Montag, 8. November 2010

Der #große #Raubzug - #Stuttgart21 #oder: #Bahn-Privatisierung #als #Immobiliengeschäft [Junge Welt]


Der große Raubzug

Hintergrund. »Stuttgart 21« oder: Bahn-Privatisierung als Immobiliengeschäft (Teil 2 und Schluß)

Von Winfried Wolf
(Junge Welt)

Der am Wochenende erschienene erste Teil untersuchte die städtebauliche und verkehrstechnische Bedeutung von Kopfbahnhöfen im Goldenen Zeitalter der Eisenbahn.
Die Nazis machten dagegen die »gleisfreie Innenstadt« zu ihrem Leitbild, ein Ziel, das unter dem Druck der Autolobby auch in der BRD mit Konsequenz verfolgt wurde.

In der Öffentlichkeit wird »Stuttgart 21« in erster Linie als ein verkehrspolitisches und als ein Stuttgarter Projekt vorgestellt. Tatsächlich ist das Vorhaben primär ein großangelegtes Immobiliengeschäft.

Es geht auch nicht allein um Stuttgart, sondern um die gesamtdeutsche Vermarktung von Bahngelände und von Bahnhöfen zum Zwecke der Bodenspekulation, was keusch als »Stadtentwicklung« und im Neusprech als »developping« umschrieben wird. »Stuttgart 21« ist auch in dieser Hinsicht ein Exempel.

Anfang 1994 gab Bahn-Chef Heinz Dürr bekannt, daß der Stuttgarter Hauptbahnhof in den Untergrund und die Gleisanlagen im Zentrum »in Tunnellage verlegt« werden sollen. Bereits der Zeitpunkt der ersten Präsentation von »Stuttgart 21« verweist auf den Zusammenhang mit der Bahn-Privatisierung. Ende 1993 wurde von Bundestag und Bundesrat eine sogenannte Bahn-Reform beschlossen.

Im Januar 1994 erfolgte die Zusammenlegung von Bundesbahn und Reichsbahn und die Bildung der Deutschen Bahn AG. Eisenbahnen, die seit einem Dreivierteljahrhundert direkt staatlich kontrolliert worden waren, wurden zu einer Aktiengesellschaft nach kapitalistischen Kriterien umstrukturiert. Allerdings blieb der Bund zunächst und – als Folge von Widerstand und Finanzkrise – bis heute 100prozentiger Eigentümer.

Im Rahmen der erforderlichen Grundgesetzänderungen wurde in die Verfassung auch ein neuer Artikel 87e eingeführt, der die Eisenbahnen – bei der Infrastruktur und hinsichtlich der Angebote auf dem Schienennetz – auf widersprüchliche Weise an ein »Gemeinwohl« bindet. Im großen und ganzen sollte jedoch der neu gebildete Konzern Deutsche Bahn AG weitgehend wie ein normales Unternehmen agieren und die Politik sich möglichst nicht mehr in das operative Geschäft einmischen.

Das Thema Bahn-Privatisierung spielte 1994 in der Öffentlichkeit keine größere Rolle. Ein Grund dafür dürfte die Bundestagswahl im September 1994 gewesen sein: Man hatte die Bahn-Reform bereits Ende 1993 im Bundestag und im Bundesrat, getragen von einer Mehrheit von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen, realisiert (die Abgeordneten der PDS hatten dagegen gestimmt). Im Wahljahr 1994 sollten das heikle Thema Bahn-Privatisierung und vor allem deren praktische Folgen ausgeklammert bleiben.

Nur in Leipzig wurde Klartext gesprochen. Dort beabsichtigte man bei der Neugestaltung des Hauptbahnhofs zwar dessen Funktion als Kopfbahnhof beizubehalten. Beschlossen wurde jedoch ein radikaler Umbau, wobei, so das damalige Vorstandsmitglied der Bundesbahn, Hemjö Klein, der »Bahnhof zu einer Erlebniswelt mit Gleisanschluß« werden sollte. 1993, ein Jahr vor der Bahnreform, erklärte Hemjö Klein: »Die Bahn zieht sich aus den Bahnhöfen zurück. Leipzig werden wir zum Modell machen.« Fahrkartenschalter und Reisezentrum müßten »die Eisenbahner nach der Privatisierung anmieten«.1

Vor allem wurde damals bereits beschlossen: Der Hauptbahnhof Leipzig wird verkauft. Betreiberin der umgebauten Station wurde die ECE Gesellschaft für Beteiligungen; Eigentümer der Immobilie ist ein geschlossener Fonds der Deutschen Bank. ECE ist eine Tochter des Otto-Versandhauskonzerns und europaweit eine der größten Immobilien-Entwicklungsgesellschaften.

