen Reaktion ist wichtig, mit welcher Entschiedenheit, aus welchen Motiven und aus welcher Überzeugung sie zustande kam. Im übrigen kann das Ausbleiben einer Reaktion ebenfalls vielsagend sein.
Eine kondensierte Situation am Stadttor von Amiens
Vom Leben des hl. Martin von Tours wissen wir relativ viel, obwohl er vor über 1600 Jahren lebte. Wir wissen, dass er in Sabaria, im heutigen Ungarn, geboren wurde und dass er mit fünfzehn Jahren nach Gallien kam. Zunächst war Martin Reitersoldat im römischen Heer. Aus der Zeit seines Soldatenlebens wird überliefert, dass er einmal einem frierenden Bettler vor dem Stadttor von Amiens die Hälfte seines Soldatenmantels geschenkt hat. Nachdem Martin mit achtzehn Jahren getauft worden war, schied er aus dem Militärdienst aus und wurde Schüler des hl. Kirchenlehrers und Bischofs von Poitiers Hilarius. Wie sein Meister kümmerte sich Martin um die Verkündigung des wahren Glaubens und bekämpfte die Irrlehren des Arius. Mehrere Jahre lebte er als Einsiedler in Gebet und Fasten, in Demut und Armut.
Zusammen mit seinen Gefährten gründete Martin u.a. das älteste Kloster in Gallien (Ligugé b. Poitiers) und legte damit den Keim des abendländischen Mönchtums. Darüber hinaus wissen wir, dass er im Jahre 371 gegen seinen Willen und zur großen Freude der Gläubigen Bischof von Tours wurde. Auch als Amtsträger blieb Martin den im monastischen Leben angestrebten Idealen treu und versuchte diese in der Ausübung des Hirtendienstes zu verwirklichen. Demut, Bescheidenheit und Geduld zeichneten den tieffrommen Oberhirten aus, der auch immer Zeit hatte, um sich ins Gebet zu versenken.
Doch am häufigsten wird aus Martins Leben die Geschichte über die Mantelteilung vor dem Stadttor von Amiens erzählt. Vielleicht deshalb, weil sie uns das meiste über die Persönlichkeit des Heiligen sagt. Das so häufig und so gerne über Jahrhunderte hindurch in der Kunst und Literatur dargestellte Mantel-Ereignis charakterisiert wohl am zutreffendsten den hl. Martin, auch wenn uns die genauen Einzelheiten jener Begegnung Martins mit dem armen, frierenden Menschen nicht bekannt sind. Man kann vermuten, dass diese Begegnung sehr kurz war. Wahrscheinlich dauerte diese Episode nicht einmal fünf Minuten, trotzdem geriet sie nicht in Vergessenheit, und ihre Bedeutung ist nicht zu überschätzen.
In jenem kurzen Augenblick geschah etwas, was uns enorm viel über das Denken, die Haltung, die Werteskala, das Temperament und die Eigenschaften Martins sagt. Martin zögerte nicht, als er die Not des anderen Menschen sah. In kürzester Zeit entschied er sich, dem Notleidenden zu helfen. Eigentlich gab er ihm alles, was er zu verschenken hatte, denn nach dem römischen Recht konnte der Soldat nur über die Hälfte seines Mantels frei verfügen (die andere Hälfte war Staatseigentum). Die Begegnung Martins mit dem Armen von Amiens, an die immer wieder erinnert wird, zeigt, dass der künftige Heilige ein äußerst sensibler Mensch war, der an der Not Bedürftiger nicht gleichgültig vorbeigehen konnte.
Seine Sensibilität für die anderen war so natürlich, so spontan, dass sie sofort in einer konkreten Tat ihren Ausdruck finden musste. Martin war ein Mensch mit einem großen Herzen. Man kann ihn als einen Heiligen der spontanen Güte bezeichnen.
Mit dem Mantel der Güte andere Menschen bedecken
Um Martins gute Tat richtig einzuschätzen, müssen wir nicht nur schauen, wie er gehandelt, sondern was er verschenkt hat. Wir müssen uns zuerst der Bedeutung des Mantels zu Martins Lebzeiten bewusst werden.