Sie spielt heute bei »Stuttgart 21« eine wichtige Rolle. Das ECE-Management und ihr Eigentümer, die Milliardärsfamilie Otto (mit den Patriarchen Werner und Alexander Otto), wollen, wenn die Gleisanlagen in den Untergrund verlegt sind, auf dem »S21«-Gelände ein 43000 Quadratmeter großes Einkaufszentrum errichten.2

Nach der Bundestagswahl ging es Schlag auf Schlag. Im Januar 1995 wurde die Machbarkeitsstudie für »Stuttgart 21« vorgestellt. Am 30. November 1995 stimmte der Stuttgarter Gemeinderat dem Rahmenvertrag von Bund, Land und Deutsche Bahn AG zu »Stuttgart 21« zu. Mitte 1996 wurde durch die DB eine ganze Palette der »21er«-Projekte vorgestellt – so »Frankfurt 21«, »München 21«, »Ulm/Neu-Ulm 21«, »Mannheim 21« und »Lindau 21«. Diese Präsentationen erfolgten fast immer in Form einer großen Koalition, die zumindest CDU (in München CSU), FDP und SPD, gelegentlich auch Teile der Grünen, umfaßte.3

Eine »Jahrhundertchance«

In Sonderbeilagen großer Tageszeitungen wurden die »21er«-Projekte vorgestellt. Von »Kathedralen des Fortschritts« und »Erlebnisräumen mit Gleisanschluß« war in einer Beilage in den Stuttgarter Nachrichten die Rede.4

Die Projekte hatten in der Regel zwei Gemeinsamkeiten: Erstens verfolgten sie das Konzept einer autogerechten Stadt, womit sie – wie bereits im Teil 1 dokumentiert – oft auf Pläne der Nazis zurückgriffen. Zweitens ging es immer um den Neubau von Stadtteilen und um Grundstücksverwertung. In der bereits zitierten Beilage zu den Stuttgarter Nachrichten hieß es: »Alle diese 21er-Bahnhöfe haben eines gemeinsam: Sie liegen in bester Lage, also auf Grundstücken, die gewinnbringend vermarktet werden können. (…) Die Bahn-Manager wittern das große Geschäft: Weg mit den Gleisanlagen, Lager- und Lokschuppen aus der teuren Innenstadtlage, und schon ist Geld da für den neuen Glaspalast.«5

Große Architekturbüros wurden eingeladen, umfassende Planungen für neue Viertel, ja für neue Städte zu erstellen. Und ähnlich, wie diese Büros ihre »Visionen« für neue chinesische Städte entwickelten, schwärmten sie von den Möglichkeiten, die sich nun in Deutschland in den Stadtzentren böten.

Im Reich der Mitte, so wurde dabei oft betont, sei es weit besser möglich, solche Visionen auch schnell in die Praxis umzusetzen. In Deutschland allerdings sahen einige dieser »großen Architekten« immer ein erhebliches Problem darin, daß sich die Bevölkerung uneinsichtig zeige. Der Architekt Meinhard von Gerkan, der später den neuen Hauptbahnhof in Berlin planen sollte, äußerte zu »München 21«: »Die (…) wesentlichere Komponente des Konzeptes: Mit der Tieferlegung der Gleise werden 150 Hektar im Zentrum der Stadt zu einem disponiblen Entwicklungsraum. Das ist eine einmalige Jahrhundertchance…« Auf den Einwand: »Die Stadt glaubt, auch ohne einen neu gebauten unterirdischen Bahnhof die Gleisflächen verwerten zu können«, antwortete von Gerkan: »Natürlich ist Flickwerk immer möglich.

Aber hier hat man die Chance, 150 Hektar im Herzen der Stadt neu zu ordnen mit einem übergreifenden Gesamtkonzept. Wer diese Chance nicht versteht, den begreife ich nicht. (…) Im Gegensatz zur Neuordnung von Paris im vergangenen Jahrhundert (im 19. Jahrhundert; W.W.), wo man ganze Stadtviertel abgebrochen hat, müßte man hier ja eigentlich nur ein paar Gleise wegnehmen.« Schließlich fragt der Interviewer direkt: »Die 21er Projekte offenbaren also noch mehr als andere die grundsätzliche Problematik des Bauens in der Demokratie?« Darauf von Gerkan: »Ja, daher kommt der Konflikt. Große Entscheidungen und radikale Einschnitte sind fast nie mehrheitsfähig.«6

Zur Verwirklichung der »21er«-Projekte bedurfte es einer Regelung, wonach das Bahngelände, das nicht (mehr) bahnbetriebsnotwendig ist, im Eigentum der DB AG verbleibt. Der Gesetzgeber sah exakt das Gegenteil vor. Bei der Bahnreform 1994 wurde das Bundeseisenbahn-Vermögen (BEV) als eine dem Finanzminister unterstellte Vermögensgesellschaft in Bundeseigentum gegründet.

Das BEV übernahm alle Altschulden von Bundesbahn und Reichsbahn. Dem BEV sollten in einem ersten Schritt alle Bahnimmobilien – das Netz, die Bahnhöfe, die nicht bahnnotwendigen Gelände – übertragen werden. Danach sollte das BEV aus diesem Immobilienfonds der neugegründeten DB AG das »bahnnotwendige« Gelände übertragen. Als Gegengewicht zum Schuldenberg sollte das BEV also alle »nicht bahnnotwendigen Gelände« behalten und verwerten können, um aus den Erlösen von Vermietung und Verpachtung, respektive aus dem Verkauf solcher Immobilien, den Zins- und Tilgungsdienst der Altschulden zu finanzieren. So wurde es auch im Eisenbahnneuordnungs-Gesetz (ENeuOG) beschlossen.7

Milliarden für die DB AG

Die Umsetzung dieser gesetzlich vorgeschriebenen Regelung kam nicht zustande. Vielmehr gab es zwischen 1994 und 1996 einen hin und her wogenden Streit, wem welches Bahngelände gehören würde. Die neugegründete DB AG als die gewissermaßen leistungsstärkere Einheit verfügte de facto von Anfang an über alles Bahngelände, das Ende 1993 noch Bundesbahn und Reichsbahn gehört hatte.

Ende 1996 einigten sich Bundesregierung und Bahn AG unter Bezugnahme auf einen völlig unscheinbaren Passus im genannten Gesetz8 auf einen politisch motivierten Großdeal: Die DB AG behielt alles Gelände, überreichte aber dem Bund ein Immobilienpaket, das angeblich dem Wert der nicht bahnbetriebsnotwendigen Areale entspräche. Hermann Abmayr bilanzierte das damals wie folgt: »Sieger im Bahnmonopoly ist Heinz Dürr.

Bis auf Grundstücke und Immobilien im Verkehrswert von 13,6 Milliarden Mark ist jetzt alles Eigentum der Bahn AG. Auch viele nicht bahnnotwendige Liegenschaften, wie das milliardenschwere Areal um den Stuttgarter Hauptbahnhof, das seit Jahren kaum mehr von der Bahn genutzt wird, kann Dürr behalten. Der Bundesrechnungshof hatte sich schon mehrfach mit dem Milliardenpoker befaßt. (…) Sein Hauptvorwurf: Das ›gesetzliche Kriterium der Bahnnotwendigkeit‹ sei ›weitgehend in den Hintergrund getreten‹.«9

Nach Gesetzeslage wäre im Fall Stuttgart die Antwort auf die folgende Frage entscheidend gewesen: Waren die Flächen, die inzwischen zur Finanzierung von »S21« eingesetzt wurden, zum Zeitpunkt der Gründung der DB AG »bahnnotwendig«? Kenner der Situation vor Ort sagen: Die Bahn nutzte diese Flächen seit langem nicht mehr – sie waren damit nicht bahnnotwendig.