Damals spielte der Mantel eine vielfältige Rolle im Leben des Menschen, er war etwas mehr als nur ein Kleidungsstück. Der Mantel diente nicht nur als Schutz vor Kälte, er stellte auch Unterlage zum Schlafen dar, wurde als Zelt, zum Schutz vor Regen benutzt oder auch als eine Art Rucksack, in dem man seine Sachen unterwegs transportieren konnte. Das symbolträchtige Motiv des Mantels taucht mehrmals in biblischer und christlicher Tradition auf. In der Bibel weiß man um die große Bedeutung des Mantels für den Menschen.
In dem im Buch Exodus niedergeschriebenen Verbot der Unterdrückung und Ausbeutung der Mitmenschen heißt es: »Nimmst du von einem Mitbürger den Mantel zum Pfand, dann sollst du ihn bis Sonnenuntergang zurückgeben; denn es ist seine einzige Decke, der Mantel, mit dem er seinen bloßen Leib bedeckt. Worin soll er sonst schlafen?« (Ex 22,25f). Dass der Mantel für den Menschen der Bibel etwas besonders Kostbares war, ist darüber hinaus dem Aufruf Jesu zur Liebe zu den Feinden (vgl. Lk 6,29) und dessen Worten zu den Jüngern vor dem Gebet am Ölberg (vgl. Lk 22,36) zu entnehmen.
In der christlichen Kunst und Frömmigkeit ist der Mantel dagegen ein häufiges Attribut der Gottesmutter, welches ihren gütigen Beistand ausdrückt. Auf zahlreichen alten Gemälden und in vielen Gedichten wird die Muttergottes im blauen Sternenmantel dargestellt, der ihren mütterlichen Schutz symbolisiert. »Maria, breit den Mantel aus, mach Schirm und Schild für uns daraus«, wird im bekannten Marienlied in unseren Kirchen gesungen (GL 595). Unter dem »weiten und breiten« Mantel der »Patronin voller Güte« fühlt man sich wohl und geborgen, weil er »aller Zuflucht und Gezelt« ist. Dies gilt auch für den Mantel, dessen Hälfte Martin dem frierenden Bettler spontan schenkte. Martins Mantel gewährte dem Bedürftigen Trost, Schutz und Wärme. Er ist ein sehr plastischer Ausdruck der Güte.
Es ist weiter nicht uninteressant zu erwähnen, dass sich Martins gütiger Mantel, der so viel Ähnlichkeiten mit dem Mantel Marias hat, nicht nur in der christlichen Kunst, sondern auch in mehreren Sprachen nachhaltig verewigte. Auf den Mantel des hl. Martin, der heute in der Saint Chapelle in Paris aufbewahrt wird, ist nämlich die Etymologie der Wörter »Kapelle« und »Kaplan« zurückzuführen. Das Wort »Kapelle« (»Capella«) hatte im merowingischen Frankenreich ursprünglich nur den Aufbewahrungsort des Mantels von St. Martin bezeichnet und ging von da auf alle kleineren Gotteshäuser über. Das lateinische Wort »capella« leitet sich vom Wort »cappa« ab, das wiederum »Mantel mit Kapuze« hieß. Den Geistlichen, der an einer »cappella« den seelsorgerischen Dienst tat, nannte man »capellanus«, »Kaplan«.
Das faszinierende Mantel-Ereignis aus dem Leben des hl. Martin hat in gewissem Sinne einen überzeitlichen, universalen Charakter. Es kann in jeder Zeit und an jedem Ort auf der Welt als Vorbild dienen; denn immer und überall gab es und gibt es Menschen, die auf die Güte der anderen Menschen warten. Nie und nirgends fehlt es an Menschen, die sich nach Güte sehnen. Sie sind auch in unserer nächsten Umgebung zu finden. Immer wieder können wir ihnen begegnen und etwas von uns schenken, sie mit dem Teil unseres »Mantels« bedecken.
Es kann vorkommen, dass der Herrgott sie ganz plötzlich, völlig überraschend - wie den Armen vor den Soldaten Martin am Stadttor von Amiens - auf unseren Lebensweg stellt und dass er uns dabei nicht allzu viel Zeit zum Nachdenken und zum Agieren gibt. Verpassen wir dann diese Chance zur Güte gegen unseren Nächsten nicht, und bewähren wir uns in einer solchen (vielleicht kondensierten?) Situation als Menschen der Güte!
Marcin Worbs
Posted via email from Daten zum Denken, Nachdenken und Mitdenken
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