Angesichts dessen hätte jedoch deren Verkauf nicht durch die DB AG erfolgen können, das Gelände wäre BEV-Vermögen bzw. direktes Bundesvermögen gewesen. Bei dem zitierten Großdeal Bahn–Bund war dann allerdings das erwähnte Stuttgarter Bahngelände nicht Teil des dem Bund pauschal zugeschlagenen Immobilienpakets. Damit konnte es zur Finanzierung des »S21«-Projekts eingesetzt werden. Ein beim Thema Bahnimmobilien ziemlich präzise formuliertes Gesetz trat auch hier »in den Hintergrund«.

Die Deutsche Bahn AG verkaufte in der Folge nicht bahnnotwendige Immobilien direkt; sie verbuchte in der Folgezeit Erlöse in Höhe mehrerer Milliarden Euro als Sondergewinne. 2002 faßte die DB AG einen großen Teil der verbliebenen nicht bahnnotwendigen Areale in einem Immobilienpaket mit 30,4 Millionen Quadratmetern (!) zusammen und gründete die Aurelis Real Estate als Tochter der DB AG.10 Im Dezember 2007 verkaufte die DB AG Aurelis an ein Konsortium, das aus dem Hedgefonds Redwood Grove und der Hochtief Projektentwicklungs GmbH, einer Tochter der Baukonzerns Hochtief, bestand. Auf diese Weise konnte im direkten Vorfeld der damals für Mitte 2008 geplanten Bahn-Privatisierung die Bilanz der DB AG nochmals durch große Sondergewinne aufgebessert werden.

Spekulation und Bereicherung

Der Umgang der DB AG mit den Bahn-Immobilien erwies sich in der Folgezeit als vielschichtig. Grundsätzlich läßt sich feststellen, daß diese Immobilien im Sinne eines Selbstbedienungsladens für private Bereicherung aller Art eingesetzt werden. Teilweise erfolgte das, wie im Fall des Aurelis-Verkaufs, zum Zwecke der Bilanzverbesserung der DB AG. Das trifft auch auf »Stuttgart 21« zu, wo die Bahn das für »S 21« entscheidende Gelände an die Stadt Stuttgart bereits im Dezember 2001 für 459 Millionen Euro verkaufen konnte, den dann verzinsten Gewinn mit 650 Millionen Euro in der 2009er Bilanz aktivierte – und damit den Absturz der DB-AG-Bilanz in der Krise kaschierte.

Oft handelte es sich jedoch auch um Grundstücksdeals, die in erster Linie im Interesse der privaten Aufkäufer lagen. Besonders kraß war dies der Fall beim Verkauf der bahneigenen Signalanlagen (Basa) an Mannesmann Arcor, was wiederum wesentlich zu der bisher größten Unternehmensübernahme in Deutschland – derjenigen von Mannesmann durch Vodafone – beitrug.11 Es gab Ende der 1990er Jahre den Verkauf von 200000 Eisenbahnerwohnungen – zunächst von der CDU-geführten letzten Kohl-Regierung eingefädelt, am Ende von der ersten SPD-Grünen-Regierung vollendet.

Eine Reihe der erwähnten »21er«-Projekte scheiterte – so diejenigen in Frankfurt am Main und in München. Allerdings heißt das nur, daß diese Vorhaben in ihrer gigantomanischen Form nicht realisiert wurden. Dennoch gab es in diesen Städten in den letzten Jahren große Deals mit ehemaligem Bahngelände, die dem Bereich der Bodenspekulation und der privaten Bereicherung zugeordnet werden müssen.12 Einige der »alten« »21er«-Projekte werden weiter betrieben – so jenes in Lindau. Und natürlich vor allem das größte von allen, das in Stuttgart.

Eisenbahnverhinderungsstruktur

Der im Oktober 2010 verstorbene Privatisierungsgegner und Träger des alternativen Nobelpreises, Hermann Scheer, unterstrich immer wieder: »Privatisierung kommt von privare, was lateinisch berauben heißt.« Der grundlegende Charakter der Beraubung der Bevölkerung in Gestalt der Bahnprivatisierung im allgemeinen und dem Verkauf von Bahngelände im besonderen wird dann deutlich, wenn man einen Blick auf die Eisenbahngeschichte wirft. Bau und Betrieb von Eisenbahnen waren von Anfang an mit Grundstücksspekulation verbunden.

Die Eisenbahnen wurden im 19. Jahrhundert überwiegend von privaten Gesellschaften gebaut. Das Land für die Strecken und Bahnhöfe erhielten diese Gesellschaften oft von den Kommunen, Städten und Ländern geschenkt oder zu extrem niedrigen Preisen.

Dies wurde der Öffentlichkeit damit erklärt, daß auf diese Weise eine Region oder Stadt für den Verkehr der Zukunft erschlossen werden würde. In vielen Fällen wurde den entsprechenden Bahngesellschaften auch vertraglich die Auflage gemacht, auf dem entsprechenden Gelände zukünftig Schienenverkehr zu betreiben oder einen Bahnhof zu unterhalten. Die meisten dieser privaten Bahnen wurden im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts, andere noch später, in öffentliches Eigentum überführt. In der Regel wurden dabei die privaten Eigentümer nochmals fürstlich entschädigt.

Nun erleben wir seit Ende des 20. Jahrhunderts weltweit einen Prozeß der Reprivatisierung. Immer steht dabei die Immobilienspekulation im Zentrum. In Großbritannien kassierten die privaten Eigentümer des Unternehmens Railtrack, das im Rahmen der Bahn-Privatisierung die Trassen und Bahnhöfe übernommen hatte, in einem Zeitraum von nur fünf Jahren Extraprofite in Höhe von zehn Milliarden britischen Pfund – um dann Pleite anzumelden und eine völlig heruntergewirtschaftete Infrastruktur wieder dem Staat zu übergeben.11

Mit den Bahn-Privatisierungen wird die Öffentlichkeit ein drittes Mal in großem Umfang zur Kasse gebeten. Den ersten Transfer öffentlicher Gelder gab es in der Eisenbahngründerzeit. Den zweiten mit der Eisenbahnverstaatlichung. Danach akkumulierten die meist staatlichen Eisenbahnen in der Regel deutlich mehr als ein Jahrhundert lang Vermögen – vielfach Immobilienvermögen.

Dieses wurde durch die Fahrgäste, durch die Arbeit der Bahnbeschäftigten und durch Steuermittel für die öffentlichen Bahnen finanziert. Vor allem handelte es sich immer um zweckgebundenes Gelände – all diese Gelder wurden damit gerechtfertigt, daß es sich um Gelände handelte, das dem spezifischen Zweck von Eisenbahnverkehr und damit öffentlichem Interesse dient.

Nun also auf ein Neues. Bahngelände aus öffentlichem Eigentum wird privatisiert. Gelände, das dem Eisenbahnverkehr vorbehalten war, wird zweckentfremdet. Und – so im Fall »Stuttgart 21« – aus einer Eisenbahninfrastruktur, die gut funktionierte und die ausbaufähig war, wird eine Eisenbahnverhinderungsstruktur.

Vorbild USA

Das große Vorbild bei der Bahnentwicklung sind die USA. Das gilt für die Frühgeschichte der Eisenbahnen – nirgendwo sonst auf der Welt waren die Immobiliendeals im Eisenbahnbau größer als in den Vereinigten Staaten. Das gilt für den Niedergang der dortigen Eisenbahnen, der von den US-Autokonzernen GM, Ford und Chrysler und dem Reifenkonzern Firestone systematisch und organisiert betrieben wurde.12 Und das gilt nicht zuletzt für die Verlegung verbliebener Eisenbahnen und von innerstädtischen Bahnhöfen in den Untergrund, wie das Beispiel New York lehrt.

Das Magazin Focus veröffentlichte 1993 – also vor Gründung der DB AG – einen umfassenden Artikel über »Das Mega-Milliarden-Ding«, womit der Abbau von Gleisanlagen bzw. das Verlegen von Schienenverkehr in den Untergrund gemeint war. In dem Artikel wurde ein Blick auf die Entwicklung in den USA und in New York geworfen. Neben zwei Bildern der City von New York – einem Foto, das ein breit gefächertes Gleisnetz und ein stattliches Bahnhofsgebäude von Anfang des 20. Jahrhunderts zeigt, und einem zweiten, aufgenommen an derselben Stelle in den 1990er Jahren, auf dem nur noch Hochhäuser und Straßenzüge zu sehen sind – heißt es: »Wolkenkratzer über dem Bahndamm: Weil der Nutzwert breiter Schienenstränge in keinem Verhältnis mehr zu den Bodenpreisen in der City stand, überbauten die New Yorker kurzerhand diese häßliche Gleisschneise samt einigen Bahnhöfen mit Hochhäusern und Straßen.«13

Im Artikel wird nicht erwähnt, daß der Schienenpersonenverkehr in den USA im Zeitraum 1920 bis 1970 auf weniger als ein Hundertstel reduziert wurde. Die Reduktion von Schienenverkehr ist bei einem Projekt wie »Stuttgart 21« ein durchaus einkalkulierter »positiver« Nebeneffekt. Entscheidend ist allerdings das, was im Bereich der Immobilienverwertung verdient werden kann.

Im Focus-Artikel wurde dies für Deutschland wie folgt konkretisiert: »Heinz Dürr, Führer der zukünftigen Deutschen Bahn AG (…), gibt sich entschlossen, mit Bahnhöfen und Brachland gutes Geld zu verdienen (…). Für das Geschäft mit Immobilien wird im Vorstand der neuen DB AG eigens ein neues Ressort geschaffen. (…) Erste Pionierprojekte, bei denen private Investoren beim Bahnhofsausbau zum Zug kommen, laufen in Köln und Leipzig.« Die Bilanz von Focus: »Das 41000 Kilometer lange Schienennetz ist als Immobilie pures Gold. Die Gleisschneisen durch die Städte könnten raffiniert umbaut werden.«

1 Spiegel 9/1993

2 Arno Luik, »Monopoly 21«, in: Stern 42/2010

3 Fritz Kuhn, der damalige Fraktionschef der Grünen-Landtagsfraktion in Baden-Württemberg, präsentierte im Januar 1995 eine abgespeckte Variante von »Stuttgart 21«, wonach vier anstelle der bislang geplanten acht Gleise in den Untergrund verlegt und ein größerer Teil der oberirdischen Gleisanlagen erhalten bleiben sollten. In Frankfurt plädierte der prominente Grüne Tom Koenigs bereits sehr früh für eine komplette Verlagerung des Hauptbahnhofs in den Untergrund und dessen Neugestaltung als Durchgangsbahnhof. Siehe Tom Koenigs, »Der Rettungstunnel«, in: Pflasterstrand 295 vom 18. August 1988

4 Gerd Fach, »Kathedralen des Fortschritts«, in: Stuttgarter Nachrichten vom 3. November 1997

5 Stuttgarter Nachrichten vom 3. November 1997

6 Interview mit Meinhard von Gerkan in: Süddeutsche Zeitung vom 11. April 1997

7 siehe Artikel 1, § 1, des ENeuOG vom 27. Dezember 1993. Eisenbahngesetze, Hestra-Verlag, 10. Auflage 1994, S.80 und 93

8 § 23, (6) des EneuOG lautet: »Vergleiche sind zulässig; wird ein Vergleich geschlossen, ergeht ein dem Vergleich entsprechender Bescheid.«

9 Hermann Abmayr, »Bahnchef wird Immobilienhai«, in: dietageszeitung vom 24. Oktober 1996

10 Im März 2003 stieg die WestLB bei Aurelis ein und übernahm 51 Prozent der Anteile. Im April 2006 stieg die WestLB wieder aus. Aurelis war wieder eine 100prozentige Tochter der DB AG. In der Zeit mit der WestLB an Bord wurden rund 150000 Quadratmeter des Immobilienbesitzes verkauft

11 Jonathan Prynn, »Britain´s 10 bn Sterling Pound rail rip-off«, in: Evening Standard vom 19. 8. 1998. Im deutschen Handelsblatt hieß es : »Britische Bahnprivatisierung stellt sich als Goldgrube heraus«. (3. 2. 1979)

12 Siehe Winfried Wolf, Verkehr. Umwelt. Klima – Die Globalisierung des Tempowahns, Wien 2009, S.126ff.

13 Ulrich Viehöver, »Bundesbahn – Das Mega-Milliarden-Ding«, in Focus: 43/1993

Teil I erschien in der Wochenendausgabe

Mitte November erscheint: »Stuttgart 21« – Oder: Wem gehört die Stadt?Herausgegeben von Volker Lösch, Gangolf Stocker, Sabine Leidig und Winfried Wolf, PapyRossa Verlag, Köln 2010, 200 S., brosch., 10 Euro (dann auch im jW-Shop erhältlich)

Die Milliardendeals der DB AG – zwei Beispiele


Im Jahre 1997 brachte die DB AG ihre Fernmeldeanlagen (früher als Basa, den Bahnamtlichen Sprechanlagen, zusammengefaßt) in ein gemeinsam mit Mannesmann gebildetes Tochterunternehmen mit Namen Arcor ein. Arcor verfügte damit auf einen Schlag über Fernmeldeanlagen entlang des rund 40000 Kilometer langen Schienennetzes. Damals war Heinz Dürr zufällig Bahnchef und Aufsichtsrat bei Mannesmann. Die DB AG erhielt für den Verkauf der ersten 49,8 Prozent ihrer Anteile rund eine Milliarde Mark. Von nun an mußte die DB AG für die Nutzung »ihrer« ehemaligen Fernmeldeanlagen an Arcor jährlich zwischen 800 Millionen und 1,2 Milliarden DM zahlen. Bis zum Jahr 2000 reduzierte die DB AG ihren Anteil an Arcor immer weiter – bis auf 18 Prozent. Als 1999 Vodafone Mannesmann übernahm, befand sich Arcor zu gut 80 Prozent in britischem Besitz. Nun beschloß die DB AG 2001, den Teil der Fernmeldeanlagen von Vodafone zurückzukaufen, der für die Steuerung des Zugverkehrs erforderlich ist. 2002 wurde das Geschäft teilrückabgewickelt – für 2,5 Milliarden Mark. Vorsichtig geschätzt, verbuchte die »modern« und »wirtschaftlich geführte« DB AG mit diesen Deals mehr als 1,5 Milliarden Euro an Verlusten. Angaben nach den Geschäftsberichten der DB AG 1997 – 2002; Süddeutsche Zeitung und Financial Times Deutschland vom 18.7.2001

Aurelis veräußerte in Frankfurt/Main 2004 und 2010 große ehemalige Bahnimmobilien, so 2004 100000 Quadratmeter Fläche im Frankfurter Europaviertel (an die Frankfurter Messe) und 2010 das Objekt »Le Quartier« in Düsseldorf. In der bayerischen Metropole kam es auch ohne »München 21« zu dem »größten Immobiliendeal« der Stadt: 1997 wurde ein »nicht bahnnotwendiges« Areal auf der Achse Hauptbahnhof-Laim mit 160 Hektar Fläche durch die DB AG verwertet – mit dem Bau einer neuen S-Bahn-Station, mehreren tausend Wohnungen und einer Shopping Mall. Die Süddeutsche Zeitung: »Welches Ausmaß dieser Poker hat, das wird schon an wenigen Zahlen deutlich: 800 Millionen Mark sind die Bahnflächen nach städtischen Angaben jetzt (1997; W.W.), also im Rohzustand, wert. Mit Baurecht steigt der Wert auf über zwei Milliarden.« (23. 1 1997). 2009 ist es dann das Unternehmen Aurelis, das als Eigentümerin des Areals auftritt und damit der Baukonzern Hochtief. Aurelis gehört zu 100 Prozent Hochtief. Hochtief könnte sich bald im Besitz des spanischen Baukonzerns ACS befinden. (Angaben nach: Pressemitteilung der DB AG)


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